Die große Comic-Autobiographie des Kult-Comic-Zeichners (»Strizz«). Sommer 1948: Eine Flüchtlingsfamilie versucht ihren Platz im Nachkriegsleben zu finden. Der vierjährige Volker blickt mit Staunen auf die neue Welt, auf seine vier Geschwister und die Eltern, die nicht schuldlos aus dem Krieg gekommen sind. Der Familienvater hatte sich dem Nationalsozialismus als »Dichter des Führers« angedient, die Mutter war Gauleiterin im »Bund deutscher Mädchen«. Doch für Volker ist all das unverständlich, es wird Teil des großen Abenteuers Kindheit. Und des großen Abenteuers Kunst, denn 65 Jahre später ist aus dem Knaben der berühmte Comiczeichner Volker Reiche geworden. Volker Reiche hat mit »Strizz« von 2002 bis 2010 für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« den erfolgreichsten deutschen Zeitungscomic gezeichnet. Dafür hat Reiche wichtige Auszeichnungen erhalten: den Max-und-Moritz-Preis der Stadt Erlangen, den Olaf-Gulbransson-Preis und den Swift-Preis der Stiftung Marktwirtschaft. Außerdem wurde er 2006 als »Bester deutscher Comiczeichner« ausgezeichnet.In seinem autobiographischen Großwerk »Kiesgrubennacht« legt Volker Reiche auf noch nie im Comic gesehene Weise Rechenschaft ab über das, was ihn zum Künstler werden ließ. Und über das Leben als Kind in der Nachkriegszeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2013Erwachsene Kindersicht, unversöhnt wahr
Der Comiczeichner und -autor Volker Reiche hat mit dem Band "Kiesgrubennacht" ein spätes, ungewöhnliches, sehr gutes Stück Nachkriegsliteratur geschaffen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Literatur in Deutschland erst wieder lernen, was sie zwölf Jahre lang vor lauter Blut, Boden und anderen verordneten Bindungen nicht wissen durfte: das Flattern im Wind der Gegenwart, ungedecktes Erzählen, schutzlose Gestaltung auch unheroischer Handlungs- und Bewusstseinsabläufe. Dass nicht nur das literarische, sondern das moderne Leben insgesamt eben nicht gebunden ans Vorhandene, Angeborene (wie Heimat, Volks- und Sprachgemeinschaft) als gleichmäßiger Ereignisfluss vor sich hin strömt, sondern ein von bösen und guten Erfahrungen durchkreuztes Zurechtkommen mit dauernder Überforderung ist, durfte wieder gestaltet werden, aus Sicht von Opfern und Tätern, umgesiedelten Flüchtlingen und untergetauchten Verbrechern, kleinen Rädchen, Großmäulern, in Krieg oder Alltag, Arbeit oder Zerstreuung, immer weniger mittelbar, immer häufiger überformt und durchdrungen von dem, was dann bald "Massenmedien" hieß.
Als er abbilden wollte, wie diese Nachkriegszeit sich sah, erfand Arno Schmidt im Rahmen von mehr oder minder geglückten Versuchsreihen der literarischen Aufbereitung des Erlebens und Erinnerns auch etwas, das er "Fotoalbum" nannte: kleine, helle Tableaus von Sinneseindrücken als Pforten zu Reflexionen, die das Leuchten jener Impressionen prismatisch zerlegen sollten. Weil es ums Verhältnis von Bildhaftem zu Sprachlichem geht, hätte er statt "Fotoalbum" auch "Comic" sagen können.
"Graphic Novel" nennt Volker Reiche seinen persönlich wie ästhetisch beeindruckenden Band "Kiesgrubennacht", in dem eine Nachkriegskindheit und deren späte Folgen im Bild erzählt und gedeutet werden. "Graphic Novel": Das passt nicht immer, wo es steht. Denn in der comiclesenden Welt hat sich vielfach noch nicht herumgesprochen, was die Romantheorie schon länger weiß und Reiche hier maßstabsetzend demonstriert: Ob etwas ein Roman ist, bemisst sich nicht nach Lesedauer oder Seitenzahl, sondern danach, ob so etwas wie die offene Totalität einer Welthaltung erreicht wird - kleine Formen, vom Dialog-Pingpong bis zur bildkräftigen Vignette, sind dazu nicht verpflichtet, der Roman muss das wollen, und Reiche kann es.
