Die sehr sehr witzige Geschichte eines Mädchens, das unglücklich über die Ankunft ihres kleinen Bruders ist und ihr Glück daraufhin selbst in die Hand nimmt. So kann sie am Ende doch zur begeisterten Schwester werden. Ein Longseller aus Japan hat damit seinen Weg nach Deutschland gefunden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023Hauptsache, ohne Äffchen
Ein Kinderbuch erzählt vom wünschenswerten und doch illusorischen Ausbruch aus der eigenen Familie.
Von Kim Maurus
Von Kim Maurus
Der süße Blick der Mutter ist eine spezielle Qual. Er geht stets zu diesem kleinen Wesen, erst wenige Monate alt. Das Baby fügt sich reibungslos in ihre Arme und hat trotzdem ein Erdbeben ausgelöst, ihre Wahrnehmung ist völlig verrutscht. Sie sieht die große Schwester nicht mehr an, die da steht und mit Keksen jongliert, die ihr am Rock zupft, die ihr droht: "Ich haue ab. Ich suche mir ein neues Zuhause!" Abgewandt sagt die Mutter etwas, das noch schlimmer ist, als ihr entnervt zurück zu drohen oder sie nicht zu hören. Sie nimmt ihre Worte wahr, sie weiß um die Anwesenheit des Kindes, das hier um Aufmerksamkeit buhlt, aber es ist ihr völlig egal. Sie sagt nur: "Ja, ja."
Das Kinderbuch "Kind zu verschenken" des japanischen Autors und Illustrators Hiroshi Ito ist nicht heiter. Es gibt einen Einblick in eine Welt, die im buchstäblichen Sinn kindisch ist, aber gerade deshalb gar nicht genug ernst genommen werden kann. Den Schmerz, den die große Schwester fühlt angesichts des kleinen Eindringlings in ihrem Leben, kann man ihr nicht absprechen, zumal Aufmerksamkeitsentzug völlig altersunabhängig einer Tortur gleichkommt.
Genauso wenig kindisch im alltäglichen Sinne ist der darauf folgende versuchte Ausbruch der großen Schwester aus der familiären Struktur. Den kleinen Bruder nennt sie nur Äffchen: "Wenn er nicht schrie, wurde er gestillt oder kackte. Er war kein bisschen niedlich." Wenn also ihre Mutter dieses Äffchen so viel lieber hat als sie, dann sucht sie sich eben eine neue Familie. Und weil die Mutter das Vorhaben nicht ernst nimmt, so wie Erwachsene kindische Gefühle und daraus wachsende Vorhaben selten ernst nehmen, fühlt sie sich in dieser Entscheidung umso bestärkter.
Und so setzt sie sich in einen Karton, schreibt sorgfältig "Kind zu verschenken" darauf, wartet und hofft, macht Bekanntschaft mit einem Hund, einer Katze und einer Schildkröte, die allesamt auch nach einer Familie suchen. Ihr Leben in dieser neuen Familie könnte ja, so die Vorstellung, die immer schillernder wird, ganz toll werden: Sie würde in einem schönen Haus mit großem Garten wohnen, "ein Pool wäre auch nicht schlecht", dazu "einen gut aussehenden, klugen Vater und eine schöne, schlaue Mutter, die nur mich liebhaben". Und natürlich dürfte nur sie bestimmen, was gespielt wird, wenn ihre Freunde vorbeikommen.
Dass sie der Katze, die mit ihr auf ein neues Zuhause wartet, rät, nicht zu viele Ansprüche zu haben (das Tier wünscht sich ein Heim, in dem es erlaubt ist, seine Krallen an jedweden Möbeln zu schärfen), ist nur konsequent, denn Zurückweisung macht blind für alles andere als sich selbst. Aus dem stetigen Desinteresse der vorbeiwandernden Passanten spinnt sie nur noch höhere Ansprüche, die aus der Verletzung entstandene Wut feuert sie an.
