In Amorbach, einem seiner schönsten und persönlichsten Texte, horcht Adorno dem »Echo des längst Vergangenen« nach: Erinnerungen an sein »Lieblingsstädtchen«, an die ländliche Idylle im Odenwald, in der er jedes Jahr die Ferien verbrachte. Der ausführliche Anhang des Bandes blättert das Fotoalbum der Familie Wiesengrund auf und läßt mit einer Fülle unbekannter Abbildungen Adornos Welt, das verlorene Paradies seiner Kindheit, wieder lebendig werden.
Darüber hinaus konnte der Herausgeber eine Vielzahl biographischer Quellen erschließen, die keinem anderen Forscher zugänglich waren. Wir erfahren Neues nicht nur über Adornos Vater, den Weinhändler Oscar Wiesengrund, seine Mutter und seine Tante - beide Sängerinnen von Beruf -, sondern auch über Adornos musikalische Anfänge. Und wir werden in das Amorbach der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückversetzt. Wir begleiten »Teddie« auf seinen Wanderungen durch die »Sommerfrischenwälder« nach Miltenberg oder in Dörfer der Umgebung wie Ottorfszell und Ernsttal und können die Schauplätze und Personen betrachten, die ihm ein Leben lang imGedächtnis blieben.
Ein einzigartiges Buch über Adornos frühe Jahre.
Darüber hinaus konnte der Herausgeber eine Vielzahl biographischer Quellen erschließen, die keinem anderen Forscher zugänglich waren. Wir erfahren Neues nicht nur über Adornos Vater, den Weinhändler Oscar Wiesengrund, seine Mutter und seine Tante - beide Sängerinnen von Beruf -, sondern auch über Adornos musikalische Anfänge. Und wir werden in das Amorbach der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückversetzt. Wir begleiten »Teddie« auf seinen Wanderungen durch die »Sommerfrischenwälder« nach Miltenberg oder in Dörfer der Umgebung wie Ottorfszell und Ernsttal und können die Schauplätze und Personen betrachten, die ihm ein Leben lang imGedächtnis blieben.
Ein einzigartiges Buch über Adornos frühe Jahre.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.08.2003Aus dem Süddeutschland seiner Kindheit: Reinhard Pabst findet Adorno in Amorbach
Im Jahr 1967 erschien in dieser Zeitung eine Folge von 16 autobiographischen Stücken. Unter dem Titel „Amorbach” tauchte Theodor W. Adorno wieder ein in das „Süddeutschland meiner Kindheit”. Schauplatz seiner Miniatur-Memoiren war ein kleiner Ort im Odenwald, Feriendomizil der Familie AdornoWiesengrund vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Vor dem inneren Auge Adornos stand wieder auf, was dem Glück seiner Kindheit Ort und Namen gegeben hatte: der „Wolkmann” und das „Schnatterloch”, die Fähre über den Main, die verstimmte Gitarre und die gezähmte Wildsau von Ernsttal, die im richtigen Augenblick ihre Zahmheit vergaß. Amorbach erschien ihm wie ein anderer Name für das unverlierbare Paradies, das niemand je besaß und das jeder noch einmal zu betreten hofft. Es liegt eine träumerische Versunkenheit über diesen Stücken, die „Amorbach” mit zum Schönsten und Anrührendsten macht, was Adorno je schrieb. Nie zuvor kam er dem geliebten Vorbild Proust so nah wie in diesen Skizzen von einer Jugend in Deutschland.
Der „Literaturdetektiv” Reinhard Pabst ist den Spuren, die Adorno damals auslegte, nachgegangen und hat vieles, was für verschollen galt, wiederentdeckt und dem Vergessen entrissen: Fotos und Alben, Zettel, Orte, Gegenstände – und vor allem Erinnerungen von Freunden und Zeitgenossen, in Frankfurt und in Amorbach. Ein zauberhaftes kleines Buch ist so entstanden, ein Bilderbogen, der dem Objekt des biographischen Verlangens näher kommt als manches kompendiöse Werk (Theodor W. Adorno, Kindheit in Amorbach. Bilder und Erinnerungen. Mit einer biographischen Recherche, herausgegeben von Reinhard Pabst. Insel Verlag, 226 S., 9,50 Euro).
