Obwohl nahezu sämtliche Staaten die Kinderrechtserklärung der Vereinten Nationen unterzeichnet haben, sind Kinder überall auf der Welt die wehrlosesten Opfer von Ausgrenzung und Ausbeutung. Weltweit leben schätzungsweise etwa 100 Millionen Kinder auf der Straße. Sie werden als Arbeitssklaven in Fabriken und Bergwerken ausgebeutet, als Kindersoldaten rekrutiert, in die Prostitution gezwungen, für den Drogenhandel und andere Straftaten missbraucht, von der Polizei verfolgt.Zwei Geschichten erzählen vom mörderischen Überlebenskampf ausgebeuteter Kinder im Dschungel der Großstädte. Zum besseren Verständnis der Zusammenhänge informiert ein Sachteil über die Ausbeutung von Kindern weltweit früher und heute: in Haushalten, Fabriken und Bergwerken, in der Prostitution, im Krieg, über die Ursachen und Lebensumstände von Straßenkindern im industrialisierten Westen und in der ,Dritten Welt. Es werden Hilfsorganisationen genannt, die Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen befreien und ihnen ein Zuhause geben. Es wird über die Rechte von Kindern informiert und die Bedeutung von Bildung und Kinderarbeit angesprochen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.08.2008Günstige Grabsteine
Viele Millionen Kinder werden weltweit ausgebeutet
Fast zwanzig Jahre ist es her, dass die Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention verabschiedet haben, und mit Ausnahme der USA und von Somalia haben sämtliche UN-Mitgliedsstaaten diese ratifiziert. Doch die 54 Artikel, die eine soziale Grundversorgung aller Kinder völkerrechtlich vorschreiben, haben bislang nicht verhindert, dass immer noch 370 Millionen Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten, mindestens 100 Millionen auf der Straße leben und 72 Millionen nicht zur Schule gehen. Zwei bis vier Millionen Kinder arbeiten in der Prostitution und etwa 300 000 werden zur Teilnahme an Kriegen gezwungen. Der Sozialpädagoge Reiner Engelmann untersucht in seinem neuen Buch die Verstöße gegen die Konvention, wobei er sich vor allem auf Material von Amnesty International stützt. Die Bilanz ist niederschmetternd.
Selbst so mancher reiche Industriestaat hat keinen Grund, sich selbstgefällig auf die Schulter zu klopfen. So sitzen in den USA mindestens 2225 jugendliche Straftäter in lebenslänglicher Haft, ohne eine Chance, je auf freien Fuß gesetzt zu werden. Diesen Jugendlichen wird nicht zugestanden, dass sie sich entwickeln und verändern können, wie es die UN-Konvention fordert. Und auch Deutschland, das die Konvention 1992 ratifiziert hat, kommt nicht durchgängig gut weg. „Kinder von Einwanderern, behinderte Kinder und Kinder aus armen Familien werden durch die frühe Aufteilung auf die verschiedenen Schulsysteme besonders benachteiligt”, erinnert Engelmann, und beklagt zudem, dass minderjährige Asylbewerber durch eingeschränkte Lern- und Betreuungsangebote in ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt werden. Besonders betroffen sind jedoch Kinder in Entwicklungsländern. 61 Prozent der Kinder, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, leben in Asien, 32 Prozent in Afrika und sieben Prozent in Lateinamerika. Millionen Kinder schuften sieben Tage die Woche, viele sogar in Schuldknechtschaft, die vor allem in Brasilien, Indien und Pakistan weit verbreitet ist.
Engelmann beschränkt sich nicht auf die Aufarbeitung statistischer Daten, sondern er veranschaulicht an zwei Beispielen aus Indien und Ruanda, welches Elend sich hinter den Zahlen verbirgt. Er erzählt die Geschichte von Mudhakar, der seit seinem achten Lebensjahr für 25 Cent am Tag in einem indischen Steinbruch in Schuldknechtschaft arbeitet, gemeinsam mit dem Vater und zwei Geschwistern. Die Familie hatte sich, als die Mutter schwer erkrankte, bei einem Steinbruchbesitzer Geld für deren Behandlung geliehen, zu Wucherzinsen. Obwohl die Familie zwölf Stunden am Tag arbeitet, wird der Schuldenberg immer größer. Mudhakar weiß, dass der Staub seine Lunge zerstören wird, so wie die des Vaters, der bereits Blut hustet.
