Der Text-/Bildband mit jiddischen Kinderliedern und Kinderporträts wurde von der Tochter des Fotografen, Mara Vishniac Kohn, und Miriam Hartman Flacks, einer Kennerin und Sammlerin jiddischer Lieder, zusammengestellt. Die zum größten Teil unveröffentlichten Fotografien stammen aus dem Nachlass Roman Vishniacs. Der Fotograf russischer Herkunft war in den Dreißigerjahren auf Anregung des Berliner Rabbi Joachim Prinz vom American Jewish Point Distribution Committee beauftragt worden, das jüdische Leben im Schtetl mit der Kamera zu dokumentieren. Die Bilder sollten zum Erfolg einer Geldspendeaktion für die osteuropäischen Juden beitragen, deren Lebenssituation von Armut geprägt war. Zwischen 1935 und 1938 unternahm Vishniac ausgedehnte Reisen nach Polen, Rumänien, Russland und Ungarn, um dort das Leben im Schtetl mit der Kamera festzuhalten. Um die Authentizität seiner Bilder zu erhöhen, fotografierte er nicht immer offen, sondern versteckte seine Kamera im Mantel, in den er ein Loch für das Objektiv geschnitten hatte. Vishniacs Bilder sind letzte Zeugnisse der ostjüdischen Lebenswelt, die kurz darauf von den Nationalsozialisten vernichtet wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2000Dieser Frühling ist bald fort
Roman Vishniacs Kinderbilder
Während Roman Vishniac noch im Internierungslager Camp Du Ruchard bei Gurs inhaftiert war, legten Tausende von Negativen, die der Fotograf zwischen 1935 und 1938 in jüdischen Dörfern und Städten Osteuropas belichtet hatte, den Weg von Marseille nach Kuba zurück. Vishniac hatte die Negative seinem Freund Walter Bierer übergeben, der sie in Sicherheit bringen sollte: "Ich wollte wenigstens ihre Gesichter retten", sagte Vishiniac. Für die jüdischen Menschen in Polen, Litauen oder seiner Heimat Lettland hatte der Fotograf wenig Hoffnung. Das war im Jahr 1939.
Vishniac gelangte mit seiner Familie schließlich über Lissabon in die Vereinigten Staaten, während Bierer mit der Negativsammlung im Gepäck sechs Monate lang in Kuba interniert wurden. Nach Bierers Ankunft in Miami beschlagnahmte zunächst der amerikanische Zoll die Bilder. Erst 1941 konnte Vishniac seine Bilder von Juden aus Osteuropa in Amerika ausstellen. Er lud die Gattin des Präsidenten zu einem Ausstellungsbesuch ein und erhielt eine Absage von brüskierender Kürze: "Mrs. Roosevelt bedauert, nicht nach New York kommen zu können, um sich Bilder von polnischen Juden anzusehen." Die Hoffnung Vishniacs, seine Fotografien könnten zur Rettung der Juden Osteuropas beitragen, hatte getrogen. Er hat nichts retten können - außer den Gesichtern.
Mara Vishniac Kohn, die Tochter Roman Vishniacs, erzählt die Geschichte vom Schicksal der Bilder ihres Vaters in einem bewegenden Band, den sie zusammen mit Miriam Hartman Flacks herausgegeben hat. Er zeigt ausschließlich Bilder von Kindern in den Schtetln , ergänzt um die Verse und Noten jener Lieder, die von ihnen gesungen wurden. Die Texte, die auf hebräisch, jiddisch und deutsch wiedergegeben werden, erzählen vom Alltag im Schtetl, von Hunger und Armut, von der Schule, von Träumen, Hoffnungen und der Sorge vor einer ungewissen Zukunft: "Spielt doch, liebe Kinderlein, / Versäumt kein Augenblick. / Denn dieser Frühling ist bald weg / Und kommt nie mehr zurück." (Roman Vishniac: "Kinder einer verschwundenen Welt. Bilder aus dem Schtetel". Hrsg. von Mara Vishniac Kohn und Miriam Hartman Flacks. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Henning Thies; aus dem Jiddischen von Elvira Grözinger. Henschel Verlag, Berlin 2000. 159 S., Abb., geb., 78,- DM.)
HUBERT SPIEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roman Vishniacs Kinderbilder
Während Roman Vishniac noch im Internierungslager Camp Du Ruchard bei Gurs inhaftiert war, legten Tausende von Negativen, die der Fotograf zwischen 1935 und 1938 in jüdischen Dörfern und Städten Osteuropas belichtet hatte, den Weg von Marseille nach Kuba zurück. Vishniac hatte die Negative seinem Freund Walter Bierer übergeben, der sie in Sicherheit bringen sollte: "Ich wollte wenigstens ihre Gesichter retten", sagte Vishiniac. Für die jüdischen Menschen in Polen, Litauen oder seiner Heimat Lettland hatte der Fotograf wenig Hoffnung. Das war im Jahr 1939.
Vishniac gelangte mit seiner Familie schließlich über Lissabon in die Vereinigten Staaten, während Bierer mit der Negativsammlung im Gepäck sechs Monate lang in Kuba interniert wurden. Nach Bierers Ankunft in Miami beschlagnahmte zunächst der amerikanische Zoll die Bilder. Erst 1941 konnte Vishniac seine Bilder von Juden aus Osteuropa in Amerika ausstellen. Er lud die Gattin des Präsidenten zu einem Ausstellungsbesuch ein und erhielt eine Absage von brüskierender Kürze: "Mrs. Roosevelt bedauert, nicht nach New York kommen zu können, um sich Bilder von polnischen Juden anzusehen." Die Hoffnung Vishniacs, seine Fotografien könnten zur Rettung der Juden Osteuropas beitragen, hatte getrogen. Er hat nichts retten können - außer den Gesichtern.
Mara Vishniac Kohn, die Tochter Roman Vishniacs, erzählt die Geschichte vom Schicksal der Bilder ihres Vaters in einem bewegenden Band, den sie zusammen mit Miriam Hartman Flacks herausgegeben hat. Er zeigt ausschließlich Bilder von Kindern in den Schtetln , ergänzt um die Verse und Noten jener Lieder, die von ihnen gesungen wurden. Die Texte, die auf hebräisch, jiddisch und deutsch wiedergegeben werden, erzählen vom Alltag im Schtetl, von Hunger und Armut, von der Schule, von Träumen, Hoffnungen und der Sorge vor einer ungewissen Zukunft: "Spielt doch, liebe Kinderlein, / Versäumt kein Augenblick. / Denn dieser Frühling ist bald weg / Und kommt nie mehr zurück." (Roman Vishniac: "Kinder einer verschwundenen Welt. Bilder aus dem Schtetel". Hrsg. von Mara Vishniac Kohn und Miriam Hartman Flacks. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Henning Thies; aus dem Jiddischen von Elvira Grözinger. Henschel Verlag, Berlin 2000. 159 S., Abb., geb., 78,- DM.)
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hubert Spiegel berichtet knapp vom Fotografen Roman Vishniac und seinen Bilder vom jüdischen Leben in Osteuropa, die er zwischen 1935 und 1938 gemacht hat. Er gab sie seinem Freund Walter Bierer mit, und über Kuba gelangten sie nach Amerika, ebenso wie Vishniac, der hoffte, mit ihnen 1941 zur Rettung der Juden beitragen zu können. Umsonst, nur die Gesichter sind geblieben. Ein "bewegender Band", schließt Spiegel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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