Das Mädchen, dessen Leben Norah Lange vom 6. bis zum 15. Lebensjahr und zwischen herrschaftlichem Landleben und Verarmung in Buenos Aires in 82 stimmungsvollen Schlaglichtern nachzeichnet, dürfte eine der erstaunlichsten Heldinnen der Literatur Argentiniens sein. Mit der offenen Schilderung der Ängste, Zustände und Wünsche des heranwachsenden Mädchens und seiner besonderen, manchmal unheimlichen, manchmal exzentrischen Erfahrungen konstruierte Norah Lange die Kindheit einer Avantgardeautorin: experimentierfreudig, genau beobachtend, vielschichtig und märchenhaft. In ihren Nachworten spüren die Übersetzerin und Lange-Spezialistin Inka Marter und die argentinische Autorin und Aspekte-Preisträgerin María Cecilia Barbetta der Bedeutung dieses Klassikers und seiner bemerkenswerten Autorin nach.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2011Schmetterlingsnymphen, hört her!
Die argentinische Modernistin Norah Lange betört mit filigranen Erinnerungen
"Unterschiedlichen Musen geweihte Zeitgenossen! Reumütige und vereinzelte Menge! Pünktliche und ergebene Menschenwesen! Verehrte Artgenossen! Seerosen, Schwämme, Schmetterlingsnymphen!" So steht es in den "Kindheitsheften" der argentinischen Schriftstellerin Norah Lange. Borges, der weitläufig mit den Langes verwandt war, hätte es nicht schöner sagen können. Und obwohl er Norahs ersten Lyrikband aus dem Jahr 1925 mit seinem damals schon gewichtigen Vorwort einleitete, lobte er daran vor allem die "reine Wirkung" der Dichtung einer Fünfzehnjährigen. Norah Lange war zu diesem Zeitpunkt zwanzig. Und sie war die Muse einer spanischen Avantgarde-Importbewegung namens Ultraísmo.
Langes Stegreifreden in den Salons der Gruppe, heute würde man das Performance nennen, wurden in argentinischen Kunstkreisen legendär. In den Wohnzimmern wohlhabender Gönner wetterte man gleichermaßen gegen Modernismo und Simbolismo und fühlte sich stattdessen dem ästhetischen Programm von Dada und Surrealismus verpflichtet. Was lag da näher, als die Schmetterlingsnymphen und Schwämme dieser Welt von einer rothaarigen Muse anrufen zu lassen, deren Eltern einst aus Norwegen nach Argentinien gelangt waren, um dort ihr Glück zu finden?
Die "Kindheitshefte", erschienen 1937, sind Langes persönlichstes Werk. In einem autofiktionalen Verfahren verarbeitet sie ihre Erinnerungen vom sechsten bis zum vierzehnten Lebensjahr. Am Anfang des Buches, das aus 82 Miniaturen besteht, befindet man sich mit der Familie Lange auf der Reise in die Provinz Mendoza. Die fünf Schwestern und ein kleiner Bruder wachsen auf dem Landsitz der Familie auf, umhegt von Dienstboten, einer englischen Gouvernante und den zärtlich zugeneigten Eltern. Der frühe Tod des Vaters zwingt die Familie einige Jahre darauf zur Rückkehr nach Buenos Aires. Ohne Einkommen lebt sie nun von ein paar Weinstöcken in Mendoza und beherbergt zur Aufbesserung der Haushaltskasse die wohlhabende Verwandtschaft aus Europa. Norahs Tante war mit dem Onkel von Jorge Luis Borges verheiratet. So lag es nah, dass sich die Familie bald zum Treffpunkt der jungen argentinischen Literaturszene entwickelte.
Norah Lange machte in diesem Zusammenhang vor allem als exzentrische Gastgeberin von sich reden. Umso erstaunlicher: In ihren "Kindheitsheften" zeigt sie sich von ungewohnt zurückhaltender Seite. Es sind nicht die von nachträglicher Bedeutung beschwerten Erinnerungen einer Erwachsenen, sondern die mal phantastischen, mal kristallklaren Wahrnehmungen einer Heranwachsenden.
Man ahnt, dass hier Rückschau und Fabulierlust eine glückliche Verbindung eingehen. Das war auch noch Teil der surrealistischen Programmatik von 1937. Man muss sich deshalb den wunderbaren Schluss der "Kindheitshefte" auch als ästhetische Initiation denken. Der Gärtner im Hause Lange besaß ungewöhnlich große Hände und hatte die Angewohnheit, die Schwestern zur Begrüßung mit seinem "unwahrscheinlichen" Mittelfinger an der Schulter zu stupsen. Aber eines Tages bleibt der unvermeidliche Stupser aus. Stattdessen zeigt der Gärtner mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf eine kleine und fast unmerklich erwachsen gewordene Person. "Reglos stand ich vor ihm, und ein Gefühl der Leere spitzte sich langsam in mir zu. Es schien mir, dass ich mich von dem entfernte, was ich bis zu diesem Augenblick gewesen war, und dass dieser Finger, wie er sich so in meine Richtung ausstreckte, mir etwas Unbekanntes zeigte, in das ich Schritt für Schritt vordringen würde."
Was danach im Leben der echten Norah Lange folgt, ist nicht die blütenreine Dichtung einer Fünfzehnjährigen, sondern Ausdruck einer fabelhaften Begabung. Norah Lange muss man künftig nicht mehr auf dem Parnass der Musen suchen. Man findet sie in ihren Büchern.
KATHARINA TEUTSCH
Norah Lange: "Kindheitshefte".
Aus dem Spanischen von Inka Marter. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2010. 230 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die argentinische Modernistin Norah Lange betört mit filigranen Erinnerungen
"Unterschiedlichen Musen geweihte Zeitgenossen! Reumütige und vereinzelte Menge! Pünktliche und ergebene Menschenwesen! Verehrte Artgenossen! Seerosen, Schwämme, Schmetterlingsnymphen!" So steht es in den "Kindheitsheften" der argentinischen Schriftstellerin Norah Lange. Borges, der weitläufig mit den Langes verwandt war, hätte es nicht schöner sagen können. Und obwohl er Norahs ersten Lyrikband aus dem Jahr 1925 mit seinem damals schon gewichtigen Vorwort einleitete, lobte er daran vor allem die "reine Wirkung" der Dichtung einer Fünfzehnjährigen. Norah Lange war zu diesem Zeitpunkt zwanzig. Und sie war die Muse einer spanischen Avantgarde-Importbewegung namens Ultraísmo.
Langes Stegreifreden in den Salons der Gruppe, heute würde man das Performance nennen, wurden in argentinischen Kunstkreisen legendär. In den Wohnzimmern wohlhabender Gönner wetterte man gleichermaßen gegen Modernismo und Simbolismo und fühlte sich stattdessen dem ästhetischen Programm von Dada und Surrealismus verpflichtet. Was lag da näher, als die Schmetterlingsnymphen und Schwämme dieser Welt von einer rothaarigen Muse anrufen zu lassen, deren Eltern einst aus Norwegen nach Argentinien gelangt waren, um dort ihr Glück zu finden?
Die "Kindheitshefte", erschienen 1937, sind Langes persönlichstes Werk. In einem autofiktionalen Verfahren verarbeitet sie ihre Erinnerungen vom sechsten bis zum vierzehnten Lebensjahr. Am Anfang des Buches, das aus 82 Miniaturen besteht, befindet man sich mit der Familie Lange auf der Reise in die Provinz Mendoza. Die fünf Schwestern und ein kleiner Bruder wachsen auf dem Landsitz der Familie auf, umhegt von Dienstboten, einer englischen Gouvernante und den zärtlich zugeneigten Eltern. Der frühe Tod des Vaters zwingt die Familie einige Jahre darauf zur Rückkehr nach Buenos Aires. Ohne Einkommen lebt sie nun von ein paar Weinstöcken in Mendoza und beherbergt zur Aufbesserung der Haushaltskasse die wohlhabende Verwandtschaft aus Europa. Norahs Tante war mit dem Onkel von Jorge Luis Borges verheiratet. So lag es nah, dass sich die Familie bald zum Treffpunkt der jungen argentinischen Literaturszene entwickelte.
Norah Lange machte in diesem Zusammenhang vor allem als exzentrische Gastgeberin von sich reden. Umso erstaunlicher: In ihren "Kindheitsheften" zeigt sie sich von ungewohnt zurückhaltender Seite. Es sind nicht die von nachträglicher Bedeutung beschwerten Erinnerungen einer Erwachsenen, sondern die mal phantastischen, mal kristallklaren Wahrnehmungen einer Heranwachsenden.
Man ahnt, dass hier Rückschau und Fabulierlust eine glückliche Verbindung eingehen. Das war auch noch Teil der surrealistischen Programmatik von 1937. Man muss sich deshalb den wunderbaren Schluss der "Kindheitshefte" auch als ästhetische Initiation denken. Der Gärtner im Hause Lange besaß ungewöhnlich große Hände und hatte die Angewohnheit, die Schwestern zur Begrüßung mit seinem "unwahrscheinlichen" Mittelfinger an der Schulter zu stupsen. Aber eines Tages bleibt der unvermeidliche Stupser aus. Stattdessen zeigt der Gärtner mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf eine kleine und fast unmerklich erwachsen gewordene Person. "Reglos stand ich vor ihm, und ein Gefühl der Leere spitzte sich langsam in mir zu. Es schien mir, dass ich mich von dem entfernte, was ich bis zu diesem Augenblick gewesen war, und dass dieser Finger, wie er sich so in meine Richtung ausstreckte, mir etwas Unbekanntes zeigte, in das ich Schritt für Schritt vordringen würde."
Was danach im Leben der echten Norah Lange folgt, ist nicht die blütenreine Dichtung einer Fünfzehnjährigen, sondern Ausdruck einer fabelhaften Begabung. Norah Lange muss man künftig nicht mehr auf dem Parnass der Musen suchen. Man findet sie in ihren Büchern.
KATHARINA TEUTSCH
Norah Lange: "Kindheitshefte".
Aus dem Spanischen von Inka Marter. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2010. 230 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Katharina Teutsch entdeckt in den 82 Prosaminiaturen der "Kindheitshefte" von 1937 eine andere, zurückhaltendere Norah Lange als die "exzentrische" und schillernde argentinische Literatin, die schon von Borges hochgelobt wurde, und ist bezaubert. Es sind die zwischen fantastischen Einfällen und Beobachtungsgabe changierenden Eindrücke einer Heranwachsenden gepaart mit der Erzählfreude, die sie später berühmt gemacht hat, stellt die Rezensentin fest. Die Autorin stützt sich hier auf Autobiografisches, so Teutsch, der vor allem gefällt, dass Lange ihre Erinnerungen nicht im Nachhinein als Erwachsene korrigiert oder mit zusätzlicher "Bedeutung" aufwertet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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