Ein Klassiker der Exilliteratur in neuer Auflage
Viel ist nicht geblieben. Die zehnjährige Kully lebt ein Leben im Balancierschritt zwischen den Ländergrenzen. Der Schriftsteller-Vater ist notorisch abwesend und notorischer in Geldnot, die Mutter bemüht sich unglücklich darum, die Welt für Kully zusammenzuhalten. In diesem Exilroman von 1938 erzählt eine früh Erwachsene von einem Leben in Hotelzimmern, von offenen Rechnungen und spontanen Begegnungen mit Tiefe. In einem kindlichen Erzählton eröffnet Kully Einblicke in ihr rastloses Leben und damit auch in die Situationen der Emigrant:innen in Europa.
Ein kühner und lebendiger Blick auf die dreißiger Jahre.
___
»Ich bin so begeistert von der Sprache dieser Autorin, dass ich beim Lesen immer schwanke zwischen Faszination und Neid. Sie hat Menschen und Zeiten beschrieben, die zugleich weit weg sind und denen ich mich trotzdem eigentümlich nah fühle. Ja, so gut wie sie würde ich gern schreiben können.«Christian Baron
»Irmgard Keun war die erfolgreichste deutsche Autorin der dreißiger Jahre, und die Lektüre lohnt noch heute.« Thomas Karlauf, FAZ
»Mit Witz und Leichtigkeit schnattert Kully so weiter, nie langweilig, immer scharfblickend, durchsetzt von Seitenhieben gegen Hitlerdeutschland.« Alexander Kosenina, FAZ
Es »ist alles andere als abwegig, sich dieses kleinen Meisterwerks zu erinnern.« Ina Hartwig, Süddeutsche Zeitung
Viel ist nicht geblieben. Die zehnjährige Kully lebt ein Leben im Balancierschritt zwischen den Ländergrenzen. Der Schriftsteller-Vater ist notorisch abwesend und notorischer in Geldnot, die Mutter bemüht sich unglücklich darum, die Welt für Kully zusammenzuhalten. In diesem Exilroman von 1938 erzählt eine früh Erwachsene von einem Leben in Hotelzimmern, von offenen Rechnungen und spontanen Begegnungen mit Tiefe. In einem kindlichen Erzählton eröffnet Kully Einblicke in ihr rastloses Leben und damit auch in die Situationen der Emigrant:innen in Europa.
Ein kühner und lebendiger Blick auf die dreißiger Jahre.
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»Ich bin so begeistert von der Sprache dieser Autorin, dass ich beim Lesen immer schwanke zwischen Faszination und Neid. Sie hat Menschen und Zeiten beschrieben, die zugleich weit weg sind und denen ich mich trotzdem eigentümlich nah fühle. Ja, so gut wie sie würde ich gern schreiben können.«Christian Baron
»Irmgard Keun war die erfolgreichste deutsche Autorin der dreißiger Jahre, und die Lektüre lohnt noch heute.« Thomas Karlauf, FAZ
»Mit Witz und Leichtigkeit schnattert Kully so weiter, nie langweilig, immer scharfblickend, durchsetzt von Seitenhieben gegen Hitlerdeutschland.« Alexander Kosenina, FAZ
Es »ist alles andere als abwegig, sich dieses kleinen Meisterwerks zu erinnern.« Ina Hartwig, Süddeutsche Zeitung
buecher-magazin.deKully ist zehn Jahre alt. Sie weiß wenig über Barbarossa, aber sie kennt die Wechselkurse. Sie weiß, was ein Visum ist, wie man in Windeseile eine Fremdsprache lernt und überall Freunde gewinnt. Sie hat gelernt, mit einer Mahlzeit am Tag auszukommen und nicht zu frieren, obwohl ihr Wintermantel in Salzburg im Pfandhaus ist. Ihr Vater ist Schriftsteller und aus Deutschland geflohen. Seitdem treibt die Familie durch Europa, immer in Geldnot, immer das Ablaufdatum des aktuellen Visums im Nacken. Kully erzählt von ihrem Vater, seinem Leichtsinn, ihrer Mutter und deren Sehnsucht nach einem einfachen, sicheren Leben, und all den anderen Heimatlosen. Ihr Blick ist weit klarer als der der Erwachsenen, ihre Sprache assoziativ und schmuddelig und treffend, wie immer bei Irmgard Keun. Jodie Ahlborn gibt diesem hellsichtigen Kind eine süße, klare und so absolut passende Stimme, dass einem der Atem stockt. Keun kennt, von was sie schreibt. Nachdem die Nationalsozialisten ihre Romane "Gilgi" und "Das kunstseidene Mädchen" auf die Schwarze Liste gesetzt hatten, emigrierte sie zunächst nach Belgien, dann in die Niederlande. "Kind aller Länder" ist auch ein Porträt der deutschen Exilautorenszene.
© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Einen "tragikomischen Exilroman aus Kinderperspektive" hat Kritikerin Katharina Teutsch mit dieser Wiederauflage von Irmgard Keun vor sich: Kully, die zehnjährige Protagonistin, muss mit ihrer Mutter und dem zunehmend mittellos werdenden Schriftsteller-Vater aus Nazi-Deutschland fliehen, über Belgien, die Niederlande, Frankreich und Italien geht es letztlich nach New York. Dauernd ist die Suche des Vaters nach einem Geldgeber Thema, die Armut der Familie soll natürlich nicht bekannt werden - wenn die Hotelrechnungen nicht bezahlt werden können, werden Mutter und Tochter als Pfand dagelassen, mit einem "höheren Versatzwert" als Luxusgüter, erfährt Teutsch von der kecken Protagonistin. Sie macht die erschreckenden Bedingungen des Exils zum Schelmenspiel, auf das sich die Rezensentin gerne einlässt - das ist klug, heiter und regt zum Nachdenken an, schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2016Wie Kully
die Welt sah
Eine Wiederentdeckung: Irmgard Keuns
Exil-Roman „Kind aller Länder“ von 1938
VON INA HARTWIG
Kullys Vater ist ein unruhiges Tier. Ein Schriftsteller, der, berühmt, aber verarmt, durch Europa tigert, von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel. Denn dort, wo er herkommt, Hitlerdeutschland, sind seine Bücher nicht mehr willkommen, um es vorsichtig auszudrücken. Ob in Brüssel, Ostende, Amsterdam, Lemberg, Salzburg, Nizza oder Paris – überall häuft er Schulden an. Er besucht Verwandte und Freunde oder vermeintliche Freunde, um sich Geld zu borgen, was ihm dank seines charmanten Wesens tatsächlich immer wieder gelingt. Getrieben wird dieser Künstler des Hinhaltens aber nicht nur von seinen Gläubigern, es treibt ihn auch eine tiefe Liebe zum Alkohol um.
Die Geschichte der zehnjährigen Kully und ihrer Eltern erzählt die lange vergessene Schriftstellerin Irmgard Keun (1905 - 1982) in dem jetzt wieder aufgelegten Roman „Kind aller Länder“. Der Roman erschien zuerst 1938 im Amsterdamer Exilverlag Querido, und es ist alles andere als abwegig, sich dieses kleinen Meisterwerks zu erinnern. Zum einen wegen der Autorin, die seit ihrem Erstling „Gilgi, eine von uns“ (1931) und, vor allem, seit dem Bestseller „Das kunstseidene Mädchen“ (1932) zu den ganz großen literarischen Talenten ihrer Zeit zählte, bevor sie durch die Naziherrschaft in Not geriet und auch danach nie wieder richtig hochkam. Ihr Stil – lakonisch, naiv-schnippisch, am unteren Rand der Gesellschaft orientiert, voller Sinnenfreude – entfaltet eine Wirkung, der man sich kaum verschließen kann.
