"Machst du rote Ampel." "Danach ich ruf dich an." "Gibs auch 'ne Abkürzung." - Sätze wie diese sind nicht Horte von Sprachfehlern, sondern haben grammatische Eigenarten wie viele andere deutsche Dialekte auch. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt die renommierte Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese, dass Kiezdeutsch keine "Kanak Sprak" ist, kein Anzeichen mangelnder Integration und auch keine Gefahr für das Deutsche, sondern ein neuer, in dynamischer Entwicklung befindlicher Dialekt.
Entwicklungen wie in Kiezdeutsch finden sich deswegen nicht nur dort, sondern auch in anderen Bereichen unserer Umgangssprache. Heike Wiese hört genau hin und analysiert, vor allem den Sprachgebrauch von Berliner Jugendlichen. Ihre Forschungen zeigen, mit welcher grammatischen Logik und sprachlichen Kreativität in Kreuzberg und anderen Kiezen Deutsch gesprochen wird - allen sozialpolitischen Vor- und Fehlurteilen zum Trotz.
Entwicklungen wie in Kiezdeutsch finden sich deswegen nicht nur dort, sondern auch in anderen Bereichen unserer Umgangssprache. Heike Wiese hört genau hin und analysiert, vor allem den Sprachgebrauch von Berliner Jugendlichen. Ihre Forschungen zeigen, mit welcher grammatischen Logik und sprachlichen Kreativität in Kreuzberg und anderen Kiezen Deutsch gesprochen wird - allen sozialpolitischen Vor- und Fehlurteilen zum Trotz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2012Musstu mal Turbodialekt versuchen!
Standardgrammatik ist nicht der Königsweg: Die Sprachforscherin Heike Wiese bricht eine Lanze für verpönte Sprechweisen von Jugendlichen in multiethnischen Stadtkiezen.
Grammatik ist gewöhnlich nicht gerade ein Aufreger-Thema. Es sei denn, sie kommt kiezdeutsch daher: Eigentlich harmlose Wendungen wie "Isch geh Schule" oder "Machstu rote Ampel" lassen bei sprachempfindlichen Zeitgenossen immer noch den Blutdruck steigen. Die Sprechweise der Jugendlichen in den multiethnischen Wohngebieten deutscher Großstädte gilt vielen als Trümmerdeutsch von Integrationsverweigerern und Menetekel einer niedergehenden Sprachkultur, während zugleich TV-Comedies das Kiezdeutsch gern für ihre Türkenproll-Karikaturen ausbeuten. Mediale Verzerrungen, bürgerliche Vorurteile, aber auch die provokanten Selbststilisierungen vieler Jugendlicher als harte Getto-Machos bestimmen das negative Image dieser Sprache in der Öffentlichkeit.
Was jenseits solcher Klischees Kiezdeutsch wirklich ist, wer es spricht und wie es funktioniert, erforscht seit vielen Jahren Heike Wiese, Germanistikprofessorin an der Universität Potsdam. Die Sprachwissenschaftlerin und ihr Team haben vor allem in Berlin-Kreuzberg viele Alltagsgespräche von Jugendlichen aufgezeichnet und den Wortschatz, die Phonetik und Grammatik ihres fast fünfzig Stunden umfassenden Materials akribisch analysiert. Die Ergebnisse stellt Heike Wiese jetzt in einem Buch vor, das auch ohne linguistische Vorkenntnisse gut lesbar ist. Der Titel dürfte für Erstaunen sorgen: Kiezdeutsch firmiert da als "Dialekt", wird also in dieselbe Liga wie Alemannisch oder Bairisch plaziert, obwohl es an keine bestimmte geographische Region gebunden ist und zudem - bis jetzt zumindest - nur von Jugendlichen gesprochen wird. Während die klassischen Dialekte, sprachhistorisch gesehen, die Wurzeln des heutigen überregionalen Deutschs bilden, ist Kiezdeutsch dessen jüngster Abkömmling.
Wiese beruft sich für ihren weit gefassten Dialektbegriff auf entsprechende Definitionen der Soziolinguistik. Doch die bodenständige Vertrautheit, die in dem Wort mitschwingt, dürfte ein willkommener Nebeneffekt gewesen sein. Denn der Autorin geht es nicht nur um sachliche Information und Aufklärung. Sie wirbt auch um Sympathie für den Gegenstand ihrer Forschung. Kiezdeutsch, so ihre Kernbotschaft, ist keine Mischsprache und auch kein gebrochenes Kauderwelsch, geradebrecht von denen, die es nicht besser können, sondern eine legitime und völlig intakte Variante des Deutschen, gesprochen von Jugendlichen, die ohne weiteres ins Standarddeutsche wechseln können, wenn es die Situation erfordert.
Das oft bespöttelte "Krass-Sprechen" erscheint so als eine kreative Koproduktion von Menschen, deren Kommunikation dank ihres mehrsprachigen Milieus besonders flexibel und dynamisch ist, wobei nicht nur Kinder von Migranten, sondern auch deutschstämmige Jugendliche zur kiezdeutschen Sprachgemeinschaft gehören. Während Deutsch die Basis dieses Soziolekts bildet, sind im Hintergrund vor allem Türkisch, Arabisch, Kurdisch und Persisch im Spiel. Der direkte Einfluss dieser Sprachen ist aber begrenzt: Er beschränkt sich im Wesentlichen auf einige lautlich eingedeutschte Wörter wie "lan" (Mann) oder "wallah" (echt!), die dazu dienen, Signale im Dialog zu setzen. Hinzu kommen vereinzelte Besonderheiten in der Aussprache.
Am bekanntesten ist das zum "Isch" vernuschelte "Ich" geworden, das sich aber auch in Dialekten wie dem Rheinischen findet. Eine wichtigere Rolle schreibt Wiese den grammatischen Vereinfachungen zu, die schon die ersten Generationen der Einwanderer vornahmen, als sie die deutsche Fremdsprache erlernten. Aus "mit meinem Vater" oder "Hast du ein Auto?" wurde "mit mein Vater" und "Hast du Auto?" Zwar sind die heutigen Kiezdeutsch-Sprecher in Deutschland geboren, aber diese Verkürzungen haben sie übernommen. Allerdings handelt es sich hierbei um Tendenzen, die auch im Standarddeutschen wirksam sind, wo sich der grammatische Schleifstein ebenfalls schon seit langem dreht: Traf man früher "im Wald den Bären", trifft man heute (mit Pech) "im Wald den Bär".
Überhaupt ist Kiezdeutsch ein Medium, das wie in einem Treibhaus Trends beschleunigt, die im Deutschen ohnehin angelegt sind, wobei manchmal auch Möglichkeiten des Sprachsystems reaktiviert werden, die lange verschüttet waren. Die Passagen, in denen die Autorin beschreibt, wie Kiezdeutsch als "Turbodialekt" im Zeitraffer neue grammatische Strukturen hervorbringt, die sich oft bei genauerem Hinsehen als altehrwürdig herausstellen, finden hoffentlich auch im Bastian-Sick-Fanclub ihre Leser. Dort würde man vielleicht lernen, dass Grammatik auch dann interessant sein kann, wenn sie nicht dazu benutzt wird, vermeintliche Fehler anderer aufzuspießen.
Ob es um "lassma" und "musstu" als neue Aufforderungswörter geht, um "so" als Mittel der Fokussierung ("Zuhause red ich mehr so deutsch so") oder um "gibs" als Existenzanzeiger ("Guck mal, was hier alles gibs") - Wiese zeigt das System und die innere Logik, die hinter all den schräg anmutenden Formen stecken. Zu viel des Guten tut die Autorin allerdings, wenn sie Kiezdeutsch geradezu zum Entwicklungsmodell für das Standarddeutsche erklärt. So wenn sie Wortstellungen wie "Danach Aminas Freunde sind gekommen" oder "Guckst du 'n bisschen traurig", die auch im Deutsch des Mittelalters üblich waren, in die moderne Standardsprache übernehmen möchte, um auf diese Weise die syntaktische Flexibilität von ehedem wiederherzustellen.
Das ist zwar eine hübsche Pointe, die aber verschweigt, dass die Verfestigung der Wortstellung durchaus ihren guten Sinn hatte, denn sie dient unter anderem der grammatischen Differenzierung von Haupt- und Nebensätzen, Aussage-, Frage- und Aufforderungsätzen. Ein anderes Beispiel für die Avantgarde-Rolle des Kiezdeutschen sieht Heike Wiese in der grammatischen Verkürzung der Ortsangaben ("Wir gehen Görlitzer Park"). Den gleichen Verzicht auf Präpositionen und Artikel gibt es auch im normalen Umgangsdeutsch, allerdings nur, wenn es um den öffentlichen Nahverkehr geht: "Du musst Hauptbahnhof umsteigen." Diese Beschränkung findet Wiese "exzentrisch" und schlägt die Ausweitung der Spargrammatik auf alle Ortsangaben auch in der Standardsprache vor. Doch auf die Möglichkeit, zu unterscheiden, ob man in den oder zum Görlitzer Park geht, wird man auch in Zukunft kaum verzichten wollen. Das "U-Bahn-Deutsch", das seinen Ursprung in der abkürzenden Fahrplansprache hat, wird wohl in seiner engbegrenzten Domäne verbleiben. Dort hat es auch seinen guten Sinn, weil es zwischen den Stationen und den gleichnamigen Straßen und Plätzen unterscheidet: "Feldstraße loszufahren" ist nicht dasselbe wie "in der Feldstraße" loszufahren.
Das Engagement, mit dem Wiese für ihren Forschungsgegenstand ficht, verleiht ihrer Argumentation Schwung - manchmal allerdings so viel, dass sie über das Ziel hinausschießt. Das gilt auch für den Versuch, durch die Abwertung des Standarddeutschen das Kiezdeutsche aufzuwerten. Die standardisierte Hoch- und Schriftsprache erscheint in ihrer Darstellung als ein bloßer Prestige-Dialekt, eingesetzt von der "Mittel- und Oberschicht", um sich von den unteren Klassen abzuheben. Das ist eine kräftige Verzeichnung der historischen wie der gegenwärtigen Realität: Das heutige Standarddeutsch ist - anders als zum Beispiel Latein oder Französisch - nicht aus einer einzigen Prestige-Mundart hervorgegangen. Es entstand vielmehr - darin dem Kiezdeutschen gar nicht so unähnlich - ebenfalls als eine Koproduktion. Am lautlichen und grammatischen Gerüstbau waren vor allem sächsische, bairische und ostfränkische Kanzleisprachen beteiligt, während bei der korrekten Aussprache die Norddeutschen den Zungenschlag vorgaben.
Zugleich war die Herausbildung der deutschen Hochsprache ein durchaus emanzipatorisches Projekt. In diesem Medium wurden Wissenschaft, Kunst und Philosophie auch denen zugänglich, die kein Latein oder Französisch konnten - Sprachen, mit denen zuvor Adel und Gelehrte das Volk auf Distanz hielten. Wenn heute Bücher über komplexe Wissensgebiete - ob Teilchenphysik oder Kiezdeutsch - in einem hochdifferenzierten Deutsch geschrieben werden können, ist das dieser Entwicklung zu verdanken. Dass vor allem die bildungsorientierte Mittelschicht diese Sprache pflegt - und des Öfteren leider auch zum Fetisch erhebt -, macht sie deshalb noch nicht zur "Mittelschichtsprache".
Die bildungspolitische Schlüsselstellung des Standarddeutschen erkennt freilich auch die Autorin an, die mit Nachdruck für einen Deutschunterricht eintritt, der allen Kindern unabhängig vom Elternhaus gleiche sprachliche Startchancen verschafft. Heike Wieses Plädoyer, daneben auch die sprachlichen Varianten jenseits des hochdeutschen Standards als eine Bereicherung anzuerkennen, statt sie als Bedrohung abzuwehren, verdient gewiss Zustimmung. Die Leser bekommen in ihrem Buch spannende Einblicke in die Mechanismen sprachlicher Evolution und lernen viel über das Deutsche - auf dem Kiez und auch abseits davon.
WOLFGANG KRISCHKE
Heike Wiese: "Kiezdeutsch". Ein neuer Dialekt entsteht.
C.H. Beck Verlag, München, 2012. 280 S., br., 12,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Standardgrammatik ist nicht der Königsweg: Die Sprachforscherin Heike Wiese bricht eine Lanze für verpönte Sprechweisen von Jugendlichen in multiethnischen Stadtkiezen.
Grammatik ist gewöhnlich nicht gerade ein Aufreger-Thema. Es sei denn, sie kommt kiezdeutsch daher: Eigentlich harmlose Wendungen wie "Isch geh Schule" oder "Machstu rote Ampel" lassen bei sprachempfindlichen Zeitgenossen immer noch den Blutdruck steigen. Die Sprechweise der Jugendlichen in den multiethnischen Wohngebieten deutscher Großstädte gilt vielen als Trümmerdeutsch von Integrationsverweigerern und Menetekel einer niedergehenden Sprachkultur, während zugleich TV-Comedies das Kiezdeutsch gern für ihre Türkenproll-Karikaturen ausbeuten. Mediale Verzerrungen, bürgerliche Vorurteile, aber auch die provokanten Selbststilisierungen vieler Jugendlicher als harte Getto-Machos bestimmen das negative Image dieser Sprache in der Öffentlichkeit.
Was jenseits solcher Klischees Kiezdeutsch wirklich ist, wer es spricht und wie es funktioniert, erforscht seit vielen Jahren Heike Wiese, Germanistikprofessorin an der Universität Potsdam. Die Sprachwissenschaftlerin und ihr Team haben vor allem in Berlin-Kreuzberg viele Alltagsgespräche von Jugendlichen aufgezeichnet und den Wortschatz, die Phonetik und Grammatik ihres fast fünfzig Stunden umfassenden Materials akribisch analysiert. Die Ergebnisse stellt Heike Wiese jetzt in einem Buch vor, das auch ohne linguistische Vorkenntnisse gut lesbar ist. Der Titel dürfte für Erstaunen sorgen: Kiezdeutsch firmiert da als "Dialekt", wird also in dieselbe Liga wie Alemannisch oder Bairisch plaziert, obwohl es an keine bestimmte geographische Region gebunden ist und zudem - bis jetzt zumindest - nur von Jugendlichen gesprochen wird. Während die klassischen Dialekte, sprachhistorisch gesehen, die Wurzeln des heutigen überregionalen Deutschs bilden, ist Kiezdeutsch dessen jüngster Abkömmling.
Wiese beruft sich für ihren weit gefassten Dialektbegriff auf entsprechende Definitionen der Soziolinguistik. Doch die bodenständige Vertrautheit, die in dem Wort mitschwingt, dürfte ein willkommener Nebeneffekt gewesen sein. Denn der Autorin geht es nicht nur um sachliche Information und Aufklärung. Sie wirbt auch um Sympathie für den Gegenstand ihrer Forschung. Kiezdeutsch, so ihre Kernbotschaft, ist keine Mischsprache und auch kein gebrochenes Kauderwelsch, geradebrecht von denen, die es nicht besser können, sondern eine legitime und völlig intakte Variante des Deutschen, gesprochen von Jugendlichen, die ohne weiteres ins Standarddeutsche wechseln können, wenn es die Situation erfordert.
Das oft bespöttelte "Krass-Sprechen" erscheint so als eine kreative Koproduktion von Menschen, deren Kommunikation dank ihres mehrsprachigen Milieus besonders flexibel und dynamisch ist, wobei nicht nur Kinder von Migranten, sondern auch deutschstämmige Jugendliche zur kiezdeutschen Sprachgemeinschaft gehören. Während Deutsch die Basis dieses Soziolekts bildet, sind im Hintergrund vor allem Türkisch, Arabisch, Kurdisch und Persisch im Spiel. Der direkte Einfluss dieser Sprachen ist aber begrenzt: Er beschränkt sich im Wesentlichen auf einige lautlich eingedeutschte Wörter wie "lan" (Mann) oder "wallah" (echt!), die dazu dienen, Signale im Dialog zu setzen. Hinzu kommen vereinzelte Besonderheiten in der Aussprache.
Am bekanntesten ist das zum "Isch" vernuschelte "Ich" geworden, das sich aber auch in Dialekten wie dem Rheinischen findet. Eine wichtigere Rolle schreibt Wiese den grammatischen Vereinfachungen zu, die schon die ersten Generationen der Einwanderer vornahmen, als sie die deutsche Fremdsprache erlernten. Aus "mit meinem Vater" oder "Hast du ein Auto?" wurde "mit mein Vater" und "Hast du Auto?" Zwar sind die heutigen Kiezdeutsch-Sprecher in Deutschland geboren, aber diese Verkürzungen haben sie übernommen. Allerdings handelt es sich hierbei um Tendenzen, die auch im Standarddeutschen wirksam sind, wo sich der grammatische Schleifstein ebenfalls schon seit langem dreht: Traf man früher "im Wald den Bären", trifft man heute (mit Pech) "im Wald den Bär".
Überhaupt ist Kiezdeutsch ein Medium, das wie in einem Treibhaus Trends beschleunigt, die im Deutschen ohnehin angelegt sind, wobei manchmal auch Möglichkeiten des Sprachsystems reaktiviert werden, die lange verschüttet waren. Die Passagen, in denen die Autorin beschreibt, wie Kiezdeutsch als "Turbodialekt" im Zeitraffer neue grammatische Strukturen hervorbringt, die sich oft bei genauerem Hinsehen als altehrwürdig herausstellen, finden hoffentlich auch im Bastian-Sick-Fanclub ihre Leser. Dort würde man vielleicht lernen, dass Grammatik auch dann interessant sein kann, wenn sie nicht dazu benutzt wird, vermeintliche Fehler anderer aufzuspießen.
Ob es um "lassma" und "musstu" als neue Aufforderungswörter geht, um "so" als Mittel der Fokussierung ("Zuhause red ich mehr so deutsch so") oder um "gibs" als Existenzanzeiger ("Guck mal, was hier alles gibs") - Wiese zeigt das System und die innere Logik, die hinter all den schräg anmutenden Formen stecken. Zu viel des Guten tut die Autorin allerdings, wenn sie Kiezdeutsch geradezu zum Entwicklungsmodell für das Standarddeutsche erklärt. So wenn sie Wortstellungen wie "Danach Aminas Freunde sind gekommen" oder "Guckst du 'n bisschen traurig", die auch im Deutsch des Mittelalters üblich waren, in die moderne Standardsprache übernehmen möchte, um auf diese Weise die syntaktische Flexibilität von ehedem wiederherzustellen.
Das ist zwar eine hübsche Pointe, die aber verschweigt, dass die Verfestigung der Wortstellung durchaus ihren guten Sinn hatte, denn sie dient unter anderem der grammatischen Differenzierung von Haupt- und Nebensätzen, Aussage-, Frage- und Aufforderungsätzen. Ein anderes Beispiel für die Avantgarde-Rolle des Kiezdeutschen sieht Heike Wiese in der grammatischen Verkürzung der Ortsangaben ("Wir gehen Görlitzer Park"). Den gleichen Verzicht auf Präpositionen und Artikel gibt es auch im normalen Umgangsdeutsch, allerdings nur, wenn es um den öffentlichen Nahverkehr geht: "Du musst Hauptbahnhof umsteigen." Diese Beschränkung findet Wiese "exzentrisch" und schlägt die Ausweitung der Spargrammatik auf alle Ortsangaben auch in der Standardsprache vor. Doch auf die Möglichkeit, zu unterscheiden, ob man in den oder zum Görlitzer Park geht, wird man auch in Zukunft kaum verzichten wollen. Das "U-Bahn-Deutsch", das seinen Ursprung in der abkürzenden Fahrplansprache hat, wird wohl in seiner engbegrenzten Domäne verbleiben. Dort hat es auch seinen guten Sinn, weil es zwischen den Stationen und den gleichnamigen Straßen und Plätzen unterscheidet: "Feldstraße loszufahren" ist nicht dasselbe wie "in der Feldstraße" loszufahren.
