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Martin Walser auf der Suche nach Geistesgegenwart und auf einer abenteuerlichen Fahrt in die "Einbahnstraße Zeitgeist, in der der Gegenverkehr geahndet wird". Welche Kriterien bestimmen den Zeitgeist und fungiert der Zeitgeist als mächtiger Schutzpatron der Kritik? Mütter sind vielleicht die einzigen Lebewesen, die auf ihre Kinder, wenn sie denen etwas beibringen wollen, bejahend reagieren. In Martin Walser hat die mütterliche Seite immer überwogen. Das machte ihn zu einem Förderer und gleichzeitig zu einem passionierten Nichterzieher. Sein Bedürfnis nach Zustimmung verhalf unbekannten Autoren…mehr

Produktbeschreibung
Martin Walser auf der Suche nach Geistesgegenwart und auf einer abenteuerlichen Fahrt in die "Einbahnstraße Zeitgeist, in der der Gegenverkehr geahndet wird". Welche Kriterien bestimmen den Zeitgeist und fungiert der Zeitgeist als mächtiger Schutzpatron der Kritik? Mütter sind vielleicht die einzigen Lebewesen, die auf ihre Kinder, wenn sie denen etwas beibringen wollen, bejahend reagieren. In Martin Walser hat die mütterliche Seite immer überwogen. Das machte ihn zu einem Förderer und gleichzeitig zu einem passionierten Nichterzieher. Sein Bedürfnis nach Zustimmung verhalf unbekannten Autoren oft zur ersten Anerkennung im Literaturbetrieb. Diesen Betrieb kennt Walser zur Genüge. Wer selbst so viel Kritik wie Zustimmung geerntet hat wie er, weiß, wovon er spricht, wenn er seine Erfahrungen mit Kritik und Zustimmung und mit dem jeweils herrschenden Zeitgeist zur Sprache bringt. Der Kritiker schreibt, wenn er über mich schreibt, immer auch über sich. Dass er auch über sich selbst schreibt, sollte aber, meint Walser, in der Kritik vorkommen. Das wäre Geistesgegenwart. Walser fragt: Warum fehlt der Kritik das Selbstbewusstsein mitzuteilen, wie und woraus sie entsteht? Oder muss Kritik nur sich selbst genügen? In seinen beiden Reden Kritik oder Zustimmung oder Geistesgegenwart und Erfahrungen mit dem Zeitgeist aus dem Jahr 2008 zieht der Schriftsteller eine persönliche Bilanz. In dem "Anhang mit Tagebuchstellen von 1957 bis 2004" wird erlebbar, wie der Autor unmittelbar reagiert auf Kritik und Zeitgeist, und wie er damit umgeht. Das Bewusstsein als Ort der Auseinandersetzung. Auch der Auseinandersetzung mit sich selbst. Sehr viel näher als in diesen Tagebuchsätzen kann man einem Autor nicht kommen.
Autorenporträt
Martin Walser, geboren 1927 in Wasserburg/Bodensee, lebt heute in Nußdorf/Bodensee. 1957 erhielt er den Hermann-Hesse-Preis, 1962 den Gerhart-Hauptmann-Preis und 1965 den Schiller-Gedächtnis-Förderpreis. 1981 wurde Martin Walser mit dem Georg-Büchner-Preis, 1996 mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg und 1998, dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels und dem Corine - Internationaler Buchpreis; Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten 2008 ausgezeichnet. 2015 wurde Martin Walser der Internationale Friedrich-Nietzsche-Preis für sein Lebenswerk verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2008

Die Kritik der Kritik

Don Quichottes Feldzüge sind nichts gegen Martin Walsers heroischen Kampf mit dem Zeitgeist. Mit eingelegter Wortlanze und blank poliertem Zitatpanzer reitet er gegen die Windmühlen der Kritik

Kritiker, sagt Martin Walser, sollten nur noch schreiben, wenn sie ihrem Gegenstand zustimmen könnten. Alles andere löse bei den betroffenen Künstlern "Porenverschluss" aus. Diese Kritik muss deshalb unbedingt mit einem Lob beginnen: "Kinderspielplatz" ist eines der lesbarsten, weil am schnellsten zu lesenden Bücher dieses Herbstes. Einhundertsiebzehn knackige, großporige Seiten. Ein Bändchen, von dem man weder fett noch müde wird, einen literarischer Fitness-Snack, perfekt für Krisenzeiten wie diese. Schon deshalb, weil es auch in "Kinderspielplatz" um Krisen geht: Schreibkrisen, Lesekrisen, Ichkrisen, Deutschlandkrisen. Und darum, wie man sie bekämpft.

Nämlich durch Reden. "Kinderspielplatz" ist, genau genommen, gar kein Buch, sondern ein Sammelband: zwei Vorträge aus dem laufenden Jahr - der eine in Berlin, der andere in München gehalten -, ergänzt durch Tagebuchstellen aus den fünfzig Jahren davor. Brandaktuelles mit einer Prise Ewigkeit. Denn man soll ja nicht glauben, Walser kämpfe erst seit gestern mit den Kritikern. Er ringt mit ihnen, seit er zu schreiben angefangen hat, und er kann sich an jede Wunde erinnern, die sie ihm geschlagen haben. Zum Beispiel der Theaterkritiker Henrichs, im November 1975: "dass ich keine Dialoge schreiben könne, keine Figuren erfinden könne, dass deshalb mein Stückeschreiben die Geschichte einer Niederlage sei". Oder Marcel Reich-Ranicki im Jahr darauf über "Jenseits der Liebe": "Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman." Diese Sätze peinigen den Schriftsteller W. auch noch nach dreißig Jahren. Und in der Zwischenzeit sind andere, nicht minder böse Sätze dazugekommen. Etwa Jurek Beckers Entgegnung auf Walsers Deutschlandrede von 1988: "nationalistisches Geschwafel". Oder die Bemerkung eines "Spiegel"-Redakteurs über Walsers Paulskirchenrede von 1998: Der Autor "stehe für viele, die einen Schlussstrich fordern". Solche Sätze tun weh. Sie umschwirren den Schriftsteller W. wie ein Stechmückenschwarm. Und weil er sie nicht los wird, geht er mit ihnen auf Reisen. Er packt sie in seinen Manuskriptkoffer, lässt sie in München oder Berlin auf sein Publikum los und zeigt dazu seine Stiche. Hier, die aufgekratzten Beulen: "Kritik oder Zustimmung oder Geistesgegenwart". Da, der zerschundene Rücken: "Über Erfahrungen mit dem Zeitgeist". Natürlich geht es dabei, oberflächlich betrachtet, ganz sachlich und vernünftig zu. "Die Relativitätstheorie der öffentlichen Meinung wird nicht geschrieben werden", heißt es etwa, oder: "Es geht nicht darum, der Kritik ihr Recht zu bestreiten." Dann werden Kant zitiert, Goethe, Lawrence Sterne, Peter Sloterdijk und sogar "Stephan Ruß-Mohl, Professor für Kommunikationswissenschaft".

Aber in Wirklichkeit geht es um etwas anderes. Es geht um Verletzungen. Um Schmerz. Um Bitterkeit. Da will einer schreien und muss sich mit Reden begnügen. Statt um sich zu schlagen, macht er Weltverbesserungsvorschläge. Etwa für Kritiker: Statt Bücher abzuschießen, sollten sie sich auf Autorenpflege verlegen: "Geschrieben wird nur über das, was gefällt." Das ganze Land wäre lebenswerter und wärmer, die Heizkosten und die Unfallzahlen würden sinken. Ein seliger Traum. Aber dann steht ein italienischer Journalist vor der Tür und erzählt dem Schriftsteller W., in Italien halte man ihn für "troppo tedesco". Und aus ist's mit der guten Laune. Troppo tedesco!

Glaubt man diesen Reden, dann hat der Redner Walser immer die falschen Reden gehalten. Vor fünfzig Jahren, nach seinem ersten Roman, spottete er über literarisches Engagement und wurde prompt als "affirmativ" abgestempelt. Zehn Jahre später engagierte er sich gegen den Vietnamkrieg und galt als Kommunist. Seines "Geschichtsgefühls" wegen schob man ihn zu den Deutschnationalen, dann zu den "Schlussstrich"-Apologeten. Dabei, und das ist die Pointe aller Walser-Reden, spricht Walser immer nur von sich selbst. Seine Naivität ist nicht gespielt. Erst seine Interpreten verwandeln des Dichters Sätze in Politik. Auch die Texte dieses Bandes darf man nicht als Aufruf zur Feuilletonreform missverstehen. Sie sind nur die Fortsetzung des Tagebuchs, eine öffentliche Form privaten Jammerns. Wären es Verse, hieße es Elegie.

Aber das Tagebuch ist ehrlicher. Es öffnet die Mördergrube des Herzens, die in den Reden immer krampfhaft zugeklappt bleibt. Etwa in einer Vernichtungsphantasie von 1975: "Alle Vormacher, Nachmacher, Gelungenheitsveranstalter, Feinsinnigproduzenten, Sensibilitätenprotzer, Klugscheißer, Sinnlosigkeitsvirtuosen . . . die soll man alle totschlagen, in dieser Nacht." Genau. Und deshalb werden wir weiter Walser lesen. Den Schriftsteller. Der genügt.

ANDREAS KILB

Martin Walser: "Kinderspielplatz. Zwei öffentliche Reden über Kritik, Zustimmung, Zeitgeist. Mit einem Anhang Tagebuchstellen von 1957-2004". Berlin University Press 2008, 117 Seiten, 17,90 Euro

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