Indem Pabst neben den Fragmenten einer Kindheit immer auch ihren Reflex im Werk des reifen Autors sichtbar werden lässt, hat er es vermieden, die zarte Phänomenologie des Glücks, die Adorno in seinen Miniaturen riskierte, positivistisch „dingfest” zu machen. Gleichwohl ist es amüsant und lehrreich, die zahme Wildsau namens „Butz” und das seinerzeit berühmte Nilpferd „Lieschen” im Bild zu sehen und einiges über den Tierfreund Adorno zu lesen, der den Zoo liebte, gern unter den Sauriern des Senckenberg-Museums wandelte und sich mit seiner Frau Gretel bei Kosenamen wie „Mastodon” und „Trachodon” rief. Schön auch, wie Pabst das „Weiberregiment” im Hause Wiesengrund-Adorno in Bild und Text beschwört – ein Matriarchat, das neben der Musik am meisten zu Adornos zeitlebens unverlierbaren Erinnerungsglücksschätzen beigetragen hat. (Unser Bild zeigt „Teddie” im Alter von 12 Jahren mit seiner Tante, Agathe Calvelli-Adorno (links), und seiner Mutter, Maria Wiesengrund.) Reinhard Pabsts liebevolle Sammlung schließt mit einem Traumprotokoll Adornos aus dem amerikanischen Exil, in dem ein Höhenweg in der Nähe von Amorbach mit der Westküste Amerikas verschmilzt: „Links in der Tiefe lag der Stille Ozean.”
ff
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Im Jahr 1967 erschien in dieser Zeitung eine Folge von 16 autobiographischen Stücken. Unter dem Titel „Amorbach” tauchte Theodor W. Adorno wieder ein in das „Süddeutschland meiner Kindheit”. Schauplatz seiner Miniatur-Memoiren war ein kleiner Ort im Odenwald, Feriendomizil der Familie AdornoWiesengrund vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Vor dem inneren Auge Adornos stand wieder auf, was dem Glück seiner Kindheit Ort und Namen gegeben hatte: der „Wolkmann” und das „Schnatterloch”, die Fähre über den Main, die verstimmte Gitarre und die gezähmte Wildsau von Ernsttal, die im richtigen Augenblick ihre Zahmheit vergaß. Amorbach erschien ihm wie ein anderer Name für das unverlierbare Paradies, das niemand je besaß und das jeder noch einmal zu betreten hofft. Es liegt eine träumerische Versunkenheit über diesen Stücken, die „Amorbach” mit zum Schönsten und Anrührendsten macht, was Adorno je schrieb. Nie zuvor kam er dem geliebten Vorbild Proust so nah wie in diesen Skizzen von einer Jugend in Deutschland.
Der „Literaturdetektiv” Reinhard Pabst ist den Spuren, die Adorno damals auslegte, nachgegangen und hat vieles, was für verschollen galt, wiederentdeckt und dem Vergessen entrissen: Fotos und Alben, Zettel, Orte, Gegenstände – und vor allem Erinnerungen von Freunden und Zeitgenossen, in Frankfurt und in Amorbach. Ein zauberhaftes kleines Buch ist so entstanden, ein Bilderbogen, der dem Objekt des biographischen Verlangens näher kommt als manches kompendiöse Werk (Theodor W. Adorno, Kindheit in Amorbach. Bilder und Erinnerungen. Mit einer biographischen Recherche, herausgegeben von Reinhard Pabst. Insel Verlag, 226 S., 9,50 Euro).