Und so weckt das Buch Hoffnung, die sich fast 113 Seiten lang hält, auf eine positive Pointe, auf den tieferen Sinn dahinter: Dass die große Schwester vielleicht Heimweh bekommt und dann merkt, es ist gar nicht so schlecht zu Hause. Oder dass sie jemand mitnimmt, bei dem es ganz furchtbar ist, woraufhin sie zum gleichen Schluss kommt. Man meint zu wissen, was passieren wird, Katze, Hund und Schildkröte finden ein Zuhause, nur das Kind bleibt am längsten im Karton zurück. Immer weiterblättern. Ob noch wer kommt?
Die Stärke dieses Buches liegt zum einen in den minimalistischen, aber ausdrucksstarken Illustrationen des Autors, der er schafft, mit ein paar Strichen und Punkten ganze (Gefühls-)Welten festzuzurren. Zum anderen liegt sie darin, dass die Hoffnung auf positive Pointen wie die angesprochenen enttäuscht wird. Auch ganz am Ende siegt der Frust in Form einer trockenen Akzeptanz, die ein jeder kennt, der eine Familie und damit zwangsläufig eine anstrengende Familie hat.
Einzugestehen, welche Wahl man wirklich hat und welche man sich nur im Kopf zusammen spinnen kann, ist eine Kunst, die nicht viele Menschen beherrschen - Kinder eher besser als Erwachsene, weil sie ständig mit den Grenzen ihrer Selbständigkeit konfrontiert werden. Und so weckt das Ende eine neue Hoffnung: Dass Familien die Eifersucht diskutieren und die Krux daran, zusammenzugehören, immer unter der paradoxen Prämisse, dass man eben trotz allem zusammengehört.
Hiroshi Ito: "Kind zu verschenken!"
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Moritz Verlag, Frankfurt 2023. 120 S., geb., 14,- Euro. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Kinderbuch erzählt vom wünschenswerten und doch illusorischen Ausbruch aus der eigenen Familie.
Von Kim Maurus
Von Kim Maurus
Der süße Blick der Mutter ist eine spezielle Qual. Er geht stets zu diesem kleinen Wesen, erst wenige Monate alt. Das Baby fügt sich reibungslos in ihre Arme und hat trotzdem ein Erdbeben ausgelöst, ihre Wahrnehmung ist völlig verrutscht. Sie sieht die große Schwester nicht mehr an, die da steht und mit Keksen jongliert, die ihr am Rock zupft, die ihr droht: "Ich haue ab. Ich suche mir ein neues Zuhause!" Abgewandt sagt die Mutter etwas, das noch schlimmer ist, als ihr entnervt zurück zu drohen oder sie nicht zu hören. Sie nimmt ihre Worte wahr, sie weiß um die Anwesenheit des Kindes, das hier um Aufmerksamkeit buhlt, aber es ist ihr völlig egal. Sie sagt nur: "Ja, ja."
Das Kinderbuch "Kind zu verschenken" des japanischen Autors und Illustrators Hiroshi Ito ist nicht heiter. Es gibt einen Einblick in eine Welt, die im buchstäblichen Sinn kindisch ist, aber gerade deshalb gar nicht genug ernst genommen werden kann. Den Schmerz, den die große Schwester fühlt angesichts des kleinen Eindringlings in ihrem Leben, kann man ihr nicht absprechen, zumal Aufmerksamkeitsentzug völlig altersunabhängig einer Tortur gleichkommt.
Genauso wenig kindisch im alltäglichen Sinne ist der darauf folgende versuchte Ausbruch der großen Schwester aus der familiären Struktur. Den kleinen Bruder nennt sie nur Äffchen: "Wenn er nicht schrie, wurde er gestillt oder kackte. Er war kein bisschen niedlich." Wenn also ihre Mutter dieses Äffchen so viel lieber hat als sie, dann sucht sie sich eben eine neue Familie. Und weil die Mutter das Vorhaben nicht ernst nimmt, so wie Erwachsene kindische Gefühle und daraus wachsende Vorhaben selten ernst nehmen, fühlt sie sich in dieser Entscheidung umso bestärkter.
Und so setzt sie sich in einen Karton, schreibt sorgfältig "Kind zu verschenken" darauf, wartet und hofft, macht Bekanntschaft mit einem Hund, einer Katze und einer Schildkröte, die allesamt auch nach einer Familie suchen. Ihr Leben in dieser neuen Familie könnte ja, so die Vorstellung, die immer schillernder wird, ganz toll werden: Sie würde in einem schönen Haus mit großem Garten wohnen, "ein Pool wäre auch nicht schlecht", dazu "einen gut aussehenden, klugen Vater und eine schöne, schlaue Mutter, die nur mich liebhaben". Und natürlich dürfte nur sie bestimmen, was gespielt wird, wenn ihre Freunde vorbeikommen.
Dass sie der Katze, die mit ihr auf ein neues Zuhause wartet, rät, nicht zu viele Ansprüche zu haben (das Tier wünscht sich ein Heim, in dem es erlaubt ist, seine Krallen an jedweden Möbeln zu schärfen), ist nur konsequent, denn Zurückweisung macht blind für alles andere als sich selbst. Aus dem stetigen Desinteresse der vorbeiwandernden Passanten spinnt sie nur noch höhere Ansprüche, die aus der Verletzung entstandene Wut feuert sie an.
Und so weckt das Buch Hoffnung, die sich fast 113 Seiten lang hält, auf eine positive Pointe, auf den tieferen Sinn dahinter: Dass die große Schwester vielleicht Heimweh bekommt und dann merkt, es ist gar nicht so schlecht zu Hause. Oder dass sie jemand mitnimmt, bei dem es ganz furchtbar ist, woraufhin sie zum gleichen Schluss kommt. Man meint zu wissen, was passieren wird, Katze, Hund und Schildkröte finden ein Zuhause, nur das Kind bleibt am längsten im Karton zurück. Immer weiterblättern. Ob noch wer kommt?
Die Stärke dieses Buches liegt zum einen in den minimalistischen, aber ausdrucksstarken Illustrationen des Autors, der er schafft, mit ein paar Strichen und Punkten ganze (Gefühls-)Welten festzuzurren. Zum anderen liegt sie darin, dass die Hoffnung auf positive Pointen wie die angesprochenen enttäuscht wird. Auch ganz am Ende siegt der Frust in Form einer trockenen Akzeptanz, die ein jeder kennt, der eine Familie und damit zwangsläufig eine anstrengende Familie hat.
Einzugestehen, welche Wahl man wirklich hat und welche man sich nur im Kopf zusammen spinnen kann, ist eine Kunst, die nicht viele Menschen beherrschen - Kinder eher besser als Erwachsene, weil sie ständig mit den Grenzen ihrer Selbständigkeit konfrontiert werden. Und so weckt das Ende eine neue Hoffnung: Dass Familien die Eifersucht diskutieren und die Krux daran, zusammenzugehören, immer unter der paradoxen Prämisse, dass man eben trotz allem zusammengehört.
Hiroshi Ito: "Kind zu verschenken!"
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Moritz Verlag, Frankfurt 2023. 120 S., geb., 14,- Euro. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Manchmal ist das Leben als großes Geschwisterkind frustrierend, lernt Kritikerin Kim Maurus in Hiroshi Itos neuem Kinderbuch: Ein Baby wird geboren und die Mutter hat plötzlich keine Zeit mehr für die große Schwester, so dass diese beschließt, sich mit einem Schild auf die Straße zu setzen, auf dem "Kind zu verschenken" steht. Sie malt sich ihre neue Familie in den schönsten Farben aus, dass niemand kommt, um sie mitzunehmen, macht sie wütend. "Am Ende siegt der Frust", weil sie - realistisch, wie Kinder durchaus sein können - akzeptieren muss, dass sie nunmal nur diese eine Familie hat, verrät Maurus. Ihr gefällt das Buch vor allem wegen seiner "minimalistischen, aber ausdrucksstarken" Illustrationen, die aber dennoch die ganze Vielfalt der Gefühlswelt der Protagonistin abbilden - und mit der transportierten Hoffnung, dass Familien auch über schwierige Themen wie Eifersucht ins Gespräch kommen, wie sie schließt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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