Als Cassius Clay stieg der Junge aus Louisville in den Ring der Welt, als Muhammad Ali wurde er zum bekanntesten Mann des Planeten, ein alles überragender Athlet und Entertainer. Er veränderte die Welt des Sports von Grund auf. Er war ein Spiegel seiner Zeit, ein geniales Großmaul, ein Mythos, Symbolfigur und Leitwolf in den Rassenunruhen der sechziger Jahre. David Remnick zeichnet detailreich, spannend, luzide und elegant das meisterhafte Porträt des King of the World.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000Keine fest gefügten Vorurteile in der Nähe des Rings
David Remnicks Stil kann nicht mehr eleganter werden: Nur das "Rope-a-dope" überlässt er Cassius Clay / Von Jürgen Kaube
Zwei Anlässe ließen Eltern einst ihre Kinder nachts aus den Betten vor den Fernseher holen: die Mondlandung und die Kämpfe Muhammad Alis. Ali reicht insofern als erster Boxer von weltweiter, generationen- und interessenübergreifender Bekanntheit in seiner Bedeutung über den Boxsport hinaus. Er wurde als Großmaul bekannt, das von sich selbst sagte, er sei der Größte, und dennoch gewann. Als erster bewies er, was danach offenkundig schien: dass man im Ring nicht nur auf den Gegner zu- oder von ihm weg-, sondern auch um ihn herumlaufen kann. Nachdem Sonny Liston das nicht schnell genug begriff und das Großmaul Weltmeister war, änderte - ungewöhnlich für einen Angeber - Cassius Marcellus Clay den Namen, um seine Zugehörigkeit zum afroamerikanischen Islam zu demonstrieren. Er er sich zum schwarzen Separatismus. Aus Widerstand gegen den Vietnamkrieg - "Ich hab keinen Streit mit dem Vietcong" - verzichtete er auf den Titel im Schwergewicht, ging 1967 ins Gefängnis, kam im Oktober 1970 wieder heraus und gewann als einziger Kämpfer den Weltmeistertitel zweimal zurück.
Dieser Boxer, der also mehr als ein Boxer war, stellt ein doppeltes Risiko für Sportessayisten dar. Ali zu beschreiben ist ein eigenes Genre. Entweder ist ein Buch überflüssig, weil schon jeder Aspekt seiner Karriere ausgeleuchtet wurde. Oder der Autor erliegt der Verführung, aus Figur und Stil Alis die Lizenz zu sozialphilosophischem Tiefsinn zu entnehmen, schreibt, um überhaupt etwas Neues zu sagen, in sein Boxen eine ganze Welt hinein. Da boxt dann leicht das Leben oder die Gesellschaft selbst, und der Essayist genießt, anstatt beim Sport zu bleiben, seine Fähigkeit, im denkbar Einfachen - zwei Männer versuchen, einander ins Gesicht zu schlagen - tausend Analogien zu Religion und Kunst und Postfordismus zu entdecken.
Das großartige Buch von David Remnick über Cassius Clay, der Muhammad Ali wurde, vermeidet beides. Es ist nüchtern, enthält sich geschwollener Sinndeutung, ohne doch auf Thesen zu verzichten; und es ist nicht überflüssig, weil es sich ganz auf das entschwundene Boxmilieu der frühen sechziger Jahre konzentriert, in dem Alis Art, Kämpfe zu führen, einen Unterschied machte. Remnick erzählt, wie es war, als wir Ali noch nicht kannten, weil er erst dabei war, sich zu erfinden.
In jenen Jahren gab es zwei Seiten des Boxsports. Remnick sieht sie in Floyd Patterson und Sonny Liston verkörpert. Beide boten ein Karrieremodell für Angehörige der schwarzen Unterschicht. Patterson war der zurückhaltende, von Selbstzweifeln belastete Boxer, der den Kampf als prekäre Chance empfand, sich in einer von Weißen beherrschten Kultur zu bewähren. Er boxte ohne Wut, traute seinen Siegen nicht und vergrub sich in jenen Ängsten, die zu haben jeder Boxer allen Grund besitzt. Ein Reporter nannte ihn Freud Patterson.