Indem Pabst neben den Fragmenten einer Kindheit immer auch ihren Reflex im Werk des reifen Autors sichtbar werden lässt, hat er es vermieden, die zarte Phänomenologie des Glücks, die Adorno in seinen Miniaturen riskierte, positivistisch „dingfest” zu machen. Gleichwohl ist es amüsant und lehrreich, die zahme Wildsau namens „Butz” und das seinerzeit berühmte Nilpferd „Lieschen” im Bild zu sehen und einiges über den Tierfreund Adorno zu lesen, der den Zoo liebte, gern unter den Sauriern des Senckenberg-Museums wandelte und sich mit seiner Frau Gretel bei Kosenamen wie „Mastodon” und „Trachodon” rief. Schön auch, wie Pabst das „Weiberregiment” im Hause Wiesengrund-Adorno in Bild und Text beschwört – ein Matriarchat, das neben der Musik am meisten zu Adornos zeitlebens unverlierbaren Erinnerungsglücksschätzen beigetragen hat. (Unser Bild zeigt „Teddie” im Alter von 12 Jahren mit seiner Tante, Agathe Calvelli-Adorno (links), und seiner Mutter, Maria Wiesengrund.) Reinhard Pabsts liebevolle Sammlung schließt mit einem Traumprotokoll Adornos aus dem amerikanischen Exil, in dem ein Höhenweg in der Nähe von Amorbach mit der Westküste Amerikas verschmilzt: „Links in der Tiefe lag der Stille Ozean.”
ff
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2003Wer das Leben hat, hat den Schaden
Kann man nach Adorno noch Biographien über Adorno schreiben? Neue Versuche im Adorno-Jahr
Adornos Vorbehalte gegen die (Genie-)Biographik sind bekannt, aber was die Darstellung seines eigenen Lebens angeht, mag die Aversion gegen das Genre noch gesteigert gewesen sein. Denn der Umstand, ungefragt auf der Welt zu sein, ist ja gerade das Urskandalon seiner kritischen Theorie. Einmal im falschen Leben angekommen, ist der Widerstand gegen seine Obszönitäten das, was übrigbleibt, wenn man ein lebenswertes Leben führen und das heißt: dem Leben entgehen möchte.
Denn obszön ist das Ganze. Wo Adorno geht und steht und fliegt, überall erhascht er die Fratze dieses Ganzen. "Im Fluge erhascht" heißt die kleine Betrachtung, die er nach seiner ersten Flugreise überhaupt, der von San Francisco nach New York, zu Papier bringt. Was hat Adorno dort droben erhascht? Das Wolkenschauspiel, den Geschmack des Bordfrühstücks, die Schweißperlen seiner Flugangst, das Wunder der überlisteten Schwerkraft? Nicht Lebensfacetten solcher Art bannen seinen Blick, sondern der Himmel und Erde verbindende Verblendungszusammenhang, hier: die Abhängigkeit des Passagiers von der Apparatur: "Man tut nichts dazu, ist ganz Gegenstand, sei es eines vom eigenen Willen schlechterdings unabhängigen Vollzugs, sei es der verwaltenden Betreuung." Was Adorno über wie unter den Wolken bemerkt, ist immer nur das eine: daß das Leben ganz Gegenstand ist, vollzogen, verwaltet und betreut. Wer das Leben hat, hat den Schaden. Wer könnte da post natum noch Biographien leben oder schreiben? Wer wollte es nicht bei Reflexionen belassen?
Und samstags guck' ich "Daktari"
Natürlich kann man sagen: Da sind wir heute weiter. Das mit der Negativität geht taomäßig schon in Ordnung. Der negative Pol braucht nicht dialektisch aus den Angeln gehoben zu werden, er darf ruhig verschleiert bleiben, gehört er doch dazu wie Yang zu Yin. Jeder Schleier, den man wegzieht, läßt sowieso nur wieder einen anderen Schleier zum Vorschein kommen. Ja selbst der Entschleierer Freud hat Wert darauf gelegt, die Wunden, in welche Adorno später den Zeigefinger legte, auch einmal unter der positiv gemeinten Vokabel des "Krankheitsgewinns" zu erörtern: Es könne nicht darum gehen, sich dem Leben partout als Hygieniker zu nähern. Man möchte ergänzen: Wer den Schaden hat, weiß wenigstens, wo er dran ist. In diesem Sinne sind Biographien, selber gelebte genauso wie über andere geschriebene, für uns inzwischen das Salz in der Suppe des Lebens. Man hat sich nun einmal entschieden, zu leben (einkaufen zu gehen, zu telefonieren, Kinder zu kriegen, "Vom Winde verweht" zu lesen und so weiter). Deshalb hat man vor lauter Leben keine Zeit mehr für das Ganze.