"Uralte dunkle Punkte", nennt der Kater Herr Paul mit sarkastischem Unterton die autobiographischen Kristallisationskerne des mutigen Buches, in dem Episoden aus dem Schicksal der aus dem Osten in die Vor- und dann junge Bundesrepublik umgesiedelte Familie des Zeichners sich mit Einblicken in den Schaffensprozess abwechseln, den ein Avatar Reiches mit erfundenen anthropomorphen Tiergestalten aus früheren Werken diskutiert.
Das schmerzhaft Stoffliche - wie es gewesen ist mit dem Nazivater und der Mutter, die schließlich im Alkohol davontreibt - interessiert ihn dabei weder mehr noch weniger als die komplizierte Beschaffenheit seines heutigen Zugriffs darauf: Wie hat er das alles als Kind denn erlebt, und erlaubt ihm seine heutige Kunst, diesen Erlebnisweisen näherzukommen, als Prosa das könnte? Die Linienführung wie die Blicklenkung sind klar, aber nicht im alten Illustratorensinn "fein", denn das würde ein Hochauflösungsvermögen der Erinnerung suggerieren, dem Reiche redlich misstraut. Die zusammen mit Irma Arndt-Reiche erarbeitete Kolorierung entspricht dem Niveau, auf dem inzwischen etwa das bessere episodische Fernsehen verschiedene Zeit- und Erzähltempoperspektiven in Farbfiltern verdeutlicht: Nacht, Winter, Bilder hinter Bildern, alles stimmt und spricht.
Die Figuren in den Erinnerungen haben Knopfaugen wie etwa in den "Peanuts" - man weiß aus der Comic-Rezeptionspychologie ja, dass damit Identifikation erleichtert wird, außerdem aber ist es in "Kiesgrubennacht" ein Hinweis auf die Typenreduktion beim Versuch, sich etwas Vergangenes, Unüberprüfbares begreiflich zu machen. Der Reiche-Avatar in der Gegenwart aber hat richtige Augäpfel; denn es ist sein Blick, der hier zurückschaut - vor allem auf den Vater, der, einer Brille wegen, manchmal gar keine Augen hat, ein kluges inverses Kürzel seiner Undurchschaubarkeit. Ein autoritärer Feigling, eingeschweißt in seine Rüstung aus stehenden Wendungen ("Fini" sagt er, wenn er eine Debatte beenden will), fixer Frisur, Amtsberuf und häuslicher Grausamkeit - er schlägt die Mutter, sie blutet, und wir sehen das so nebenher, am Rand der Bilder, wie es das Kind gesehen hat, das damals noch zu klein war, sich darüber angemessen zu entsetzen - wenn Wunden berührt werden, die erst mit Verzögerung weh tun, widersteht Reiche mit Bedacht allem Plakativen.
Der Vater hat Nazigedichte geschrieben - eins davon illustriert Reiche so, dass dabei einer der größten, im strengsten Sinn literarischen Vorzüge von "Kiesgrubennacht" emblematisch wird: die Historisierung von Gefühlen mittels geschichtsbewusster Verfügung über ästhetische Verfahren, solche Gefühle herzustellen. Denn der Bildstil, in dem Reiche das Nazigedicht in Tafeln zerlegt, greift einerseits auf den Expressionismus zurück, die schroffste deutsche (vielleicht, durchaus problematisch, emphatisch "deutscheste") Kunst vor dem Hitlerkitsch, und andererseits aufs amerikanische Pop-und-Comic-Idiom, das den Hitlerkitsch in Deutschland als visuelle ideologische Vormacht ablöste.
Was das für ein neues Westdeutschland war, erfahren wir gleichsam unter der Hand: Die zerknirschte und suspekte Frömmigkeit der Davongekommenen, die Enge der Familie unterm Großüberbau der Adenauer-Zeit wird gespiegelt im kleinen Entsetzen, an dem Reiche auch das nicht ausspart, was ihm unangenehm sein wird: die Bestechlichkeit durch die bizarren Zuneigungssignale des Vaters etwa, die dann bei einer späten Wiederbegegnung in den frühen siebziger Jahren als Lähmung wiederkehrt, diesem Vater die Stirn zu bieten.