Der andere Grund, warum „Kind aller Länder“ geradezu danach ruft, erneut gelesen zu werden, liegt im aktuellen politischen Kontext begründet. Denn das Europa, das mit den Augen der kleinen Kully betrachtet wird, erweist sich als ein einziges Flüchtlingscamp. Die Hotels sind voller Exilanten, also Schutzsuchender, die sich mit Aufenthaltsgenehmigungen, Hunger im Bauch und offenen Rechnungen herumschlagen. In einem Brief an ihren nach Amerika ausgewanderten Freund Arnold Strauss schrieb Irmgard Keun in den Tagen, als der Roman entstand: „Emigrant sein bedeutet ungefähr dasselbe wie Taschendieb oder Einbrecher.“
Aber glücklicherweise ist der Roman nicht nur ein Lehrstück, das sich teilweise auf die Gegenwart anwenden lässt; er ist vor allem ein hinreißendes Stück Literatur. Irmgard Keun schlüpft in die Rolle eines Kindes. Rollenprosa war ihre Erzähltechnik, doch hatte sie zuvor meistens Großstadtgirls auf der Suche nach ein bisschen Glück zum Sprechen gebracht. Diesmal, ein kluger Kunstgriff, erzählt ein zehnjähriges Mädchen, und zwar im Präteritum. Die Erzählsituation bleibt rätselhaft: Wird im Abstand der Jahre erzählt? Und wenn ja, in welcher Lage wäre die Erzählerin in dem Moment, als sie auf die Vagabondage durch die (noch nicht besetzten) Länder Europas (und einen kurzen Ausflug mit dem Vater nach Amerika) zurückblickt? Man erfährt es nicht. Klar ist nur: Es soll unbedingt die Kinderperspektive zum Tragen kommen, wohl um die Emigration anders, vielleicht ethnologischer, darstellen zu können, als verzweifelte Erwachsene das täten.
Andererseits: Naiv ist diese Kully keineswegs! Aber unbefangen, gewitzt und einfallsreich. Das macht den Zauber des Romans aus. Hören wir ihr zu: „Eine Grenze ist auch keine Erde, denn sonst könnte man sich ja einfach mitten auf die Grenze setzen oder auf ihr herumlaufen, wenn man aus dem ersten Land ’rausmuss und in das andere nicht ’reindarf. Dann würde man eben mitten auf der Grenze bleiben, sich eine Hütte bauen und da leben und den Ländern links und rechts die Zunge rausstrecken. Aber eine Grenze besteht aus gar nichts, worauf man treten kann. Sie ist etwas, das sich mitten im Zug abspielt mithilfe von Männern, die Beamte sind.“
Kully, das gilt es zu betonen, ist ein geliebtes Kind. Ihr Vater, trotz seiner bisweilen berserkerhaften Art, genauso wie ihre Mutter, mit der sie in den Hotelzimmern „aller Länder“ in Symbiose lebt, würden ihre Tochter nie im Leben verlassen. Was nicht verhindert, dass sich Kully gelegentlich verlassen fühlt. Etwa, wenn sie in einem Café zurückgelassen wird, weil ihr Vater seiner speziellen Kulturtechnik des Geldleihens nachgeht. Dann sitzt Kully ziemlich trübselig wartend herum, bis einer sich erbarmt und ihr ein Stück Kuchen oder eine Limonade hinstellt.
Auch wenn sie sich alle Mühe der Welt geben: Die Sorgen der Eltern bleiben dem Mädchen nicht verborgen. Die Angst und Scham der Mutter spürt Kully hautnah. Wenn der Herr Schriftstellervater loszieht, um einen Vorschuss zu ergattern, bleiben Kully und ihre Mutter in den Hotelzimmern als lebendes Pfand zurück. Die Rechnungen türmen sich; die Mutter droht zwischenzeitlich, den Mut zu verlieren; Kully fehlen Kinder zum Spielen. Wenigstens nennt sie zwei Schildkröten ihr Eigen. Nachts hört sie sie an der Tapete rascheln – diese Embleme des Flaneurs aus der verlorenen Zeit der Großstadtmoderne.
Der Verlag suggeriert, in dem Paar, das hier geschildert wird, also in Kullys Papa und Mama, wären deutlich Joseph Roth und Irmgard Keun wiederzuerkennen. Das stimmt und stimmt doch nicht. Zwar lebte Irmgard Keun 1936/37 im Exil in Ostende mit Joseph Roth zusammen, auch reiste sie mit ihm an Orte, die mit denen des Romans weitgehend übereinstimmen. Aber erstens hatten sie kein Kind dabei, und zweitens ist Kullys Roman-Mutter keine Schriftstellerin; im Gegenteil: Sie opfert ihr Leben dem männlichen Genie. Im Übrigen schrieb Keun den Roman, nachdem sie sich von Roth getrennt hatte (er starb 1939 an seinem schweren Alkoholmissbrauch). So lässt sich wohl resümieren, dass Keuns Erfahrung mit Joseph Roth in den Roman eingeflossen, aber eine eigenständige Geschichte daraus geworden ist.
Nämlich die Geschichte einer Familie. Einer Künstlerfamilie in schwierigsten Zeiten. Ganz offensichtlich erschien es der Autorin angemessen, diese Zeiten durch die Brille kindlichen Esprits zu beschauen und damit die real existierende Brutalität jener Jahre abzufedern. Denn gewisse Dinge, die das Herz des Buchs ausmachen, können nur einem gewitzten Mädchen wie Kully passieren, und weil sie ihm passieren, erfahren wir, dass in der Not manche Menschen besonders nett sind. Zum Beispiel das Hotelpersonal, die Portiers, Zimmermädchen und Liftboys, die niemals ihren Zorn an Kully auslassen, obwohl jeder weiß, dass die Hotelrechnung wohl nie beglichen werden wird.
Eine besonders anrührende Szene spielt sich ab zwischen Kully und dem Amsterdamer Verleger Krabbe, der ihrem Vater schon einiges an Geld vorgestreckt hat und nun endlich das Romanmanuskript in der Hand halten will. Da Kully weiß, dass ihr Vater noch nichts geschrieben, der Vorschuss allerdings längst verbraucht ist, kommt ihr eine rettende Idee: Sie könne das Buch doch selbst schreiben! „Herr Krabbe“, fragt sie den um Fassung ringenden Mann, „hat denn noch nie ein Kind einen Roman geschrieben?“ Die Antwort ist leider wenig ermutigend. Nachts liegt Kully im Bett, grübelnd: „Warum kann denn ein Kind keine Romane schreiben? Wenn ein Engel hexen würde, und ich sofort zweihundert Seiten von einem Roman auf der Schreibmaschine hätte, wären wir ja gerettet.“ An der feinen Balance zwischen Trost und Katastrophe erweist sich die Kunst der Prosa Irmgard Keuns.
Irmgard Keun:
Kind aller Länder.
Roman. Verlag
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2016.
224 Seiten, 17,99 Euro.
E-Book 15,99 Euro.
Im Schatten junger Mädchenblüte: Palmen am Quai des États-Unis in Nizza, 1932.
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
die Welt sah
Eine Wiederentdeckung: Irmgard Keuns
Exil-Roman „Kind aller Länder“ von 1938
VON INA HARTWIG
Kullys Vater ist ein unruhiges Tier. Ein Schriftsteller, der, berühmt, aber verarmt, durch Europa tigert, von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel. Denn dort, wo er herkommt, Hitlerdeutschland, sind seine Bücher nicht mehr willkommen, um es vorsichtig auszudrücken. Ob in Brüssel, Ostende, Amsterdam, Lemberg, Salzburg, Nizza oder Paris – überall häuft er Schulden an. Er besucht Verwandte und Freunde oder vermeintliche Freunde, um sich Geld zu borgen, was ihm dank seines charmanten Wesens tatsächlich immer wieder gelingt. Getrieben wird dieser Künstler des Hinhaltens aber nicht nur von seinen Gläubigern, es treibt ihn auch eine tiefe Liebe zum Alkohol um.
Die Geschichte der zehnjährigen Kully und ihrer Eltern erzählt die lange vergessene Schriftstellerin Irmgard Keun (1905 - 1982) in dem jetzt wieder aufgelegten Roman „Kind aller Länder“. Der Roman erschien zuerst 1938 im Amsterdamer Exilverlag Querido, und es ist alles andere als abwegig, sich dieses kleinen Meisterwerks zu erinnern. Zum einen wegen der Autorin, die seit ihrem Erstling „Gilgi, eine von uns“ (1931) und, vor allem, seit dem Bestseller „Das kunstseidene Mädchen“ (1932) zu den ganz großen literarischen Talenten ihrer Zeit zählte, bevor sie durch die Naziherrschaft in Not geriet und auch danach nie wieder richtig hochkam. Ihr Stil – lakonisch, naiv-schnippisch, am unteren Rand der Gesellschaft orientiert, voller Sinnenfreude – entfaltet eine Wirkung, der man sich kaum verschließen kann.
Der andere Grund, warum „Kind aller Länder“ geradezu danach ruft, erneut gelesen zu werden, liegt im aktuellen politischen Kontext begründet. Denn das Europa, das mit den Augen der kleinen Kully betrachtet wird, erweist sich als ein einziges Flüchtlingscamp. Die Hotels sind voller Exilanten, also Schutzsuchender, die sich mit Aufenthaltsgenehmigungen, Hunger im Bauch und offenen Rechnungen herumschlagen. In einem Brief an ihren nach Amerika ausgewanderten Freund Arnold Strauss schrieb Irmgard Keun in den Tagen, als der Roman entstand: „Emigrant sein bedeutet ungefähr dasselbe wie Taschendieb oder Einbrecher.“
Aber glücklicherweise ist der Roman nicht nur ein Lehrstück, das sich teilweise auf die Gegenwart anwenden lässt; er ist vor allem ein hinreißendes Stück Literatur. Irmgard Keun schlüpft in die Rolle eines Kindes. Rollenprosa war ihre Erzähltechnik, doch hatte sie zuvor meistens Großstadtgirls auf der Suche nach ein bisschen Glück zum Sprechen gebracht. Diesmal, ein kluger Kunstgriff, erzählt ein zehnjähriges Mädchen, und zwar im Präteritum. Die Erzählsituation bleibt rätselhaft: Wird im Abstand der Jahre erzählt? Und wenn ja, in welcher Lage wäre die Erzählerin in dem Moment, als sie auf die Vagabondage durch die (noch nicht besetzten) Länder Europas (und einen kurzen Ausflug mit dem Vater nach Amerika) zurückblickt? Man erfährt es nicht. Klar ist nur: Es soll unbedingt die Kinderperspektive zum Tragen kommen, wohl um die Emigration anders, vielleicht ethnologischer, darstellen zu können, als verzweifelte Erwachsene das täten.
Andererseits: Naiv ist diese Kully keineswegs! Aber unbefangen, gewitzt und einfallsreich. Das macht den Zauber des Romans aus. Hören wir ihr zu: „Eine Grenze ist auch keine Erde, denn sonst könnte man sich ja einfach mitten auf die Grenze setzen oder auf ihr herumlaufen, wenn man aus dem ersten Land ’rausmuss und in das andere nicht ’reindarf. Dann würde man eben mitten auf der Grenze bleiben, sich eine Hütte bauen und da leben und den Ländern links und rechts die Zunge rausstrecken. Aber eine Grenze besteht aus gar nichts, worauf man treten kann. Sie ist etwas, das sich mitten im Zug abspielt mithilfe von Männern, die Beamte sind.“
Kully, das gilt es zu betonen, ist ein geliebtes Kind. Ihr Vater, trotz seiner bisweilen berserkerhaften Art, genauso wie ihre Mutter, mit der sie in den Hotelzimmern „aller Länder“ in Symbiose lebt, würden ihre Tochter nie im Leben verlassen. Was nicht verhindert, dass sich Kully gelegentlich verlassen fühlt. Etwa, wenn sie in einem Café zurückgelassen wird, weil ihr Vater seiner speziellen Kulturtechnik des Geldleihens nachgeht. Dann sitzt Kully ziemlich trübselig wartend herum, bis einer sich erbarmt und ihr ein Stück Kuchen oder eine Limonade hinstellt.
Auch wenn sie sich alle Mühe der Welt geben: Die Sorgen der Eltern bleiben dem Mädchen nicht verborgen. Die Angst und Scham der Mutter spürt Kully hautnah. Wenn der Herr Schriftstellervater loszieht, um einen Vorschuss zu ergattern, bleiben Kully und ihre Mutter in den Hotelzimmern als lebendes Pfand zurück. Die Rechnungen türmen sich; die Mutter droht zwischenzeitlich, den Mut zu verlieren; Kully fehlen Kinder zum Spielen. Wenigstens nennt sie zwei Schildkröten ihr Eigen. Nachts hört sie sie an der Tapete rascheln – diese Embleme des Flaneurs aus der verlorenen Zeit der Großstadtmoderne.
Der Verlag suggeriert, in dem Paar, das hier geschildert wird, also in Kullys Papa und Mama, wären deutlich Joseph Roth und Irmgard Keun wiederzuerkennen. Das stimmt und stimmt doch nicht. Zwar lebte Irmgard Keun 1936/37 im Exil in Ostende mit Joseph Roth zusammen, auch reiste sie mit ihm an Orte, die mit denen des Romans weitgehend übereinstimmen. Aber erstens hatten sie kein Kind dabei, und zweitens ist Kullys Roman-Mutter keine Schriftstellerin; im Gegenteil: Sie opfert ihr Leben dem männlichen Genie. Im Übrigen schrieb Keun den Roman, nachdem sie sich von Roth getrennt hatte (er starb 1939 an seinem schweren Alkoholmissbrauch). So lässt sich wohl resümieren, dass Keuns Erfahrung mit Joseph Roth in den Roman eingeflossen, aber eine eigenständige Geschichte daraus geworden ist.
Nämlich die Geschichte einer Familie. Einer Künstlerfamilie in schwierigsten Zeiten. Ganz offensichtlich erschien es der Autorin angemessen, diese Zeiten durch die Brille kindlichen Esprits zu beschauen und damit die real existierende Brutalität jener Jahre abzufedern. Denn gewisse Dinge, die das Herz des Buchs ausmachen, können nur einem gewitzten Mädchen wie Kully passieren, und weil sie ihm passieren, erfahren wir, dass in der Not manche Menschen besonders nett sind. Zum Beispiel das Hotelpersonal, die Portiers, Zimmermädchen und Liftboys, die niemals ihren Zorn an Kully auslassen, obwohl jeder weiß, dass die Hotelrechnung wohl nie beglichen werden wird.
Eine besonders anrührende Szene spielt sich ab zwischen Kully und dem Amsterdamer Verleger Krabbe, der ihrem Vater schon einiges an Geld vorgestreckt hat und nun endlich das Romanmanuskript in der Hand halten will. Da Kully weiß, dass ihr Vater noch nichts geschrieben, der Vorschuss allerdings längst verbraucht ist, kommt ihr eine rettende Idee: Sie könne das Buch doch selbst schreiben! „Herr Krabbe“, fragt sie den um Fassung ringenden Mann, „hat denn noch nie ein Kind einen Roman geschrieben?“ Die Antwort ist leider wenig ermutigend. Nachts liegt Kully im Bett, grübelnd: „Warum kann denn ein Kind keine Romane schreiben? Wenn ein Engel hexen würde, und ich sofort zweihundert Seiten von einem Roman auf der Schreibmaschine hätte, wären wir ja gerettet.“ An der feinen Balance zwischen Trost und Katastrophe erweist sich die Kunst der Prosa Irmgard Keuns.
Irmgard Keun:
Kind aller Länder.
Roman. Verlag
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2016.
224 Seiten, 17,99 Euro.
E-Book 15,99 Euro.
Im Schatten junger Mädchenblüte: Palmen am Quai des États-Unis in Nizza, 1932.
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl
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»Keun hat Humor wie ein dicker Mann, Grazie wie eine Frau, Herz, Verstand und Gefühl.« Kurt Tucholsky