Rund 150 000 Kinder arbeiten wie Mudhakar in indischen Steinbrüchen, und ihre niedrigen Löhne sind ein Grund dafür, warum Grabsteine aus Indien in Deutschland besonders günstig verkauft werden können. Für Teppiche gibt es bereits das Rugmark-Siegel, das die Herstellung ohne illegale Kinderarbeit garantiert, das Flower-Label zertifiziert umweltgerechte und menschenwürdige Produktion für Blumen. Bei Grabsteinen allerdings hat der Käufer noch keine Kontrollmöglichkeit.
Dass ein Boykott in einem solchen Fall längst nicht immer die richtige Entscheidung ist, stellt Engelmann auch dar, am Beispiel indischer Textilbetriebe. Nachdem die USA die Einfuhr von Textilien verboten hatten, die von Kindern hergestellt wurden, setzten die Betriebe die Kinder auf die Straße. Oft mussten diese daraufhin für noch weniger Lohn arbeiten oder landeten in der Prostitution.
Das Buch von Reiner Engelmann bietet nicht nur aufgrund des Zahlenmaterials ein umfassendes Bild der Situation der Kinder dieser Welt, es ist auch sehr eingängig geschrieben. Gern hätte man noch weitere Reportagen wie die über Mudhakar aus Indien und über Mutarama gelesen, die im Bürgerkrieg in Ruanda ihre Familie verlor und sich auf der Straße durchschlagen musste, bis sie in einem Projekt für Straßenkinder Zuflucht fand. Zwar ist das Buch sehr übersichtlich gegliedert, doch ein Inhaltsverzeichnis hätte die Orientierung erleichtert. EVA KARNOFSKY
REINER ENGELMANN: Kinder: ausgegrenzt und ausgebeutet. Horlemann Verlag, Bad Honnef 2008. 144 S., 12,90 Euro.
Etwa 370 Millionen Kinder schuften weltweit unter entwürdigenden Bedingungen. Dabei haben fast alle Nationen (mit Ausnahme von Somalia und den USA) die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert, die die Ausbeutung von Kindern verbietet. Foto: obs/terre des hommes
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Viele Millionen Kinder werden weltweit ausgebeutet
Fast zwanzig Jahre ist es her, dass die Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention verabschiedet haben, und mit Ausnahme der USA und von Somalia haben sämtliche UN-Mitgliedsstaaten diese ratifiziert. Doch die 54 Artikel, die eine soziale Grundversorgung aller Kinder völkerrechtlich vorschreiben, haben bislang nicht verhindert, dass immer noch 370 Millionen Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten, mindestens 100 Millionen auf der Straße leben und 72 Millionen nicht zur Schule gehen. Zwei bis vier Millionen Kinder arbeiten in der Prostitution und etwa 300 000 werden zur Teilnahme an Kriegen gezwungen. Der Sozialpädagoge Reiner Engelmann untersucht in seinem neuen Buch die Verstöße gegen die Konvention, wobei er sich vor allem auf Material von Amnesty International stützt. Die Bilanz ist niederschmetternd.
Selbst so mancher reiche Industriestaat hat keinen Grund, sich selbstgefällig auf die Schulter zu klopfen. So sitzen in den USA mindestens 2225 jugendliche Straftäter in lebenslänglicher Haft, ohne eine Chance, je auf freien Fuß gesetzt zu werden. Diesen Jugendlichen wird nicht zugestanden, dass sie sich entwickeln und verändern können, wie es die UN-Konvention fordert. Und auch Deutschland, das die Konvention 1992 ratifiziert hat, kommt nicht durchgängig gut weg. „Kinder von Einwanderern, behinderte Kinder und Kinder aus armen Familien werden durch die frühe Aufteilung auf die verschiedenen Schulsysteme besonders benachteiligt”, erinnert Engelmann, und beklagt zudem, dass minderjährige Asylbewerber durch eingeschränkte Lern- und Betreuungsangebote in ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt werden. Besonders betroffen sind jedoch Kinder in Entwicklungsländern. 61 Prozent der Kinder, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, leben in Asien, 32 Prozent in Afrika und sieben Prozent in Lateinamerika. Millionen Kinder schuften sieben Tage die Woche, viele sogar in Schuldknechtschaft, die vor allem in Brasilien, Indien und Pakistan weit verbreitet ist.