Hier schreibt und zeichnet jemand, der seine Erfahrungen nicht los wird und es versteht, sie uns als fortlebendes Problem anzuvertrauen. Erinnern als Kunst ist, wenn wir unser Herkommen mit anderen Augen prüfen.
DIETMAR DATH
Volker Reiche: "Kiesgrubennacht". Graphic Novel.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 231 S., br., 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Comiczeichner und -autor Volker Reiche hat mit dem Band "Kiesgrubennacht" ein spätes, ungewöhnliches, sehr gutes Stück Nachkriegsliteratur geschaffen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Literatur in Deutschland erst wieder lernen, was sie zwölf Jahre lang vor lauter Blut, Boden und anderen verordneten Bindungen nicht wissen durfte: das Flattern im Wind der Gegenwart, ungedecktes Erzählen, schutzlose Gestaltung auch unheroischer Handlungs- und Bewusstseinsabläufe. Dass nicht nur das literarische, sondern das moderne Leben insgesamt eben nicht gebunden ans Vorhandene, Angeborene (wie Heimat, Volks- und Sprachgemeinschaft) als gleichmäßiger Ereignisfluss vor sich hin strömt, sondern ein von bösen und guten Erfahrungen durchkreuztes Zurechtkommen mit dauernder Überforderung ist, durfte wieder gestaltet werden, aus Sicht von Opfern und Tätern, umgesiedelten Flüchtlingen und untergetauchten Verbrechern, kleinen Rädchen, Großmäulern, in Krieg oder Alltag, Arbeit oder Zerstreuung, immer weniger mittelbar, immer häufiger überformt und durchdrungen von dem, was dann bald "Massenmedien" hieß.
Als er abbilden wollte, wie diese Nachkriegszeit sich sah, erfand Arno Schmidt im Rahmen von mehr oder minder geglückten Versuchsreihen der literarischen Aufbereitung des Erlebens und Erinnerns auch etwas, das er "Fotoalbum" nannte: kleine, helle Tableaus von Sinneseindrücken als Pforten zu Reflexionen, die das Leuchten jener Impressionen prismatisch zerlegen sollten. Weil es ums Verhältnis von Bildhaftem zu Sprachlichem geht, hätte er statt "Fotoalbum" auch "Comic" sagen können.
"Graphic Novel" nennt Volker Reiche seinen persönlich wie ästhetisch beeindruckenden Band "Kiesgrubennacht", in dem eine Nachkriegskindheit und deren späte Folgen im Bild erzählt und gedeutet werden. "Graphic Novel": Das passt nicht immer, wo es steht. Denn in der comiclesenden Welt hat sich vielfach noch nicht herumgesprochen, was die Romantheorie schon länger weiß und Reiche hier maßstabsetzend demonstriert: Ob etwas ein Roman ist, bemisst sich nicht nach Lesedauer oder Seitenzahl, sondern danach, ob so etwas wie die offene Totalität einer Welthaltung erreicht wird - kleine Formen, vom Dialog-Pingpong bis zur bildkräftigen Vignette, sind dazu nicht verpflichtet, der Roman muss das wollen, und Reiche kann es.
"Uralte dunkle Punkte", nennt der Kater Herr Paul mit sarkastischem Unterton die autobiographischen Kristallisationskerne des mutigen Buches, in dem Episoden aus dem Schicksal der aus dem Osten in die Vor- und dann junge Bundesrepublik umgesiedelte Familie des Zeichners sich mit Einblicken in den Schaffensprozess abwechseln, den ein Avatar Reiches mit erfundenen anthropomorphen Tiergestalten aus früheren Werken diskutiert.
Das schmerzhaft Stoffliche - wie es gewesen ist mit dem Nazivater und der Mutter, die schließlich im Alkohol davontreibt - interessiert ihn dabei weder mehr noch weniger als die komplizierte Beschaffenheit seines heutigen Zugriffs darauf: Wie hat er das alles als Kind denn erlebt, und erlaubt ihm seine heutige Kunst, diesen Erlebnisweisen näherzukommen, als Prosa das könnte? Die Linienführung wie die Blicklenkung sind klar, aber nicht im alten Illustratorensinn "fein", denn das würde ein Hochauflösungsvermögen der Erinnerung suggerieren, dem Reiche redlich misstraut. Die zusammen mit Irma Arndt-Reiche erarbeitete Kolorierung entspricht dem Niveau, auf dem inzwischen etwa das bessere episodische Fernsehen verschiedene Zeit- und Erzähltempoperspektiven in Farbfiltern verdeutlicht: Nacht, Winter, Bilder hinter Bildern, alles stimmt und spricht.