Liston stand für die Seite des Boxens, die an die Unterwelt grenzt. Den Sport lernte er im Gefängnis, wo er wegen Raubüberfällen einsaß. Der Kraftboxer Liston kam unter die Aufsicht des Mörders John "Frank" Carbo, der am Wettgeschäft verdiente, Kämpfe und ihren Ausgang arrangierte, den Journalisten Umschläge auf ihre Plätze legen ließ, widersätzliche Boxer oder Trainer drangsalierte. Liston drosch Patterson zweimal in zwei Minuten k. o. "Endlich", schrieb ein Kolumnist, "haben wir einen Champion, der das moralische Niveau der Männer besitzt, die über ihn verfügen." Cassius Clay hebt diese Unterscheidung zwischen dem braven und dem bösen Schwarzen auf. Brav ist er nicht. Er reist zum Trainingslager Listons, als dieser sich auf Patterson vorbereitet, und pöbelt ihn vor der einbestellten Presse an. Er teilt lyrische Tiefstschläge aus - "this guy must be done, I'll stop him in one". Beim Wiegen markiert er hysterische Anfälle. Aber böse ist er auch nicht. Er kommt nicht aus den Unterschichten, was in den Südstaaten hieß: Er hatte in seiner Kindheit regelmäßig zu essen. Er saß nicht vor seiner Boxkarriere wegen eines Verbrechens im Gefängnis, sondern nach der Weltmeisterschaft aus Protest. Und er war der erste Weltmeister ganz außerhalb des mafiosen Umkreises. Nicht untypisch, dass er zum Boxen durch einen Polizisten fand, bei dem er einen Fahrraddiebstahl anzeigte.
Clay war vielleicht der erste große Boxer, dessen Physiognomie nicht vom Leiden bestimmt war. Er war lebhaft, aufgekratzt. Nicht brav, nicht böse, aber verrückt, schlossen die Reporter. Remnick zeigt, dass genau dies beabsichtigt war. Auch die Gegner sollten glauben, sie hätten es mit einem Irren zu tun. Der als brutal geschmähte Liston suchte durch Boxen Respekt, und darum verweigerte Clay ihm den. Sein Geschwätz war Spaß und Strategie. Dass viele wollten, dem vorlauten Neger möge das Maul gestopft werden, wurde als Stimmungsfaktor des Kampfes genutzt; die Gegner wurden mittels einer Theatralisierung des Sports überfordert.
Das Überraschende dieser Strategie lag nicht nur in ihrer Frechheit. Joyce Carol Oates hält in ihrem unübertroffenen Essay "On Boxing" fest, man "spiele" nicht Boxen. Clay führte Spielelemente ein, weil er vor allem eins sein wollte: nicht auszurechnen. Er demonstrierte, wie wenig professionell die Lebensweise seiner Vorgänger war, indem sie im Boxen das Schicksal suchten, ihr Leben zu sehr mit dem Kampf verquickten, anstatt es ganz auf ihn auszurichten. Exakt schildert Remnick die organisatorischen Aspekte: das Syndikat, das Clays Kämpfe vorfinanzierte, die verschiedenen Arten, ein Trainingslager zu beziehen, zu trainieren, Pressekonferenzen zu halten.
Über die Genauigkeit der Beschreibungen von Milieu und Kämpfen hinaus sind es zwei Punkte, die an diesem Buch bestechen. Es zeigt, dass Boxer mehr als alle anderen Sportler eines Stützkontextes bedürfen, in dem sie Antworten auf die Frage finden, was sie da tun. Muhammad Ali fand ihn in der rebellischen Variante des schwarzen Protests, den Gnostizismen der "Nation of Islam", die ihm als eine Religion der Stärke plausibel war, in der zeitweiligen Freundschaft mit Malcolm X. Zum anderen weiß Remnick, einst Sportreporter der "Washington Post", dass die Geschichte des Boxens auch die Geschichte seiner Beschreibung ist. Es sind die ganz rhetorischen und die ganz unrhetorischen Sportarten, welche die engste Verbindung mit dem Journalismus eingehen - Baseball und Cricket auf der einen, Boxen und Radfahren auf der anderen Seite. Ali war der erste Boxer, der das nutzte. Weil Remnick den Sportjournalismus genau so aufmerksam studiert hat wie das Boxen, gelingt ihm eine vollkommen durchtrainierte, raffinierte, treffsichere Darstellung. Wäre es 1969 und dies die Boxkolumne des "New York Journal-American", könnte man sagen: eine Mondlandung der Sportpublizistik.