Engelmann beschränkt sich nicht auf die Aufarbeitung statistischer Daten, sondern er veranschaulicht an zwei Beispielen aus Indien und Ruanda, welches Elend sich hinter den Zahlen verbirgt. Er erzählt die Geschichte von Mudhakar, der seit seinem achten Lebensjahr für 25 Cent am Tag in einem indischen Steinbruch in Schuldknechtschaft arbeitet, gemeinsam mit dem Vater und zwei Geschwistern. Die Familie hatte sich, als die Mutter schwer erkrankte, bei einem Steinbruchbesitzer Geld für deren Behandlung geliehen, zu Wucherzinsen. Obwohl die Familie zwölf Stunden am Tag arbeitet, wird der Schuldenberg immer größer. Mudhakar weiß, dass der Staub seine Lunge zerstören wird, so wie die des Vaters, der bereits Blut hustet.
Rund 150 000 Kinder arbeiten wie Mudhakar in indischen Steinbrüchen, und ihre niedrigen Löhne sind ein Grund dafür, warum Grabsteine aus Indien in Deutschland besonders günstig verkauft werden können. Für Teppiche gibt es bereits das Rugmark-Siegel, das die Herstellung ohne illegale Kinderarbeit garantiert, das Flower-Label zertifiziert umweltgerechte und menschenwürdige Produktion für Blumen. Bei Grabsteinen allerdings hat der Käufer noch keine Kontrollmöglichkeit.
Dass ein Boykott in einem solchen Fall längst nicht immer die richtige Entscheidung ist, stellt Engelmann auch dar, am Beispiel indischer Textilbetriebe. Nachdem die USA die Einfuhr von Textilien verboten hatten, die von Kindern hergestellt wurden, setzten die Betriebe die Kinder auf die Straße. Oft mussten diese daraufhin für noch weniger Lohn arbeiten oder landeten in der Prostitution.
Das Buch von Reiner Engelmann bietet nicht nur aufgrund des Zahlenmaterials ein umfassendes Bild der Situation der Kinder dieser Welt, es ist auch sehr eingängig geschrieben. Gern hätte man noch weitere Reportagen wie die über Mudhakar aus Indien und über Mutarama gelesen, die im Bürgerkrieg in Ruanda ihre Familie verlor und sich auf der Straße durchschlagen musste, bis sie in einem Projekt für Straßenkinder Zuflucht fand. Zwar ist das Buch sehr übersichtlich gegliedert, doch ein Inhaltsverzeichnis hätte die Orientierung erleichtert. EVA KARNOFSKY
REINER ENGELMANN: Kinder: ausgegrenzt und ausgebeutet. Horlemann Verlag, Bad Honnef 2008. 144 S., 12,90 Euro.
Etwa 370 Millionen Kinder schuften weltweit unter entwürdigenden Bedingungen. Dabei haben fast alle Nationen (mit Ausnahme von Somalia und den USA) die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert, die die Ausbeutung von Kindern verbietet. Foto: obs/terre des hommes
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit großem Interesse hat Rezensentin Eva Karnofsky dieses Buch von Reiner Engelmann aufgenommen, in dem der Sozialpädagoge Verstöße gegen die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen untersucht, die bereits vor zwanzig Jahren verabschiedet wurde. In seiner Studie, die sich hauptsächlich auf Informationen von Amnesty International stützt, ziehe Engelmann eine vernichtende Bilanz, indem er die eklatanten Missstände, auch in einigen westlichen Industrienationen, anprangere, so Karnofsky. Vor allem schätzt sie die Herangehensweise des Autors, die sich nicht allein in der Aufarbeitung statistischer Daten erschöpfe, sondern auch anhand zweier biografischer Beispiele von den bedrückenden Lebenswirklichkeiten hochgradig benachteiligter Kinder erzähle. Dadurch entstehe ein überaus informatives und gut geschriebenes Buch, von dem sich die Rezensentin allerdings noch mehr Reportagen sowie ein Inhaltsverzeichnis gewünscht hätte.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH