Hugely readable . . . King Zeno would make a great Netflix series, a murky pre-Prohibition thriller poised somewhere between LA Confidential and True Detective. New Statesman
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2020Satansmusik mit tödlichen Folgen
New Orleans im Jahr 1918: Nathaniel Rich führt in eine Stadt im Fieberwahn und zeigt, dass sich an der Problemlage bis heute wenig geändert hat.
Die Maßnahmen sind drastisch, aber nötig. Hunderttausende Menschen haben sich in Louisiana schon infiziert. Greift der Staat nicht ein, wird sich das Virus ungehindert verbreiten. Die Folgen wären fatal. Deswegen werden ab sofort alle Schulen und Colleges, Kinos und Theater geschlossen, sämtliche Konzerte und Sportveranstaltungen abgesagt, Menschenansammlungen auf Straßen verboten. Wir schreiben das Jahr 1918 und befinden uns in New Orleans. Der Erste Weltkrieg ist fast vorbei und hat siebzehn Millionen Tote gefordert. Nun rollt die Spanische Grippe an, der am Ende, aber das ahnt bislang niemand, noch mehr Menschen zum Opfer fallen werden.
Im Angesicht großer Gefahr kommen die Leute auf seltsame Ideen. So warnt ein Prediger, der seinem Sendungsbewusstsein freien Lauf lässt, mit einem Schild, auf dem zu lesen steht: "Jazz ist tödlich." Metaphorisch liegt der Geistliche in "King Zeno", dem dritten Roman des 1980 geborenen Amerikaners Nathaniel Rich, gar nicht so verkehrt. Denn Jazz ist anders als alle Arten von Musik, die man vor dem zwanzigsten Jahrhundert kannte; er ist nicht nur neu, sondern flirrend und unberechenbar. In einer einstigen Baptistenkirche, die zum Club umgestaltet wurde und im Zeichen profaner Bedürfnisse steht, spielt sich eine Band in "schwindelerregende Raserei".
Isadore Zeno, ein junger Kornettist, der zu den drei Protagonisten gehört, erlebt, wie die Kombo den 1917 erstmals aufgenommenen "Tiger Rag" in "etwas nicht mehr Wiederzuerkennendes, ja geradezu Furchterregendes" verwandelt. Im Saal tanzen Huren und Zuhälter, Uhrmacher und Hafenarbeiter zu dieser "Satansmusik". So gesehen, ist Jazz gleichermaßen vitalisierend und tödlich, er zielt auf den Körper, fordert die Affekte heraus - und erstickt die Partituren wohlgeordneter Kompositionen aus der Vergangenheit.
Mit der Ordnung ist es so eine Sache in Richs Roman. Einerseits gleichen manche Kapitel geduldig erzählten, fein gestrickten Kunstwerken, die so viele Details enthalten, dass sie auch als literarische Wimmelbilder taugen. Andererseits zerfransen die Einzelheiten immer wieder zu einer streckenweise geradezu improvisierten Mischung aus Gedanken und synästhetischen Eindrücken. Wenn etwa der Polizist Bill Bastrop seiner Frau von den Kriegserlebnissen aus Frankreich berichtet, ist er nicht eine Figur, die sich erinnert, sondern jemand, der wieder am Ort seines Traumas ankommt - wo er sich als Feigling erwiesen hat: Er wittert den Geruch von verwesendem Fleisch, hört den Lärm des Artilleriefeuers und blickt dem Tod ins Antlitz. Bill möchte die Reminiszenzen unbedingt loswerden, "doch er vermochte die nassen Marschen seines Gehirns nicht trockenzulegen".
Seine zerebralen Feuchtgebiete finden ihre geographische Entsprechung an einem Ort, wo sich kürzlich noch ein alter Wald befand. Nun sind die Bäume gerodet, weil hier in den kommenden Jahren der Industrial Canal entstehen wird, welcher den Mississippi mit dem Pontchartrain-See verbindet. Die Arbeiter, Isadore ist einer von ihnen, buddeln sich durch den Schlick in der Zeit zurück und fördern Dinge zutage, "die seit Ewigkeiten ungestört geruht hatten". Ein passendes Bild, gilt doch: kein Zukunftsprojekt ohne mementomorihaften Blick in die Vergangenheit.
Beatrice, die Chefin der mit dem Bau beauftragten Firma, ist eine Mafia-Patin, deren mit Fortschrittsgläubigkeit vermengte Hybris sich siebenundachtzig Jahre später als Schimäre erweisen wird. Ihre Männer, phantasiert sie, "würden New Orleans wieder zum weltgrößten Hafen machen. Wie ein Maler in seinem Gemälde würden sie dem Land ihre Signatur einprägen," Im Jahr 2005 hat der Kanal durch den Hurrikan Katrina gleichwohl Schaden genommen und zur katastrophalen Überflutung der Stadt beigetragen.
Am Anfang der Arbeiten gibt es indes andere Probleme. Ein Grundbesitzer, der sein Land nicht dem Kanal opfern möchte, muss "überredet" werden. Das passiert auf eine Art, die an den Modus operandi von Vito Corleone in "Der Pate" erinnert. Als der Sohn des Eigentümers eines Tages von der Schule nach Hause kommt, liegt der Kopf eines Hundes mit Dolchen in den Augen auf dem Bett. Wenig später findet er einen weiteren Hundekopf, der genauso brutal bearbeitet wurde. Als Nächstes entdeckt seine Mutter den Kopf eines Kindes. Der Mann verkauft sein Grundstück noch am selben Tag, so dass die Grabungen starten können. Ein Zufallsfund auf dem Gelände: Leichenteile. Ein Axtmörder (den es wirklich gab) - in der Stadt unterwegs. Ein Zusammenhang - wahrscheinlich. Die Identität des Killers ist dem Leser bekannt, bevor die Polizei auch nur eine Ahnung hat.
Während sich im Roman die Kadaver türmen, entwickelt Beatrice eine Pseudotheorie über das Leben nach dem Tod. Als nutzlos betrachtet sie die poetische Unsterblichkeit von Kunst und großen Werken. Ein interessanter Befund, ist "King Zeno" doch gut ausgestattet mit Referenzen und Gastauftritten. So kann eine literarische Figur nicht Beatrice heißen, ohne dass Dante Alighieri grüßen lässt. Louis Armstrong, der 1918 und 1919 in Fate Marables Band auf einem Mississippi-Dampfer spielte, kommt gleich dreimal vor.
Doch wie viel Erinnerung führt zur Unsterblichkeit? Und was hat der Tote davon? Genauso wenig wie von seinem biologischen Vermächtnis oder einer Seele, die, Gott bewahre, im Himmel nicht willkommen ist. Die "erstrebenswerteste Form der Unsterblichkeit bestand darin, nicht zu sterben". Da ist sie wieder, die Hybris, und mit ihr kommt die tragische Selbstoptimierung avant la lettre: Ernährungstrends (Sauermilch!), Osteopathie, Kräuterbäder. Rich nutzt seinen historischen Roman laufend dazu, den Erwartungshorizont von einst mit dem Erfahrungsraum von heute abzugleichen.
Dazu zählt auch der allgegenwärtige Rassismus. Es macht Isadore wütend, "stets um sein Leben bangen zu müssen, wenn er das Verbrechen beging, eine falsche Straße zu nehmen, die falsche Person anzusehen, das Falsche zu sagen oder auch das Richtige, nur leider mit der falschen Betonung". Insofern ist das brillant komponierte Buch eine Absage an geschichtsphilosophische Heilsversprechen, die Zeit als Entwicklung hin zu einer immer besseren Zukunft begreifen.
Tatsächlich waren die Probleme vor hundert Jahren strukturell vielfach dieselben wie heute. Es ist bezeichnend, dass die Grippe in "King Zeno" nur eine Nebenrolle spielt. Rich wird sie als Gespenst der Vergangenheit ohne aktuellen Bezug betrachtet haben. Wäre der Roman nicht von 2018, sondern aus diesem Jahr, hätte die Pandemie womöglich zum Zugpferd des Plots werden können.
KAI SPANKE.