Das Engagement, mit dem Wiese für ihren Forschungsgegenstand ficht, verleiht ihrer Argumentation Schwung - manchmal allerdings so viel, dass sie über das Ziel hinausschießt. Das gilt auch für den Versuch, durch die Abwertung des Standarddeutschen das Kiezdeutsche aufzuwerten. Die standardisierte Hoch- und Schriftsprache erscheint in ihrer Darstellung als ein bloßer Prestige-Dialekt, eingesetzt von der "Mittel- und Oberschicht", um sich von den unteren Klassen abzuheben. Das ist eine kräftige Verzeichnung der historischen wie der gegenwärtigen Realität: Das heutige Standarddeutsch ist - anders als zum Beispiel Latein oder Französisch - nicht aus einer einzigen Prestige-Mundart hervorgegangen. Es entstand vielmehr - darin dem Kiezdeutschen gar nicht so unähnlich - ebenfalls als eine Koproduktion. Am lautlichen und grammatischen Gerüstbau waren vor allem sächsische, bairische und ostfränkische Kanzleisprachen beteiligt, während bei der korrekten Aussprache die Norddeutschen den Zungenschlag vorgaben.
Zugleich war die Herausbildung der deutschen Hochsprache ein durchaus emanzipatorisches Projekt. In diesem Medium wurden Wissenschaft, Kunst und Philosophie auch denen zugänglich, die kein Latein oder Französisch konnten - Sprachen, mit denen zuvor Adel und Gelehrte das Volk auf Distanz hielten. Wenn heute Bücher über komplexe Wissensgebiete - ob Teilchenphysik oder Kiezdeutsch - in einem hochdifferenzierten Deutsch geschrieben werden können, ist das dieser Entwicklung zu verdanken. Dass vor allem die bildungsorientierte Mittelschicht diese Sprache pflegt - und des Öfteren leider auch zum Fetisch erhebt -, macht sie deshalb noch nicht zur "Mittelschichtsprache".
Die bildungspolitische Schlüsselstellung des Standarddeutschen erkennt freilich auch die Autorin an, die mit Nachdruck für einen Deutschunterricht eintritt, der allen Kindern unabhängig vom Elternhaus gleiche sprachliche Startchancen verschafft. Heike Wieses Plädoyer, daneben auch die sprachlichen Varianten jenseits des hochdeutschen Standards als eine Bereicherung anzuerkennen, statt sie als Bedrohung abzuwehren, verdient gewiss Zustimmung. Die Leser bekommen in ihrem Buch spannende Einblicke in die Mechanismen sprachlicher Evolution und lernen viel über das Deutsche - auf dem Kiez und auch abseits davon.
WOLFGANG KRISCHKE
Heike Wiese: "Kiezdeutsch". Ein neuer Dialekt entsteht.
C.H. Beck Verlag, München, 2012. 280 S., br., 12,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein auch für Laien gut verständliches Buch über das als zumeist als sprachliche Schrumpfform verschriene "Kiezdeutsch" hat die Linguistikprofessorin Heike Wiese geschrieben, erklärt Wolfgang Krischke. Die Autorin hat dafür viel Sprachmaterial hauptsächlich in Berlin Kreuzberg aufgenommen und untersucht und legt überzeugend dar, dass die durch multiethnische Einflüsse und grammatikalische Verkürzungen geprägte Jugendsprache einen veritablen Dialekt darstellt, so der Rezensent durchaus überzeugt. Die Autorin macht sich dafür stark, die emanzipatorischen und verbindenden Qualitäten des "Kiezdeutsch" anzuerkennen und seine Dynamik und Kreativität zu würdigen, so Krischke einverstanden. Wenn Wiese allerdings im selben Atemzug das Standarddeutsch als Sprache der Mittel- und Oberschicht beschreibt, die sich damit vom Pöbel abzusetzen versucht, und das "Kiezdeutsch" zum "Entwicklungsmodell" der sprachlichen Zukunft erklärt, geht das dem Rezensenten eindeutig zu weit. Hier sieht er sich aufgerufen daran zu erinnern, dass das Hochdeutsch einst "ebenfalls eine Koproduktion" und durchaus ein "emanzipatorisches Projekt" darstellte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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