Die Figuren in den Erinnerungen haben Knopfaugen wie etwa in den "Peanuts" - man weiß aus der Comic-Rezeptionspychologie ja, dass damit Identifikation erleichtert wird, außerdem aber ist es in "Kiesgrubennacht" ein Hinweis auf die Typenreduktion beim Versuch, sich etwas Vergangenes, Unüberprüfbares begreiflich zu machen. Der Reiche-Avatar in der Gegenwart aber hat richtige Augäpfel; denn es ist sein Blick, der hier zurückschaut - vor allem auf den Vater, der, einer Brille wegen, manchmal gar keine Augen hat, ein kluges inverses Kürzel seiner Undurchschaubarkeit. Ein autoritärer Feigling, eingeschweißt in seine Rüstung aus stehenden Wendungen ("Fini" sagt er, wenn er eine Debatte beenden will), fixer Frisur, Amtsberuf und häuslicher Grausamkeit - er schlägt die Mutter, sie blutet, und wir sehen das so nebenher, am Rand der Bilder, wie es das Kind gesehen hat, das damals noch zu klein war, sich darüber angemessen zu entsetzen - wenn Wunden berührt werden, die erst mit Verzögerung weh tun, widersteht Reiche mit Bedacht allem Plakativen.
Der Vater hat Nazigedichte geschrieben - eins davon illustriert Reiche so, dass dabei einer der größten, im strengsten Sinn literarischen Vorzüge von "Kiesgrubennacht" emblematisch wird: die Historisierung von Gefühlen mittels geschichtsbewusster Verfügung über ästhetische Verfahren, solche Gefühle herzustellen. Denn der Bildstil, in dem Reiche das Nazigedicht in Tafeln zerlegt, greift einerseits auf den Expressionismus zurück, die schroffste deutsche (vielleicht, durchaus problematisch, emphatisch "deutscheste") Kunst vor dem Hitlerkitsch, und andererseits aufs amerikanische Pop-und-Comic-Idiom, das den Hitlerkitsch in Deutschland als visuelle ideologische Vormacht ablöste.
Was das für ein neues Westdeutschland war, erfahren wir gleichsam unter der Hand: Die zerknirschte und suspekte Frömmigkeit der Davongekommenen, die Enge der Familie unterm Großüberbau der Adenauer-Zeit wird gespiegelt im kleinen Entsetzen, an dem Reiche auch das nicht ausspart, was ihm unangenehm sein wird: die Bestechlichkeit durch die bizarren Zuneigungssignale des Vaters etwa, die dann bei einer späten Wiederbegegnung in den frühen siebziger Jahren als Lähmung wiederkehrt, diesem Vater die Stirn zu bieten.
Hier schreibt und zeichnet jemand, der seine Erfahrungen nicht los wird und es versteht, sie uns als fortlebendes Problem anzuvertrauen. Erinnern als Kunst ist, wenn wir unser Herkommen mit anderen Augen prüfen.
DIETMAR DATH
Volker Reiche: "Kiesgrubennacht". Graphic Novel.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 231 S., br., 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Konflikt der deutschen Nachkriegskinder mit ihrer Elterngeneration ist literarisch schon ziemlich erschöpfend verarbeitet worden, weiß Martina Knoben. Als Comiczeichner hat Volker Reiche allerdings ein Repertoire von Darstellungsweisen, die sich ausreichend von der rein textlichen Literatur abheben, um das Thema wieder interessant zu machen, und in seiner autobiografischen Graphic Novel "Kiesgrubennacht" tut er genau das, verrät die Rezensentin. Reiche nutzt zum Beispiel die räumlichen Dimensionen der Seite für Episoden, die sich an Ereignisse heranlagern und verwendet bestimmte prägnante Farben, um Assoziationsbänder zwischen Bildern zu knüpfen, fasst Knoben zusammen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein gelungenes, großes Buch.« Martina Knoben Süddeutsche Zeitung 20140116