Nathaniel Rich: "King Zeno". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020.
448 S., geb., 24.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
New Orleans im Jahr 1918: Nathaniel Rich führt in eine Stadt im Fieberwahn und zeigt, dass sich an der Problemlage bis heute wenig geändert hat.
Die Maßnahmen sind drastisch, aber nötig. Hunderttausende Menschen haben sich in Louisiana schon infiziert. Greift der Staat nicht ein, wird sich das Virus ungehindert verbreiten. Die Folgen wären fatal. Deswegen werden ab sofort alle Schulen und Colleges, Kinos und Theater geschlossen, sämtliche Konzerte und Sportveranstaltungen abgesagt, Menschenansammlungen auf Straßen verboten. Wir schreiben das Jahr 1918 und befinden uns in New Orleans. Der Erste Weltkrieg ist fast vorbei und hat siebzehn Millionen Tote gefordert. Nun rollt die Spanische Grippe an, der am Ende, aber das ahnt bislang niemand, noch mehr Menschen zum Opfer fallen werden.
Im Angesicht großer Gefahr kommen die Leute auf seltsame Ideen. So warnt ein Prediger, der seinem Sendungsbewusstsein freien Lauf lässt, mit einem Schild, auf dem zu lesen steht: "Jazz ist tödlich." Metaphorisch liegt der Geistliche in "King Zeno", dem dritten Roman des 1980 geborenen Amerikaners Nathaniel Rich, gar nicht so verkehrt. Denn Jazz ist anders als alle Arten von Musik, die man vor dem zwanzigsten Jahrhundert kannte; er ist nicht nur neu, sondern flirrend und unberechenbar. In einer einstigen Baptistenkirche, die zum Club umgestaltet wurde und im Zeichen profaner Bedürfnisse steht, spielt sich eine Band in "schwindelerregende Raserei".
Isadore Zeno, ein junger Kornettist, der zu den drei Protagonisten gehört, erlebt, wie die Kombo den 1917 erstmals aufgenommenen "Tiger Rag" in "etwas nicht mehr Wiederzuerkennendes, ja geradezu Furchterregendes" verwandelt. Im Saal tanzen Huren und Zuhälter, Uhrmacher und Hafenarbeiter zu dieser "Satansmusik". So gesehen, ist Jazz gleichermaßen vitalisierend und tödlich, er zielt auf den Körper, fordert die Affekte heraus - und erstickt die Partituren wohlgeordneter Kompositionen aus der Vergangenheit.
Mit der Ordnung ist es so eine Sache in Richs Roman. Einerseits gleichen manche Kapitel geduldig erzählten, fein gestrickten Kunstwerken, die so viele Details enthalten, dass sie auch als literarische Wimmelbilder taugen. Andererseits zerfransen die Einzelheiten immer wieder zu einer streckenweise geradezu improvisierten Mischung aus Gedanken und synästhetischen Eindrücken. Wenn etwa der Polizist Bill Bastrop seiner Frau von den Kriegserlebnissen aus Frankreich berichtet, ist er nicht eine Figur, die sich erinnert, sondern jemand, der wieder am Ort seines Traumas ankommt - wo er sich als Feigling erwiesen hat: Er wittert den Geruch von verwesendem Fleisch, hört den Lärm des Artilleriefeuers und blickt dem Tod ins Antlitz. Bill möchte die Reminiszenzen unbedingt loswerden, "doch er vermochte die nassen Marschen seines Gehirns nicht trockenzulegen".
Seine zerebralen Feuchtgebiete finden ihre geographische Entsprechung an einem Ort, wo sich kürzlich noch ein alter Wald befand. Nun sind die Bäume gerodet, weil hier in den kommenden Jahren der Industrial Canal entstehen wird, welcher den Mississippi mit dem Pontchartrain-See verbindet. Die Arbeiter, Isadore ist einer von ihnen, buddeln sich durch den Schlick in der Zeit zurück und fördern Dinge zutage, "die seit Ewigkeiten ungestört geruht hatten". Ein passendes Bild, gilt doch: kein Zukunftsprojekt ohne mementomorihaften Blick in die Vergangenheit.
Beatrice, die Chefin der mit dem Bau beauftragten Firma, ist eine Mafia-Patin, deren mit Fortschrittsgläubigkeit vermengte Hybris sich siebenundachtzig Jahre später als Schimäre erweisen wird. Ihre Männer, phantasiert sie, "würden New Orleans wieder zum weltgrößten Hafen machen. Wie ein Maler in seinem Gemälde würden sie dem Land ihre Signatur einprägen," Im Jahr 2005 hat der Kanal durch den Hurrikan Katrina gleichwohl Schaden genommen und zur katastrophalen Überflutung der Stadt beigetragen.
Am Anfang der Arbeiten gibt es indes andere Probleme. Ein Grundbesitzer, der sein Land nicht dem Kanal opfern möchte, muss "überredet" werden. Das passiert auf eine Art, die an den Modus operandi von Vito Corleone in "Der Pate" erinnert. Als der Sohn des Eigentümers eines Tages von der Schule nach Hause kommt, liegt der Kopf eines Hundes mit Dolchen in den Augen auf dem Bett. Wenig später findet er einen weiteren Hundekopf, der genauso brutal bearbeitet wurde. Als Nächstes entdeckt seine Mutter den Kopf eines Kindes. Der Mann verkauft sein Grundstück noch am selben Tag, so dass die Grabungen starten können. Ein Zufallsfund auf dem Gelände: Leichenteile. Ein Axtmörder (den es wirklich gab) - in der Stadt unterwegs. Ein Zusammenhang - wahrscheinlich. Die Identität des Killers ist dem Leser bekannt, bevor die Polizei auch nur eine Ahnung hat.
Während sich im Roman die Kadaver türmen, entwickelt Beatrice eine Pseudotheorie über das Leben nach dem Tod. Als nutzlos betrachtet sie die poetische Unsterblichkeit von Kunst und großen Werken. Ein interessanter Befund, ist "King Zeno" doch gut ausgestattet mit Referenzen und Gastauftritten. So kann eine literarische Figur nicht Beatrice heißen, ohne dass Dante Alighieri grüßen lässt. Louis Armstrong, der 1918 und 1919 in Fate Marables Band auf einem Mississippi-Dampfer spielte, kommt gleich dreimal vor.
Doch wie viel Erinnerung führt zur Unsterblichkeit? Und was hat der Tote davon? Genauso wenig wie von seinem biologischen Vermächtnis oder einer Seele, die, Gott bewahre, im Himmel nicht willkommen ist. Die "erstrebenswerteste Form der Unsterblichkeit bestand darin, nicht zu sterben". Da ist sie wieder, die Hybris, und mit ihr kommt die tragische Selbstoptimierung avant la lettre: Ernährungstrends (Sauermilch!), Osteopathie, Kräuterbäder. Rich nutzt seinen historischen Roman laufend dazu, den Erwartungshorizont von einst mit dem Erfahrungsraum von heute abzugleichen.
Dazu zählt auch der allgegenwärtige Rassismus. Es macht Isadore wütend, "stets um sein Leben bangen zu müssen, wenn er das Verbrechen beging, eine falsche Straße zu nehmen, die falsche Person anzusehen, das Falsche zu sagen oder auch das Richtige, nur leider mit der falschen Betonung". Insofern ist das brillant komponierte Buch eine Absage an geschichtsphilosophische Heilsversprechen, die Zeit als Entwicklung hin zu einer immer besseren Zukunft begreifen.
Tatsächlich waren die Probleme vor hundert Jahren strukturell vielfach dieselben wie heute. Es ist bezeichnend, dass die Grippe in "King Zeno" nur eine Nebenrolle spielt. Rich wird sie als Gespenst der Vergangenheit ohne aktuellen Bezug betrachtet haben. Wäre der Roman nicht von 2018, sondern aus diesem Jahr, hätte die Pandemie womöglich zum Zugpferd des Plots werden können.
KAI SPANKE.
Nathaniel Rich: "King Zeno". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020.
448 S., geb., 24.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.01.2021Vor dem Sturm
Nathaniel Richs Roman erzählt vom Bau eines Kanals, der 100 Jahre später New Orleans verwüsten wird
Wir sind in New Orleans, das Jahr ist 1918, und die Spanische Grippe wütet. Doch was den Menschen in Nathaniel Richs meisterhaftem Roman „King Zeno“ noch mehr Angst macht als das tödliche Fieber, ist der „Axtmörder“, der in monströser Unbeirrbarkeit harmlose Bürger heimsucht und abschlachtet. Warum muss es die Axt sein, warum reicht nicht eine Kugel?, fragen sie sich und finden keine Antwort. Er ist nicht einfach ein Killer, die kennt man in New Orleans, er ist ein Ungeheuer.
Dieser die ganze Stadt aufwühlende kollektive Albtraum führt in Richs Geschichte drei Figuren zusammen, die sonst nichts eint: Da ist der Titelheld Isadore Zeno, ein schwarzer Kleinkrimineller und Jazzmusiker, der seinem Kornett Töne entlocken kann wie nicht von dieser Welt – nur weiß davon fast niemand. Da ist Bill Bastrop, traumatisierter Kriegsheimkehrer und Polizist. Und da ist die aus Sizilien stammende Matriarchin Beatrice Vizzini, die mit gewalttätiger Unterstützung ihres Sohns einen Mafia-Clan anführt.
Alle drei schleppen schweres inneres Gepäck durch die drückende Schwüle. Isadore fürchtet, sein ehemaliger Gangsterfreund Bailey könnte ihn verpfeifen, um damit der Todesstrafe für einen Polizistenmord zu umgehen. Bastrop verfolgen – und nicht nur im Geist – die Kriegskameraden, die in dem einstürzenden Unterstand an der Westfront begraben wurden, aus dem er sich gerade noch retten konnte. Beatrice muss sich eingestehen, dass ihr Sohn zu nichts taugt außer Mord und Schutzgelderpressung – und fürchtet, sie selbst könnte zu seinem nächsten Opfer werden.
Nachdem sie sich ihres Ehemanns entledigt hat, denkt sie nun richtig groß. Sie hat ihrer Firma mit skrupellosen Methoden den Auftrag für den Bau des Industrial Canal gesichert, der den Mississippi mit dem nahen Lake Pontchartrain verbinden und den Hafen von New Orleans zu einem der ganz großen machen soll.
Auch Isadore verspricht sich viel von dem Kanal. Er macht Schluss mit den Überfällen und heuert auf der Baustelle an. Solide Arbeit, solide Existenz, Familie gründen, und am Feierabend Jazz, so malt er es sich aus. Doch es kommt erst mal anders.
Der 1980 geborene New Yorker Autor Nathaniel Rich hat seinen erst jetzt auf Deutsch erschienenen dritten Roman schon 2018 geschrieben. Weltweit bekannt wurde er aber 2019 mit seinem Non-Fiction-Band „Losing Earth“. Er beschreibt darin, wie in den Achtzigerjahren die Warnungen der Wissenschaft vor dem Klimawandel ignoriert und unterdrückt wurden, und so die letzte Gelegenheit ungenutzt blieb, ihn noch rechtzeitig abzuwenden. Ein fataler historischer Fehler war auch der Bau des Industrial Canal. Als 2005 der Hurrikan „Katrina“ über New Orleans wütete, schoss das Wasser aus dem Golf von Mexiko und dem Pontchartrain-See wie durch einen Trichter durch den Kanal nach New Orleans. 80 bis 90 Prozent des Stadtgebiets wurden überflutet, etwa 1500 Menschen starben. Der Leser weiß es, der Autor weiß es. Doch für seine Protagonisten ist das Unheil, das der Kanal der Stadt einmal bringen wird, vorerst nur eine dräuende, vage Vorahnung.
„King Zeno“ ist nicht nur ein packender Krimi, es ist auch ein historischer Roman: Die Morde fanden tatsächlich statt, das belegen die teils lakonischen, teils reißerischen Berichte aus der New Orleans Times-Picayune und dem New Orleans Item, die Rich seiner Erzählung voranstellt. Doch was ihn hier – wie in „Losing Earth“ – außerdem interessiert, ist das Drama kollektiver Entscheidungsprozesse.
Welche Experten werden gehört und welche verschwinden spurlos? Welche Ansichten zählen, weil sie als „wissenschaftlich“ gelten, und welche werden als subjektiv, abergläubisch, irrelevant abgetan? Welche unerwarteten Folgen können kleinste Ereignisse haben? Richs Figuren sind Mitwirkende in diesen komplexen Prozessen – aber auch deren Produkte. Isadore und die anderen Kanalarbeiter gehen halb kaputt an der Knochenarbeit. Das Sumpfgas lässt sie schwindeln. Sie nehmen den Gestank von Fäulnis abends mit ins Bett, weil er von ihren Körpern nicht abzuwaschen ist. Und immer fürchten sie, auszurutschen und in den gurgelnden Rachen der Maschine zu geraten, die den Schlamm aus der Grube saugt.
Doch was sie ebenso quält, ist das unbestimmte Bewusstsein, mit ihrer Arbeit Unrecht zu tun. Sie vergehen sich an der Erde, indem sie das System aus Marschland, Sümpfen und Sandbänken zerstören, die der Mississippi über Jahrmillionen geformt hat. Und sie vergehen sich an der Zeit, in dem sie sich aus der Ödnis des gerodeten Lands immer tiefer in Schicht um Schicht verschütteter Urzeitwälder hinunterwühlen und jahrtausendealte Baumstämme schreddern. Sie fördern Reste von Glyptotherien zutage, Riesengürteltieren, die vor 12 000 Jahren ausgestorben sind, aber auch namenlose Leichen, die hier erst seit ein paar Tagen liegen. „Dieser Kanal“, entfährt es dem Polizisten später, „der Mensch hat nicht die Aufgabe, Flüsse zu erschaffen. Die Vergangenheit auszugraben.“ Isadore hatte auf eine ehrliche Arbeit gehofft, er hat sie nicht gefunden.
In seinen Essays wie in seinen Romanen gräbt Rich nach den Wurzeln von Phänomenen, die erst später Form annehmen und Namen erhalten. Lange vor dem Ende des Holozäns lässt er auf der Kanalbaustelle das Anthropozän beginnen. Die Wut, die seine schwarzen Charaktere 1918 auf den Rassismus empfinden, wird man 100 später „Black Lives Matter“ nennen. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von „King Zeno“ kommt nun noch ein weiteres Déjà-vu hinzu: Seine drastischen Schilderungen von überfüllten Krankenhäusern und hoffnungslosen Grippeopfern nehmen vieles von dem vorweg, was im Corona-Jahr ein zweites Mal passierte.
Hier und dort trägt er dabei ein bisschen dick auf. Ist das nicht auch eine Art Raubbau an der Vergangenheit, wenn man sie so großzügig für heutige Zwecke benützt? Streckenweise verblassen auch die Geschichten seiner Figuren vor lauter Mentalitäts-, Sozial- und Jazzgeschichte. Doch all das ist spätestens dann verziehen, wenn es Rich am Ende auf furiose Weise die vielen, vielen Akteure und Motive seines Romans zu einem atemberaubenden Finale gemeinsam auf die Bühne bringt. „Angeblich lebten und arbeiteten alle Marsbewohner, gleich welcher Hautfarbe, friedlich zusammen. Tanzten sie auch gemeinsam zum Klang der Gestirne? Denn genau das tat man an diesem Abend im Cosmopolitan Club.“ Dass das Rich erst gelingt, nachdem er die vergilbten Zeitungsartikel vom Schreibtisch geräumt hat, akzeptiert man gerne.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Nathaniel Rich: „King Zeno“. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 448 Seiten, 24 Euro.
Eine solide Existenz:
Familie gründen
und am Feierabend Jazz
Die Figuren quält
das Gefühl, mit ihrer
Arbeit Unrecht zu tun
Der Industrial Canal drückte das Wasser wie ein Trichter in die Stadt: Der Wasserlauf vor dem Zentrum New Orleans’.
Foto: Mario Tama/AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nathaniel Richs Roman erzählt vom Bau eines Kanals, der 100 Jahre später New Orleans verwüsten wird
Wir sind in New Orleans, das Jahr ist 1918, und die Spanische Grippe wütet. Doch was den Menschen in Nathaniel Richs meisterhaftem Roman „King Zeno“ noch mehr Angst macht als das tödliche Fieber, ist der „Axtmörder“, der in monströser Unbeirrbarkeit harmlose Bürger heimsucht und abschlachtet. Warum muss es die Axt sein, warum reicht nicht eine Kugel?, fragen sie sich und finden keine Antwort. Er ist nicht einfach ein Killer, die kennt man in New Orleans, er ist ein Ungeheuer.
Dieser die ganze Stadt aufwühlende kollektive Albtraum führt in Richs Geschichte drei Figuren zusammen, die sonst nichts eint: Da ist der Titelheld Isadore Zeno, ein schwarzer Kleinkrimineller und Jazzmusiker, der seinem Kornett Töne entlocken kann wie nicht von dieser Welt – nur weiß davon fast niemand. Da ist Bill Bastrop, traumatisierter Kriegsheimkehrer und Polizist. Und da ist die aus Sizilien stammende Matriarchin Beatrice Vizzini, die mit gewalttätiger Unterstützung ihres Sohns einen Mafia-Clan anführt.
Alle drei schleppen schweres inneres Gepäck durch die drückende Schwüle. Isadore fürchtet, sein ehemaliger Gangsterfreund Bailey könnte ihn verpfeifen, um damit der Todesstrafe für einen Polizistenmord zu umgehen. Bastrop verfolgen – und nicht nur im Geist – die Kriegskameraden, die in dem einstürzenden Unterstand an der Westfront begraben wurden, aus dem er sich gerade noch retten konnte. Beatrice muss sich eingestehen, dass ihr Sohn zu nichts taugt außer Mord und Schutzgelderpressung – und fürchtet, sie selbst könnte zu seinem nächsten Opfer werden.
Nachdem sie sich ihres Ehemanns entledigt hat, denkt sie nun richtig groß. Sie hat ihrer Firma mit skrupellosen Methoden den Auftrag für den Bau des Industrial Canal gesichert, der den Mississippi mit dem nahen Lake Pontchartrain verbinden und den Hafen von New Orleans zu einem der ganz großen machen soll.
Auch Isadore verspricht sich viel von dem Kanal. Er macht Schluss mit den Überfällen und heuert auf der Baustelle an. Solide Arbeit, solide Existenz, Familie gründen, und am Feierabend Jazz, so malt er es sich aus. Doch es kommt erst mal anders.
Der 1980 geborene New Yorker Autor Nathaniel Rich hat seinen erst jetzt auf Deutsch erschienenen dritten Roman schon 2018 geschrieben. Weltweit bekannt wurde er aber 2019 mit seinem Non-Fiction-Band „Losing Earth“. Er beschreibt darin, wie in den Achtzigerjahren die Warnungen der Wissenschaft vor dem Klimawandel ignoriert und unterdrückt wurden, und so die letzte Gelegenheit ungenutzt blieb, ihn noch rechtzeitig abzuwenden. Ein fataler historischer Fehler war auch der Bau des Industrial Canal. Als 2005 der Hurrikan „Katrina“ über New Orleans wütete, schoss das Wasser aus dem Golf von Mexiko und dem Pontchartrain-See wie durch einen Trichter durch den Kanal nach New Orleans. 80 bis 90 Prozent des Stadtgebiets wurden überflutet, etwa 1500 Menschen starben. Der Leser weiß es, der Autor weiß es. Doch für seine Protagonisten ist das Unheil, das der Kanal der Stadt einmal bringen wird, vorerst nur eine dräuende, vage Vorahnung.
„King Zeno“ ist nicht nur ein packender Krimi, es ist auch ein historischer Roman: Die Morde fanden tatsächlich statt, das belegen die teils lakonischen, teils reißerischen Berichte aus der New Orleans Times-Picayune und dem New Orleans Item, die Rich seiner Erzählung voranstellt. Doch was ihn hier – wie in „Losing Earth“ – außerdem interessiert, ist das Drama kollektiver Entscheidungsprozesse.
Welche Experten werden gehört und welche verschwinden spurlos? Welche Ansichten zählen, weil sie als „wissenschaftlich“ gelten, und welche werden als subjektiv, abergläubisch, irrelevant abgetan? Welche unerwarteten Folgen können kleinste Ereignisse haben? Richs Figuren sind Mitwirkende in diesen komplexen Prozessen – aber auch deren Produkte. Isadore und die anderen Kanalarbeiter gehen halb kaputt an der Knochenarbeit. Das Sumpfgas lässt sie schwindeln. Sie nehmen den Gestank von Fäulnis abends mit ins Bett, weil er von ihren Körpern nicht abzuwaschen ist. Und immer fürchten sie, auszurutschen und in den gurgelnden Rachen der Maschine zu geraten, die den Schlamm aus der Grube saugt.
Doch was sie ebenso quält, ist das unbestimmte Bewusstsein, mit ihrer Arbeit Unrecht zu tun. Sie vergehen sich an der Erde, indem sie das System aus Marschland, Sümpfen und Sandbänken zerstören, die der Mississippi über Jahrmillionen geformt hat. Und sie vergehen sich an der Zeit, in dem sie sich aus der Ödnis des gerodeten Lands immer tiefer in Schicht um Schicht verschütteter Urzeitwälder hinunterwühlen und jahrtausendealte Baumstämme schreddern. Sie fördern Reste von Glyptotherien zutage, Riesengürteltieren, die vor 12 000 Jahren ausgestorben sind, aber auch namenlose Leichen, die hier erst seit ein paar Tagen liegen. „Dieser Kanal“, entfährt es dem Polizisten später, „der Mensch hat nicht die Aufgabe, Flüsse zu erschaffen. Die Vergangenheit auszugraben.“ Isadore hatte auf eine ehrliche Arbeit gehofft, er hat sie nicht gefunden.
In seinen Essays wie in seinen Romanen gräbt Rich nach den Wurzeln von Phänomenen, die erst später Form annehmen und Namen erhalten. Lange vor dem Ende des Holozäns lässt er auf der Kanalbaustelle das Anthropozän beginnen. Die Wut, die seine schwarzen Charaktere 1918 auf den Rassismus empfinden, wird man 100 später „Black Lives Matter“ nennen. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von „King Zeno“ kommt nun noch ein weiteres Déjà-vu hinzu: Seine drastischen Schilderungen von überfüllten Krankenhäusern und hoffnungslosen Grippeopfern nehmen vieles von dem vorweg, was im Corona-Jahr ein zweites Mal passierte.
Hier und dort trägt er dabei ein bisschen dick auf. Ist das nicht auch eine Art Raubbau an der Vergangenheit, wenn man sie so großzügig für heutige Zwecke benützt? Streckenweise verblassen auch die Geschichten seiner Figuren vor lauter Mentalitäts-, Sozial- und Jazzgeschichte. Doch all das ist spätestens dann verziehen, wenn es Rich am Ende auf furiose Weise die vielen, vielen Akteure und Motive seines Romans zu einem atemberaubenden Finale gemeinsam auf die Bühne bringt. „Angeblich lebten und arbeiteten alle Marsbewohner, gleich welcher Hautfarbe, friedlich zusammen. Tanzten sie auch gemeinsam zum Klang der Gestirne? Denn genau das tat man an diesem Abend im Cosmopolitan Club.“ Dass das Rich erst gelingt, nachdem er die vergilbten Zeitungsartikel vom Schreibtisch geräumt hat, akzeptiert man gerne.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Nathaniel Rich: „King Zeno“. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 448 Seiten, 24 Euro.
Eine solide Existenz:
Familie gründen
und am Feierabend Jazz
Die Figuren quält
das Gefühl, mit ihrer
Arbeit Unrecht zu tun
Der Industrial Canal drückte das Wasser wie ein Trichter in die Stadt: Der Wasserlauf vor dem Zentrum New Orleans’.
Foto: Mario Tama/AFP
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