David Remnick: "King of the World". Der Aufstieg des Cassius Clay oder Die Geburt des Muhammad Ali. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Berlin Verlag, Berlin 2000. 494 S., 18 Abb., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
David Remnicks Stil kann nicht mehr eleganter werden: Nur das "Rope-a-dope" überlässt er Cassius Clay / Von Jürgen Kaube
Zwei Anlässe ließen Eltern einst ihre Kinder nachts aus den Betten vor den Fernseher holen: die Mondlandung und die Kämpfe Muhammad Alis. Ali reicht insofern als erster Boxer von weltweiter, generationen- und interessenübergreifender Bekanntheit in seiner Bedeutung über den Boxsport hinaus. Er wurde als Großmaul bekannt, das von sich selbst sagte, er sei der Größte, und dennoch gewann. Als erster bewies er, was danach offenkundig schien: dass man im Ring nicht nur auf den Gegner zu- oder von ihm weg-, sondern auch um ihn herumlaufen kann. Nachdem Sonny Liston das nicht schnell genug begriff und das Großmaul Weltmeister war, änderte - ungewöhnlich für einen Angeber - Cassius Marcellus Clay den Namen, um seine Zugehörigkeit zum afroamerikanischen Islam zu demonstrieren. Er er sich zum schwarzen Separatismus. Aus Widerstand gegen den Vietnamkrieg - "Ich hab keinen Streit mit dem Vietcong" - verzichtete er auf den Titel im Schwergewicht, ging 1967 ins Gefängnis, kam im Oktober 1970 wieder heraus und gewann als einziger Kämpfer den Weltmeistertitel zweimal zurück.
Dieser Boxer, der also mehr als ein Boxer war, stellt ein doppeltes Risiko für Sportessayisten dar. Ali zu beschreiben ist ein eigenes Genre. Entweder ist ein Buch überflüssig, weil schon jeder Aspekt seiner Karriere ausgeleuchtet wurde. Oder der Autor erliegt der Verführung, aus Figur und Stil Alis die Lizenz zu sozialphilosophischem Tiefsinn zu entnehmen, schreibt, um überhaupt etwas Neues zu sagen, in sein Boxen eine ganze Welt hinein. Da boxt dann leicht das Leben oder die Gesellschaft selbst, und der Essayist genießt, anstatt beim Sport zu bleiben, seine Fähigkeit, im denkbar Einfachen - zwei Männer versuchen, einander ins Gesicht zu schlagen - tausend Analogien zu Religion und Kunst und Postfordismus zu entdecken.
Das großartige Buch von David Remnick über Cassius Clay, der Muhammad Ali wurde, vermeidet beides. Es ist nüchtern, enthält sich geschwollener Sinndeutung, ohne doch auf Thesen zu verzichten; und es ist nicht überflüssig, weil es sich ganz auf das entschwundene Boxmilieu der frühen sechziger Jahre konzentriert, in dem Alis Art, Kämpfe zu führen, einen Unterschied machte. Remnick erzählt, wie es war, als wir Ali noch nicht kannten, weil er erst dabei war, sich zu erfinden.
In jenen Jahren gab es zwei Seiten des Boxsports. Remnick sieht sie in Floyd Patterson und Sonny Liston verkörpert. Beide boten ein Karrieremodell für Angehörige der schwarzen Unterschicht. Patterson war der zurückhaltende, von Selbstzweifeln belastete Boxer, der den Kampf als prekäre Chance empfand, sich in einer von Weißen beherrschten Kultur zu bewähren. Er boxte ohne Wut, traute seinen Siegen nicht und vergrub sich in jenen Ängsten, die zu haben jeder Boxer allen Grund besitzt. Ein Reporter nannte ihn Freud Patterson.