Auch Adorno hat sich wegen des Ganzen nicht erschossen, sondern schritt wacker die Fluchtwege aus: Er guckte "Daktari" am Samstag, ließ kaum eine Gelegenheit zu einer Affäre aus - seine Frau Gretel wußte Bescheid - und entschied sich im übrigen, dem Ganzen mit Arbeiten über das Ganze zu entkommen. Dabei erfuhr er, wie sein Biograph Detlev Claussen eine Notiz Adornos von 1960 überliefert, in der Praxis durchaus die Erlösung, die er theoretisch für unmöglich hielt: Er fühlte, "wie sehr die Arbeit bei mir ein Rauschmittel ist, das mir über eine sonst fast unerträgliche Schwermut und Einsamkeit hinweghilft".
Viele Wege führen also aus dem Ganzen heraus. Claussen zitiert, das Problem des Biographie-Genres im Auge, einen Brief Adornos an Leo Löwenthal von 1942, eine entschiedene Kritik an der biographischen Massenproduktion. Das Leben selber werde in der Biographie zur Ideologie, insofern "an irgendwelchen Modellen den Menschen demonstriert wird, daß es noch so etwas wie ein Leben gebe". In Wirklichkeit (genauer: in der von Adorno als das Ganze beschriebenen Wirklichkeit) gibt es aber gar kein Leben mehr. Biographieproduktionen sind, so gesehen, Verrat an einem der ältesten Motive der kritischen Theorie: an der Erfahrung des Erfahrungsverlustes.
Wenn man sich fragt, "ob nach Auschwitz noch sich leben lasse" (Adorno), dann, so Claussen, "scheint die Frage nach der Geschichte eines individuellen Lebens, nach einer Biographie geradezu obsolet". Bei Claussen bleiben denn auch in der Tat die Lebensberichte, wie er sie etwa anhand neu erschlossener Korrespondenzen erzählt, stets auf Adornos Texte bezogen. Die Texte sind es, die Claussen "hinter der ins Unendliche angewachsenen Sekundärliteratur wieder im Original hervortreten lassen" will. Daß "im Original" dabei natürlich immer heißt: in Claussens Original, das empfindet man nicht als Schwäche, sondern als Stärke des Buches. Übrigens auch dort, wo man der Deutung nicht folgen mag, beispielsweise wenn die Wucht gewisser Anprangerungen in der "Dialektik der Aufklärung" dem Leser als eine bloß ironische Verve verkauft werden soll. Mit Ironie hatte Adorno nun gerade nicht viel am Hut, sonst hätte er im Fluge anderes erhascht.
Aber es gibt auch Anstößiges bei Claussen. Neben stilistischen Schludrigkeiten und ausufernden Exkursen wie dem über das lange bürgerliche Jahrhundert sind das vor allem die inhaltlichen Überschneidungen zwischen einzelnen Kapiteln seines Buches. Diese Überschneidungen scheinen gewollt, sie sind einer zweifachen Absicht zuzuschreiben. Zum einen soll jedes Kapitel auch für sich gelesen werden können (das ist so löblich wie das Lesebändchen, das aus dem Buch herausbaumelt). Zum anderen will Claussen Adornos Werk, wie er eingangs schreibt, als ein "Palimpsest" interpretieren, als "ein Werk voller Überschneidungen". Um aber Adornos Werk, wie es sich gewiß gehört, als Palimpsest zu interpretieren, dafür allein wäre es nun wirklich nicht nötig gewesen, auch die Biographie als Palimpsest anzulegen.
Als eine echte Dröhnung zum Adorno-Jahr kommt die Biographie von Stefan Müller-Doohm daher, der mit einer task force von DFG-finanzierten Helfern jahrelang alte und neue Schriftquellen sichtete, Interviews führte, Datenbanken fütterte. Bei diesem Buch stechen drei Dinge ins Auge. Erstens: Es ist sehr dick. Zweitens: Es ist sehr artig, hat einen Zug ins Beflissene (man bekommt Adornos Nichtidentisches erklärt wie eine Feuerwehrleiter, ein bißchen nach dem Motto: Also das mit dem Nichtidentischen geht so . . .; die Frage nach den genuin philosophischen und soziologischen Gehalten seiner Essays und Aphorismen bleibt dagegen merkwürdig unscharf). Drittens: Das Buch ist die definitive Quelle für alle, die Dinge der Art wissen wollen, wer die französische Erstübersetzerin des 1961 gehaltenen Vortrags über "Das ontologische Bedürfnis" gewesen ist. Eine unentbehrliche Eckermann-Arbeit also, der man denn auch Pretiosen wie die zitierte Flugzeug-Anekdote entnimmt.
Um so störender fällt auf, wenn bei solcher Materialfülle etwas fehlt. Der Brief vom 27. September 1958, mit dem Horkheimer seitenlang Adorno auseinandersetzt, warum er auf die weitere Mitarbeit von Habermas im Institut für Sozialforschung keinen Wert legt - bei Claussen vollständig dokumentiert -, wird bei Müller-Doohm nur in einer Fußnote kurz erwähnt. So bleibt hier die politische Hypochondrie Horkheimers ebenso unterbelichtet wie eine Willfährigkeit Adornos, der den Brief am Rande zwar mit allerlei "?" versah, dann aber im wesentlichen doch nur sein bekanntes "Genau, Max!" wiederholte.
Der kommt mir nicht ins Haus
In eine Fußnote verpackt Müller-Doohm auch Frau Horkheimers Diktum, die über Adorno sagte, "er sei der ungeheuerlichste Narziß, den die Alte und Neue Welt aufzuweisen hat". Warum bei einer so ausgreifenden Biographie nicht auch ein eigenes Kapitel zum Thema "Aversionen gegen Adorno"? Schließlich ist doch bekannt, daß sich am Charakter Adornos die Geister schieden: Schönberg mochte ihn ebensowenig wie Hannah Arendt, die befand: "Der Mann kommt mir nicht ins Haus, einer der widerlichsten Menschen, die ich kenne". Kracauer schrieb 1958 an Löwenthal, "Teddie" Adornos Dinge seien oft "auf einer hohen Ebene falsch, ausgeleierter Tiefsinn und eine Radikalität, die es sich gutgehen läßt". Der Begriff der Utopie, fügte er zwei Jahre später hinzu, werde "als reiner Grenzbegriff benutzt, der nicht den geringsten Inhalt hat". Er, Kracauer, "kenne kein anderes Beispiel von scheinbar eingreifender Kritik, die so wenig Greifkraft hat". Im selben Sinne äußert sich 1965 auch Horkheimer: "Adorno sagt zu jeder seiner Analysen auch das Gegenteil. Aber trotz dieser auf die Spitze getriebenen Dialektik bleibt das, was er sagt, unwahr. Denn die Wahrheit läßt sich nicht sagen. Und persönlich bleibt er unbeteiligt. Es kommt aber darauf an, das, was man an Wahrheit hat, irgendwie zu realisieren." Was hinter solchen Einwänden oder Ressentiments im einzelnen steckt, in einer Materialgrube von 1032 Seiten möchte man es - biographietheoretisch und philosophisch - frontal erörtert und nicht ornamental neutralisiert finden.
Es gibt ein Interview mit Adorno im "Organ der Deutschen Postgewerkschaft". Da sagte er 1962, daß das, "was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen". Reinhard Pabst hat diese Flaschenpost empfangen und ein zartes biographisches Bildchen gemalt, das Adorno im Ferienparadies seiner Kindheit, im Odenwaldörtchen Amorbach, zeigt. Die ertragreiche Spurensuche reflektiert das Kind im Werk und macht etliche bislang unbekannte Fotos zugänglich. Wir nehmen an, es ist die Biographie, die Adorno autorisiert hätte.
CHRISTIAN GEYER
Detlev Claussen: "Theodor W. Adorno". Ein letztes Genie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 350 S., geb., 22,90 [Euro].
Stefan Müller-Doohm: "Adorno". Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 1032 S., geb., 29,90 [Euro].
Theodor W. Adorno: "Kindheit in Amorbach". Bilder und Erinnerungen. Herausgegeben von Reinhard Pabst. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2003. 250 S., br., 9,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kann man nach Adorno noch Biographien über Adorno schreiben? Neue Versuche im Adorno-Jahr
Adornos Vorbehalte gegen die (Genie-)Biographik sind bekannt, aber was die Darstellung seines eigenen Lebens angeht, mag die Aversion gegen das Genre noch gesteigert gewesen sein. Denn der Umstand, ungefragt auf der Welt zu sein, ist ja gerade das Urskandalon seiner kritischen Theorie. Einmal im falschen Leben angekommen, ist der Widerstand gegen seine Obszönitäten das, was übrigbleibt, wenn man ein lebenswertes Leben führen und das heißt: dem Leben entgehen möchte.
Denn obszön ist das Ganze. Wo Adorno geht und steht und fliegt, überall erhascht er die Fratze dieses Ganzen. "Im Fluge erhascht" heißt die kleine Betrachtung, die er nach seiner ersten Flugreise überhaupt, der von San Francisco nach New York, zu Papier bringt. Was hat Adorno dort droben erhascht? Das Wolkenschauspiel, den Geschmack des Bordfrühstücks, die Schweißperlen seiner Flugangst, das Wunder der überlisteten Schwerkraft? Nicht Lebensfacetten solcher Art bannen seinen Blick, sondern der Himmel und Erde verbindende Verblendungszusammenhang, hier: die Abhängigkeit des Passagiers von der Apparatur: "Man tut nichts dazu, ist ganz Gegenstand, sei es eines vom eigenen Willen schlechterdings unabhängigen Vollzugs, sei es der verwaltenden Betreuung." Was Adorno über wie unter den Wolken bemerkt, ist immer nur das eine: daß das Leben ganz Gegenstand ist, vollzogen, verwaltet und betreut. Wer das Leben hat, hat den Schaden. Wer könnte da post natum noch Biographien leben oder schreiben? Wer wollte es nicht bei Reflexionen belassen?
Und samstags guck' ich "Daktari"
Natürlich kann man sagen: Da sind wir heute weiter. Das mit der Negativität geht taomäßig schon in Ordnung. Der negative Pol braucht nicht dialektisch aus den Angeln gehoben zu werden, er darf ruhig verschleiert bleiben, gehört er doch dazu wie Yang zu Yin. Jeder Schleier, den man wegzieht, läßt sowieso nur wieder einen anderen Schleier zum Vorschein kommen. Ja selbst der Entschleierer Freud hat Wert darauf gelegt, die Wunden, in welche Adorno später den Zeigefinger legte, auch einmal unter der positiv gemeinten Vokabel des "Krankheitsgewinns" zu erörtern: Es könne nicht darum gehen, sich dem Leben partout als Hygieniker zu nähern. Man möchte ergänzen: Wer den Schaden hat, weiß wenigstens, wo er dran ist. In diesem Sinne sind Biographien, selber gelebte genauso wie über andere geschriebene, für uns inzwischen das Salz in der Suppe des Lebens. Man hat sich nun einmal entschieden, zu leben (einkaufen zu gehen, zu telefonieren, Kinder zu kriegen, "Vom Winde verweht" zu lesen und so weiter). Deshalb hat man vor lauter Leben keine Zeit mehr für das Ganze.
Auch Adorno hat sich wegen des Ganzen nicht erschossen, sondern schritt wacker die Fluchtwege aus: Er guckte "Daktari" am Samstag, ließ kaum eine Gelegenheit zu einer Affäre aus - seine Frau Gretel wußte Bescheid - und entschied sich im übrigen, dem Ganzen mit Arbeiten über das Ganze zu entkommen. Dabei erfuhr er, wie sein Biograph Detlev Claussen eine Notiz Adornos von 1960 überliefert, in der Praxis durchaus die Erlösung, die er theoretisch für unmöglich hielt: Er fühlte, "wie sehr die Arbeit bei mir ein Rauschmittel ist, das mir über eine sonst fast unerträgliche Schwermut und Einsamkeit hinweghilft".
Viele Wege führen also aus dem Ganzen heraus. Claussen zitiert, das Problem des Biographie-Genres im Auge, einen Brief Adornos an Leo Löwenthal von 1942, eine entschiedene Kritik an der biographischen Massenproduktion. Das Leben selber werde in der Biographie zur Ideologie, insofern "an irgendwelchen Modellen den Menschen demonstriert wird, daß es noch so etwas wie ein Leben gebe". In Wirklichkeit (genauer: in der von Adorno als das Ganze beschriebenen Wirklichkeit) gibt es aber gar kein Leben mehr. Biographieproduktionen sind, so gesehen, Verrat an einem der ältesten Motive der kritischen Theorie: an der Erfahrung des Erfahrungsverlustes.
Wenn man sich fragt, "ob nach Auschwitz noch sich leben lasse" (Adorno), dann, so Claussen, "scheint die Frage nach der Geschichte eines individuellen Lebens, nach einer Biographie geradezu obsolet". Bei Claussen bleiben denn auch in der Tat die Lebensberichte, wie er sie etwa anhand neu erschlossener Korrespondenzen erzählt, stets auf Adornos Texte bezogen. Die Texte sind es, die Claussen "hinter der ins Unendliche angewachsenen Sekundärliteratur wieder im Original hervortreten lassen" will. Daß "im Original" dabei natürlich immer heißt: in Claussens Original, das empfindet man nicht als Schwäche, sondern als Stärke des Buches. Übrigens auch dort, wo man der Deutung nicht folgen mag, beispielsweise wenn die Wucht gewisser Anprangerungen in der "Dialektik der Aufklärung" dem Leser als eine bloß ironische Verve verkauft werden soll. Mit Ironie hatte Adorno nun gerade nicht viel am Hut, sonst hätte er im Fluge anderes erhascht.
Aber es gibt auch Anstößiges bei Claussen. Neben stilistischen Schludrigkeiten und ausufernden Exkursen wie dem über das lange bürgerliche Jahrhundert sind das vor allem die inhaltlichen Überschneidungen zwischen einzelnen Kapiteln seines Buches. Diese Überschneidungen scheinen gewollt, sie sind einer zweifachen Absicht zuzuschreiben. Zum einen soll jedes Kapitel auch für sich gelesen werden können (das ist so löblich wie das Lesebändchen, das aus dem Buch herausbaumelt). Zum anderen will Claussen Adornos Werk, wie er eingangs schreibt, als ein "Palimpsest" interpretieren, als "ein Werk voller Überschneidungen". Um aber Adornos Werk, wie es sich gewiß gehört, als Palimpsest zu interpretieren, dafür allein wäre es nun wirklich nicht nötig gewesen, auch die Biographie als Palimpsest anzulegen.
Als eine echte Dröhnung zum Adorno-Jahr kommt die Biographie von Stefan Müller-Doohm daher, der mit einer task force von DFG-finanzierten Helfern jahrelang alte und neue Schriftquellen sichtete, Interviews führte, Datenbanken fütterte. Bei diesem Buch stechen drei Dinge ins Auge. Erstens: Es ist sehr dick. Zweitens: Es ist sehr artig, hat einen Zug ins Beflissene (man bekommt Adornos Nichtidentisches erklärt wie eine Feuerwehrleiter, ein bißchen nach dem Motto: Also das mit dem Nichtidentischen geht so . . .; die Frage nach den genuin philosophischen und soziologischen Gehalten seiner Essays und Aphorismen bleibt dagegen merkwürdig unscharf). Drittens: Das Buch ist die definitive Quelle für alle, die Dinge der Art wissen wollen, wer die französische Erstübersetzerin des 1961 gehaltenen Vortrags über "Das ontologische Bedürfnis" gewesen ist. Eine unentbehrliche Eckermann-Arbeit also, der man denn auch Pretiosen wie die zitierte Flugzeug-Anekdote entnimmt.
Um so störender fällt auf, wenn bei solcher Materialfülle etwas fehlt. Der Brief vom 27. September 1958, mit dem Horkheimer seitenlang Adorno auseinandersetzt, warum er auf die weitere Mitarbeit von Habermas im Institut für Sozialforschung keinen Wert legt - bei Claussen vollständig dokumentiert -, wird bei Müller-Doohm nur in einer Fußnote kurz erwähnt. So bleibt hier die politische Hypochondrie Horkheimers ebenso unterbelichtet wie eine Willfährigkeit Adornos, der den Brief am Rande zwar mit allerlei "?" versah, dann aber im wesentlichen doch nur sein bekanntes "Genau, Max!" wiederholte.
Der kommt mir nicht ins Haus
In eine Fußnote verpackt Müller-Doohm auch Frau Horkheimers Diktum, die über Adorno sagte, "er sei der ungeheuerlichste Narziß, den die Alte und Neue Welt aufzuweisen hat". Warum bei einer so ausgreifenden Biographie nicht auch ein eigenes Kapitel zum Thema "Aversionen gegen Adorno"? Schließlich ist doch bekannt, daß sich am Charakter Adornos die Geister schieden: Schönberg mochte ihn ebensowenig wie Hannah Arendt, die befand: "Der Mann kommt mir nicht ins Haus, einer der widerlichsten Menschen, die ich kenne". Kracauer schrieb 1958 an Löwenthal, "Teddie" Adornos Dinge seien oft "auf einer hohen Ebene falsch, ausgeleierter Tiefsinn und eine Radikalität, die es sich gutgehen läßt". Der Begriff der Utopie, fügte er zwei Jahre später hinzu, werde "als reiner Grenzbegriff benutzt, der nicht den geringsten Inhalt hat". Er, Kracauer, "kenne kein anderes Beispiel von scheinbar eingreifender Kritik, die so wenig Greifkraft hat". Im selben Sinne äußert sich 1965 auch Horkheimer: "Adorno sagt zu jeder seiner Analysen auch das Gegenteil. Aber trotz dieser auf die Spitze getriebenen Dialektik bleibt das, was er sagt, unwahr. Denn die Wahrheit läßt sich nicht sagen. Und persönlich bleibt er unbeteiligt. Es kommt aber darauf an, das, was man an Wahrheit hat, irgendwie zu realisieren." Was hinter solchen Einwänden oder Ressentiments im einzelnen steckt, in einer Materialgrube von 1032 Seiten möchte man es - biographietheoretisch und philosophisch - frontal erörtert und nicht ornamental neutralisiert finden.
Es gibt ein Interview mit Adorno im "Organ der Deutschen Postgewerkschaft". Da sagte er 1962, daß das, "was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen". Reinhard Pabst hat diese Flaschenpost empfangen und ein zartes biographisches Bildchen gemalt, das Adorno im Ferienparadies seiner Kindheit, im Odenwaldörtchen Amorbach, zeigt. Die ertragreiche Spurensuche reflektiert das Kind im Werk und macht etliche bislang unbekannte Fotos zugänglich. Wir nehmen an, es ist die Biographie, die Adorno autorisiert hätte.
CHRISTIAN GEYER
Detlev Claussen: "Theodor W. Adorno". Ein letztes Genie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 350 S., geb., 22,90 [Euro].
Stefan Müller-Doohm: "Adorno". Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 1032 S., geb., 29,90 [Euro].
Theodor W. Adorno: "Kindheit in Amorbach". Bilder und Erinnerungen. Herausgegeben von Reinhard Pabst. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2003. 250 S., br., 9,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ulrich Holbein hatte so seine Freude an drei "wunderbar instruktiven" Bildbänden zu Adorno, die seiner Meinung nach alle die Zeit seiner "Nippifizierung" anbrechen lassen: die Bildmonografie "Adorno", ebenso wie "Adorno in Frankfurt" und "Kindheit in Amorbach". Zum hermetischen Theoriewerk geselle sich mit diesen Bänden nunmehr das Triviale, konkrete Körperlichkeit (Adorno in Badehosen, Adorno als Schulanfänger, Adorno eisleckend beim Blondinengucken) weiche die erhabene Geistigkeit auf - ganz ungefragt werde der "theoretische Ästhet" "eingemeindet in alles, was zu überfliegen er sich elitär erdreistete". Holbein gibt sich weder kulturpessimistisch noch hämisch, sondern amüsiert-interessiert, zumal ihn die Qualität der Bildmonographien überaus zufrieden stellt: "Alle drei hochkompetent, perfekt, liebevoll ausgestatteten TWA-Bildmonografien, 800 einander ergänzende Seiten, schießen minuziös zu einem Triptychon-Medaillon zusammen, das den Negationsroutinier Theodor W. Adorno in seltsam versöhnliches Teddie-Licht taucht." Adorno zum Anfassen also, ganz menschlich und nahbar. Bis der kritische Theoretiker zur Samstagabendunterhaltung wird, übt Holbein schon mal ein paar Parolen ein: "Vom Pathos der Distanz zum Nilpferd-Maskottchen aus Speckstein - einmal Teddie, immer Teddie. (...) Philosophieren - jetzt!"
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH