Feinfühlig: William Shaw entführt mit "Kings of London" in das Jahr 1968
Es gab eine Zeit, da war London nicht die hochglanzpolierte, mit Schwarzgeld aus aller Welt zugeschüttete Metropole. Sondern ein dreckiger, grauer Moloch, Hauptstadt eines zerbröselnden Kolonialreichs. Aber in der Subkultur tat sich viel, die Jugend drängte mit Macht, Beat und Rock'n'Roll auf Veränderung. Im April 1966 druckte das "Time"-Magazin den Begriff "Swinging London" auf die Titelseite - eine kurze Ära hatte ihren Namen. Bei William Shaw liest sich das zu Beginn des Romans "Kings of London" so: "De Gaulle wurde wiedergewählt. Robert Kennedy erschossen. Die Amerikaner kommen in Vietnam nicht weiter und stellen sich hinter Richard Nixon. Die Sowjets haben Panzer nach Prag geschickt. Es ist Herbst 1968. Und London bleibt London. Obwohl es schon den ganzen Sommer über geregnet hat, regnet es immer noch."
Wir sind im zweiten Band einer Trilogie, der erste Band "Abbey Road Murder Song", im letzten Jahr auf Deutsch erschienen, spielt im Oktober 1968. Er setzt ein mit dem Fund der Leiche einer jungen Frau, unweit der Abbey Road Studios. Die Spur in die Fan-Szene der Beatles hinein ist eine Sackgasse, am Ende ist die Lösung komplizierter, weil sie mit den Schatten der Vergangenheit zu tun hat, den hundert Jahren, in denen Nigeria britische Kolonie war, und mit der humanitären Katastrophe in Biafra.
"Kings of London" beginnt mit einer verbrannten und in Scheiben geschnittenen Männerleiche. Der ums Leben gebrachte Tote war von Beruf Sohn und Playboy mit Verbindungen in die explodierende Kunstszene; dass er Spross eines Labour-Staatssekretärs war, macht die Ermittlungen nicht einfacher.
Hier wie dort, in Subkultur und Kolonialgeschichte kennt sich der Autor aus, der in Nigeria aufgewachsen ist und heute in Brighton lebt. Er hat lange als Musikjournalist gearbeitet, Sachbücher geschrieben. Dass er sich nun ins überlaufene Krimigenre geworfen hat, hat diesem Bücher in einem angenehm unaufgeregten, melancholischen Ton beschert: Shaw hat ein Gespür dafür, diese Zeit ganz unauffällig lebendig werden zu lassen. Seine Figuren sind jung und alt zugleich, verunsichert von der rasant sich wandelnden Welt, zu der sie eigentlich gehören sollten, aber ihre Stiefel sind einbetoniert in der Welt ihrer Eltern.
Das sind keine Supercops, die diese Polizeiromane bevölkern, sondern Ermittler an der Basis: Als Tandem schickt Shaw den irischstämmigen Cathal Breen und die aus Devon stammende junge und unerfahrene Kollegin Helen Tozer ins Rennen. Er ist zweiunddreißig, vor dem Krieg geboren, sie zehn Jahre jünger. Breen fremdelt mit dem Swinging London, ist eher der konservative Typ, Anzug und Krawatte, introvertiert, aber gewissenhaft. Seinen Vater hat er bis zu dessen Tod allein gepflegt.
Tozer ist als Frau bei der Kripo ein rares Wesen; ans Steuer der Polizeifahrzeuge lässt man sie nicht. Sie hat Instinkt, aber sie ist wie Breen auch belastet mit blinden Flecken in der Familiengeschichte - ihre Schwester wurde ermordet. Die zarten Bande zwischen Breen und Tozer, die ihre Gefühlswelt zu entfalten sich schwertun - das zeugt von Shaws feinem Sinn für Nuancen und Dialoge.
Eine Bemerkung zur Titelei: Der erste Band wurde mit dem Slogan "Swinging Killing London" garniert, der zweite mit "London swingt, London brennt". Aus dem Originaltitel "A House of Knives" wurde bei Suhrkamp "Abbey Road Murder Song" und aus "A Song from Dead Lips" nun "Kings of London". "A Book of Scars", der letzte Band der Trilogie, ist soeben in England erschienen. Auf Suhrkamps englische Übersetzung darf man gespannt sein.
HANNES HINTERMEIER
William Shaw: "Kings of London". Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp Nova Verlag, Berlin 2015. 473 S., br., 14,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main