Liston stand für die Seite des Boxens, die an die Unterwelt grenzt. Den Sport lernte er im Gefängnis, wo er wegen Raubüberfällen einsaß. Der Kraftboxer Liston kam unter die Aufsicht des Mörders John "Frank" Carbo, der am Wettgeschäft verdiente, Kämpfe und ihren Ausgang arrangierte, den Journalisten Umschläge auf ihre Plätze legen ließ, widersätzliche Boxer oder Trainer drangsalierte. Liston drosch Patterson zweimal in zwei Minuten k. o. "Endlich", schrieb ein Kolumnist, "haben wir einen Champion, der das moralische Niveau der Männer besitzt, die über ihn verfügen." Cassius Clay hebt diese Unterscheidung zwischen dem braven und dem bösen Schwarzen auf. Brav ist er nicht. Er reist zum Trainingslager Listons, als dieser sich auf Patterson vorbereitet, und pöbelt ihn vor der einbestellten Presse an. Er teilt lyrische Tiefstschläge aus - "this guy must be done, I'll stop him in one". Beim Wiegen markiert er hysterische Anfälle. Aber böse ist er auch nicht. Er kommt nicht aus den Unterschichten, was in den Südstaaten hieß: Er hatte in seiner Kindheit regelmäßig zu essen. Er saß nicht vor seiner Boxkarriere wegen eines Verbrechens im Gefängnis, sondern nach der Weltmeisterschaft aus Protest. Und er war der erste Weltmeister ganz außerhalb des mafiosen Umkreises. Nicht untypisch, dass er zum Boxen durch einen Polizisten fand, bei dem er einen Fahrraddiebstahl anzeigte.
Clay war vielleicht der erste große Boxer, dessen Physiognomie nicht vom Leiden bestimmt war. Er war lebhaft, aufgekratzt. Nicht brav, nicht böse, aber verrückt, schlossen die Reporter. Remnick zeigt, dass genau dies beabsichtigt war. Auch die Gegner sollten glauben, sie hätten es mit einem Irren zu tun. Der als brutal geschmähte Liston suchte durch Boxen Respekt, und darum verweigerte Clay ihm den. Sein Geschwätz war Spaß und Strategie. Dass viele wollten, dem vorlauten Neger möge das Maul gestopft werden, wurde als Stimmungsfaktor des Kampfes genutzt; die Gegner wurden mittels einer Theatralisierung des Sports überfordert.
Das Überraschende dieser Strategie lag nicht nur in ihrer Frechheit. Joyce Carol Oates hält in ihrem unübertroffenen Essay "On Boxing" fest, man "spiele" nicht Boxen. Clay führte Spielelemente ein, weil er vor allem eins sein wollte: nicht auszurechnen. Er demonstrierte, wie wenig professionell die Lebensweise seiner Vorgänger war, indem sie im Boxen das Schicksal suchten, ihr Leben zu sehr mit dem Kampf verquickten, anstatt es ganz auf ihn auszurichten. Exakt schildert Remnick die organisatorischen Aspekte: das Syndikat, das Clays Kämpfe vorfinanzierte, die verschiedenen Arten, ein Trainingslager zu beziehen, zu trainieren, Pressekonferenzen zu halten.
Über die Genauigkeit der Beschreibungen von Milieu und Kämpfen hinaus sind es zwei Punkte, die an diesem Buch bestechen. Es zeigt, dass Boxer mehr als alle anderen Sportler eines Stützkontextes bedürfen, in dem sie Antworten auf die Frage finden, was sie da tun. Muhammad Ali fand ihn in der rebellischen Variante des schwarzen Protests, den Gnostizismen der "Nation of Islam", die ihm als eine Religion der Stärke plausibel war, in der zeitweiligen Freundschaft mit Malcolm X. Zum anderen weiß Remnick, einst Sportreporter der "Washington Post", dass die Geschichte des Boxens auch die Geschichte seiner Beschreibung ist. Es sind die ganz rhetorischen und die ganz unrhetorischen Sportarten, welche die engste Verbindung mit dem Journalismus eingehen - Baseball und Cricket auf der einen, Boxen und Radfahren auf der anderen Seite. Ali war der erste Boxer, der das nutzte. Weil Remnick den Sportjournalismus genau so aufmerksam studiert hat wie das Boxen, gelingt ihm eine vollkommen durchtrainierte, raffinierte, treffsichere Darstellung. Wäre es 1969 und dies die Boxkolumne des "New York Journal-American", könnte man sagen: eine Mondlandung der Sportpublizistik.
David Remnick: "King of the World". Der Aufstieg des Cassius Clay oder Die Geburt des Muhammad Ali. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Berlin Verlag, Berlin 2000. 494 S., 18 Abb., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2000Langsame Gitarre, Trompete und ein Gong
David Remnick über den Boxer Muhammad Ali – mehr als nur eine Biografie
Wenn jemand ein mehr als 400-seitiges Buch über Muhammad Ali verfasst, das sich hauptsächlich um die Kämpfe mit dem damaligen Schwergewichts-Weltmeister Sonny Liston dreht, und diese finden erst im letzten Drittel des Buches statt, dann schreibt der Autor entweder in Zeitlupe - oder er hat eine Menge zu erzählen, was über den bloßen Sport hinausgeht. In der Tat ist King of the World mehr als nur eine Sportlerbiografie, sondern eher eine Sozialgeschichte der USA in den Sechzigern, jener Zeit, in der Amerika aus den verschiedensten Gründen in den Seilen hing. Geschrieben hat das Buch David Remnick, Chefredakteur des New Yorker, der durchaus von einer Liebe zum Boxen getrieben wurde, aber klug genug ist, sich nicht mit den zahllosen Poeten messen zu wollen, die schon dem Sport ihre Reverenz erwiesen haben.
Er geht nicht in den Clinch mit dem Mann Ali, will nicht Blut, Schweiß und Tränen, sondern nimmt sich ein Beispiel an seinem Gegenstand, hält Abstand, umkreist das Gegenüber, betreibt Fußarbeit. Er blickt aus verschiedenen Perspektiven auf seinen Helden – und tatsächlich ergibt sich aus jedem Blickwinkel ein eigenes Bild: Ali als Boxer, als Schwarzer, als Moslem, als Showman, als Kriegsdienstverweigerer. So ist Ali nur die Folie, vor der das Porträt eines Landes entsteht, das sich im Umbruch befindet. Natürlich fängt auch Remnick mit dem Ali heute an, jenem von der Parkinsonschen Krankheit gezeichneten „Krieger, der paradoxerweise letztlich die Liebe verkörperte”, der Legende, die nur noch Fotos oder Boxhandschuhe signiert, häufig mitten im Gespräch einschläft und ansonsten Videos von den einstigen Kämpfen ansieht. Da kann es dann passieren, dass er angesichts der Bilder von Jugend, Selbstbewusstsein und Unbesiegbarkeit die Hand hebt, die Finger wie Vogelflügel flattern lässt und sagt: „Die Zeit verfliegt. Fliegt. Fliegt. Sie fliegt davon. ”
Welche Zeit da verflogen ist und welche Rolle Ali in ihr spielte, beschreibt Remnick, indem er die alten Gegner in den Ring holt und zeigt, dass dabei keineswegs nur zwei Männer mit Fäusten aufeinander trafen, sondern verschiedene Bilder, Vorstellungen, Ideen, Traditionen. Rassentrennung, Mafia, Vietnamkrieg, Showbusiness. All das wird verhandelt – und Remnick macht den Ringrichter. Da gibt es zum Beispiel die schwarzen Boxer Floyd Patterson und Sonny Liston, die in den frühen Sechzigern zweimal gegeneinander kämpften, „guter Neger gegen bösen Neger”, der eine ein braver Kämpfer für Bürgerrechte, der andere ein vorbestrafter Schläger. Floyd Patterson wurde auch gerne Freud Patterson genannt, weil er der erste Boxer war, der freimütig von seiner Angst sprach, und weil ihm Niederlagen so zusetzten, dass er sich oft wochenlang verkroch. „Es ist kein schlimmes Gefühl, wenn du ausgeknockt wirst”, sagte er einmal, „Eigentlich ist es ein schönes Gefühl. Es tut nicht weh, du bist nur so unglaublich groggy. Du siehst keine Engel oder Sternchen; du bist auf einer angenehmen Wolke . . . Doch dann vergeht dieses schöne Gefühl. Du erkennst, wo du bist und was du da machst und was gerade mit dir passiert ist. Und dann folgt der Schmerz . . .”
Diese Einsichten hatten einen guten Grund, denn Patterson wurde zweimal von Liston in kürzester Zeit übel verprügelt. Der wiederum musste nicht ganz ohne sein Zutun die Rolle des wilden Tieres spielen, des unterbelichteten Wilden. James Baldwin drückte es etwas anders aus und hielt Liston für „sprachlos auf eine bestimmte Negerart – er hat eine lange Geschichte zu erzählen, die aber niemand hören will”. Liston selbst sagte mal: „Irgendwann schreibt einer mal einen Bluessong nur für Boxer: für langsame Gitarre, leise Trompete und einen Gong. ” Das war aber nach den Kämpfen gegen Patterson, zu denen so viele Intellektuelle sich versammelt hatten, dass sie „vor eine Schreibmaschine gesetzt, eine Ausgabe der Paris Review in 42 Minuten hätten produzieren können”. Neben Baldwin, Budd Schulberg und Ben Hecht war auch Norman Mailer dabei, der allen auf den Wecker ging und mit seiner großmäuligen Art sogar Liston auf die Palme brachte. Sie alle setzten auf jene Kontraste zwischen den Boxern, die die weißen Stereotypen vom schwarzen Mann bedienten.
Es musste erst Ali kommen, der die Vorurteile aushebelte. Ein Großmaul, das seinen eigenen Rap erfand, ein Kerl, der die Gesetze des Entertainments begriffen hatte, ein Boxer, der Kraft mit Beweglichkeit kombinierte. Vor dem Kampf gegen Liston tönte er: „Ich schick den großen häßlichen Bären auf die Bretter, und nach dem Kampf bau ich mir ein hübsches Haus und nehm ihn als Bärenfell. Liston riecht sogar wie ein Bär. Wenn ich ihn verhauen hab, spende ich ihn dem Zoo hier. ” Und Liston fiel darauf herein, hielt ihn für einen Verrückten, nahm ihn nicht ernst – und wurde zweimal verdroschen.
Der Rest ist Geschichte. Die Geschichte eines Mannes, der das Boxen seiner Vollendung zugeführt hat – und seinem Untergang. Er hat aus dem Sport eine Show gemacht, die dazu geführt hat, dass Boxen heute ein Spektakel ist wie die Tigernummern von Siegfried und Roy. Aber davon erzählt Remnick nur im Epilog. Am Tag nach seinem ersten Sieg gegen Liston wurde aus Cassius Clay jedenfalls Muhammad Ali – und Remnick schlägt ein weiteres Kapitel auf, wie Elijah Muhammad und Malcolm X um Alis Seele kämpfen, wie die Gemäßigten und Radikalen ihn vor den Karren zu spannen versuchen, und wie sich Ali instrumentalisieren lässt und sich allen letztlich auf seine Weise entzog.
Er hat in all den Wirren sein Seelenheil gefunden – auch wenn er sein körperliches Heil wie all die anderen geopfert hat. Er war zu gut, um zum rechten Zeitpunkt aufzuhören. Keiner hat das so gut beschrieben wie Liston, der wusste, wovon er sprach: „Siehst du, die verschiedenen Teile des Gehirns sitzen in kleinen Bechern. Wenn du einen schlimmen Treffer kriegst, flutscht das Gehirn aus den Bechern – plopp! –, und du bist k.o. Dann geht das Gehirn wieder in die Becher zurück, und du kommst zu dir. Wenn das aber oft genug passiert, wenn der Schlag hart genug ist, geht das Gehirn nicht wieder richtig in die Becher zurück, und dann braucht man andere Leute, die einem durchs Leben helfen. ” So ist das. Eine langsame Gitarre, eine leise Trompete und ein Gong!
MICHAEL ALTHEN
DAVID REMNICK: King of the World. Der Aufstieg des Cassius Clay oder die Geburt des Muhammad Ali. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Berlin Verlag 2000. 494 Seiten, 44 Mark.
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David Remnick über den Boxer Muhammad Ali – mehr als nur eine Biografie
Wenn jemand ein mehr als 400-seitiges Buch über Muhammad Ali verfasst, das sich hauptsächlich um die Kämpfe mit dem damaligen Schwergewichts-Weltmeister Sonny Liston dreht, und diese finden erst im letzten Drittel des Buches statt, dann schreibt der Autor entweder in Zeitlupe - oder er hat eine Menge zu erzählen, was über den bloßen Sport hinausgeht. In der Tat ist King of the World mehr als nur eine Sportlerbiografie, sondern eher eine Sozialgeschichte der USA in den Sechzigern, jener Zeit, in der Amerika aus den verschiedensten Gründen in den Seilen hing. Geschrieben hat das Buch David Remnick, Chefredakteur des New Yorker, der durchaus von einer Liebe zum Boxen getrieben wurde, aber klug genug ist, sich nicht mit den zahllosen Poeten messen zu wollen, die schon dem Sport ihre Reverenz erwiesen haben.
Er geht nicht in den Clinch mit dem Mann Ali, will nicht Blut, Schweiß und Tränen, sondern nimmt sich ein Beispiel an seinem Gegenstand, hält Abstand, umkreist das Gegenüber, betreibt Fußarbeit. Er blickt aus verschiedenen Perspektiven auf seinen Helden – und tatsächlich ergibt sich aus jedem Blickwinkel ein eigenes Bild: Ali als Boxer, als Schwarzer, als Moslem, als Showman, als Kriegsdienstverweigerer. So ist Ali nur die Folie, vor der das Porträt eines Landes entsteht, das sich im Umbruch befindet. Natürlich fängt auch Remnick mit dem Ali heute an, jenem von der Parkinsonschen Krankheit gezeichneten „Krieger, der paradoxerweise letztlich die Liebe verkörperte”, der Legende, die nur noch Fotos oder Boxhandschuhe signiert, häufig mitten im Gespräch einschläft und ansonsten Videos von den einstigen Kämpfen ansieht. Da kann es dann passieren, dass er angesichts der Bilder von Jugend, Selbstbewusstsein und Unbesiegbarkeit die Hand hebt, die Finger wie Vogelflügel flattern lässt und sagt: „Die Zeit verfliegt. Fliegt. Fliegt. Sie fliegt davon. ”
Welche Zeit da verflogen ist und welche Rolle Ali in ihr spielte, beschreibt Remnick, indem er die alten Gegner in den Ring holt und zeigt, dass dabei keineswegs nur zwei Männer mit Fäusten aufeinander trafen, sondern verschiedene Bilder, Vorstellungen, Ideen, Traditionen. Rassentrennung, Mafia, Vietnamkrieg, Showbusiness. All das wird verhandelt – und Remnick macht den Ringrichter. Da gibt es zum Beispiel die schwarzen Boxer Floyd Patterson und Sonny Liston, die in den frühen Sechzigern zweimal gegeneinander kämpften, „guter Neger gegen bösen Neger”, der eine ein braver Kämpfer für Bürgerrechte, der andere ein vorbestrafter Schläger. Floyd Patterson wurde auch gerne Freud Patterson genannt, weil er der erste Boxer war, der freimütig von seiner Angst sprach, und weil ihm Niederlagen so zusetzten, dass er sich oft wochenlang verkroch. „Es ist kein schlimmes Gefühl, wenn du ausgeknockt wirst”, sagte er einmal, „Eigentlich ist es ein schönes Gefühl. Es tut nicht weh, du bist nur so unglaublich groggy. Du siehst keine Engel oder Sternchen; du bist auf einer angenehmen Wolke . . . Doch dann vergeht dieses schöne Gefühl. Du erkennst, wo du bist und was du da machst und was gerade mit dir passiert ist. Und dann folgt der Schmerz . . .”
Diese Einsichten hatten einen guten Grund, denn Patterson wurde zweimal von Liston in kürzester Zeit übel verprügelt. Der wiederum musste nicht ganz ohne sein Zutun die Rolle des wilden Tieres spielen, des unterbelichteten Wilden. James Baldwin drückte es etwas anders aus und hielt Liston für „sprachlos auf eine bestimmte Negerart – er hat eine lange Geschichte zu erzählen, die aber niemand hören will”. Liston selbst sagte mal: „Irgendwann schreibt einer mal einen Bluessong nur für Boxer: für langsame Gitarre, leise Trompete und einen Gong. ” Das war aber nach den Kämpfen gegen Patterson, zu denen so viele Intellektuelle sich versammelt hatten, dass sie „vor eine Schreibmaschine gesetzt, eine Ausgabe der Paris Review in 42 Minuten hätten produzieren können”. Neben Baldwin, Budd Schulberg und Ben Hecht war auch Norman Mailer dabei, der allen auf den Wecker ging und mit seiner großmäuligen Art sogar Liston auf die Palme brachte. Sie alle setzten auf jene Kontraste zwischen den Boxern, die die weißen Stereotypen vom schwarzen Mann bedienten.
Es musste erst Ali kommen, der die Vorurteile aushebelte. Ein Großmaul, das seinen eigenen Rap erfand, ein Kerl, der die Gesetze des Entertainments begriffen hatte, ein Boxer, der Kraft mit Beweglichkeit kombinierte. Vor dem Kampf gegen Liston tönte er: „Ich schick den großen häßlichen Bären auf die Bretter, und nach dem Kampf bau ich mir ein hübsches Haus und nehm ihn als Bärenfell. Liston riecht sogar wie ein Bär. Wenn ich ihn verhauen hab, spende ich ihn dem Zoo hier. ” Und Liston fiel darauf herein, hielt ihn für einen Verrückten, nahm ihn nicht ernst – und wurde zweimal verdroschen.
Der Rest ist Geschichte. Die Geschichte eines Mannes, der das Boxen seiner Vollendung zugeführt hat – und seinem Untergang. Er hat aus dem Sport eine Show gemacht, die dazu geführt hat, dass Boxen heute ein Spektakel ist wie die Tigernummern von Siegfried und Roy. Aber davon erzählt Remnick nur im Epilog. Am Tag nach seinem ersten Sieg gegen Liston wurde aus Cassius Clay jedenfalls Muhammad Ali – und Remnick schlägt ein weiteres Kapitel auf, wie Elijah Muhammad und Malcolm X um Alis Seele kämpfen, wie die Gemäßigten und Radikalen ihn vor den Karren zu spannen versuchen, und wie sich Ali instrumentalisieren lässt und sich allen letztlich auf seine Weise entzog.
Er hat in all den Wirren sein Seelenheil gefunden – auch wenn er sein körperliches Heil wie all die anderen geopfert hat. Er war zu gut, um zum rechten Zeitpunkt aufzuhören. Keiner hat das so gut beschrieben wie Liston, der wusste, wovon er sprach: „Siehst du, die verschiedenen Teile des Gehirns sitzen in kleinen Bechern. Wenn du einen schlimmen Treffer kriegst, flutscht das Gehirn aus den Bechern – plopp! –, und du bist k.o. Dann geht das Gehirn wieder in die Becher zurück, und du kommst zu dir. Wenn das aber oft genug passiert, wenn der Schlag hart genug ist, geht das Gehirn nicht wieder richtig in die Becher zurück, und dann braucht man andere Leute, die einem durchs Leben helfen. ” So ist das. Eine langsame Gitarre, eine leise Trompete und ein Gong!
MICHAEL ALTHEN
DAVID REMNICK: King of the World. Der Aufstieg des Cassius Clay oder die Geburt des Muhammad Ali. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Berlin Verlag 2000. 494 Seiten, 44 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Braucht man ein weiteres Buch über Muhammad Ali alias Cassius Clay? Ja, wenn es so "großartig" ist wie dieses, urteilt Jürgen Kaube. Der Autor hat in seiner Konzentration auf die Welt des Boxsports, deren Zustand er vor der Ankunft von Cassius Clay beschreibt, etwas geliefert, das weder "geschwollene Sinndeutung" noch "sozialphilosophischen Tiefsinn" präsentiert. Dabei biete es durchaus Thesen an, die sich jedoch in größter Nähe zur realen Welt des Sports und seiner Bedeutung für Schwarze in den USA bewegten. Danach hat Clay/Ali als erster die Unterscheidung vom `bösen` und `guten` Schwarzen aufgehoben und sich durch Professionalisierung der dazugehörigen Management- und PR-Maschine aus dem mafiösen Umfeld des Sports gelöst. Der frühere Sportreporter der "Washington Post", schreibt Kaube, weiß zudem genau, dass "die Geschichte des Boxens auch die Geschichte seiner Beschreibung" ist, was seinem Buch die zusätzliche Dimension auch einer Analyse des Sportjournalismus verleihe. Alles in allem eine "durchtrainierte, raffinierte und treffsichere Darstellung", meint Kaube.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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