Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosa-Debüt 2019
Kintsugi ist das japanische Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu kitten. Diese Tradition lehrt, dass Schönheit nicht in der Perfektion zu finden ist, sondern im guten Umgang mit den Brüchen und Versehrtheiten.
Es ist Wochenende. Wir sind in einem Haus an einem spätwinterlichen See, das Licht ist hart, die Luft ist schneidend kalt, der gefrorene Boden knirscht unter unseren Füßen. Gerade sind Reik und Max angekommen, sie feiern ihre Liebe, die nun zwanzig ist. Eingeladen sind nur ihr ältester Freund Tonio und seine Tochter Pega, so alt wie die Beziehung von Max und Reik. Sie planen ein ruhiges Wochenende. Doch ruhig bleibt nur der See.
»Kintsugi« ist ein flimmernder Roman über die Liebe in all ihren Facetten. Über den Trost, den wir im Unvollkommenen finden. Und darüber, dass es weitergeht. Wie immer geht es weiter.
Kintsugi ist das japanische Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu kitten. Diese Tradition lehrt, dass Schönheit nicht in der Perfektion zu finden ist, sondern im guten Umgang mit den Brüchen und Versehrtheiten.
Es ist Wochenende. Wir sind in einem Haus an einem spätwinterlichen See, das Licht ist hart, die Luft ist schneidend kalt, der gefrorene Boden knirscht unter unseren Füßen. Gerade sind Reik und Max angekommen, sie feiern ihre Liebe, die nun zwanzig ist. Eingeladen sind nur ihr ältester Freund Tonio und seine Tochter Pega, so alt wie die Beziehung von Max und Reik. Sie planen ein ruhiges Wochenende. Doch ruhig bleibt nur der See.
»Kintsugi« ist ein flimmernder Roman über die Liebe in all ihren Facetten. Über den Trost, den wir im Unvollkommenen finden. Und darüber, dass es weitergeht. Wie immer geht es weiter.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2019Es ist nicht alles Gold, was kittet
Vom Reparieren der Liebe in unterschiedlichsten Formen: Miku Sophie Kühmels für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman "Kintsugi"
Die Scherbe zählt schon immer zu den semiotisch interessantesten Phänomenen des menschlichen Alltags. Selbst dort, wo sie vereinzelt auftritt, bedeutet sie uns, dass es noch mindestens ein anderes von ihr geben müsse. Scherben sind ein Versprechen auf Zweiheit, auf das Komplementäre, sind - um vielleicht allzu didaktisch zu werden - das Symbol aller Symbolik. Wenn Max, Juniorprofessor für Archäologie an einer Berliner Universität und einer der Protagonisten in Miku Sophie Kühmels Debütroman "Kintsugi", seinen Studierenden in einer etwas archaisch anmutenden Vorlesungsszene eine zwei Zentimeter breite Tonscherbe als den einzigen Lohn ihrer harten Arbeit anpreist, dann verbirgt sich dahinter folglich mehr als das teutonische Pathos philosophischer Fakultäten. Wer der Scherbe dient, der glaubt daran, dass es Entsprechungen in dieser Welt gibt, ein Ganzes, von dem er oder sie selbst nur ein Teil ist. So erzählt man Liebe.
Kühmels Roman, sowohl für den Deutschen Buchpreis nominiert als auch der wohl heißeste Anwärter für den Aspekte-Literaturpreis, lebt vom Spiel mit den Scherben. Heimlich, ohne es zu ahnen, sind seine vier Figuren verbunden durch eine japanische Teetasse, die immer wieder von neuem zu Bruch geht und immer wieder von neuem - aber immer durch jemand anderen - zusammengeklebt wird. Die Liebenden einen die Risse, die sie voreinander verheimlichen, die sich aber durch ihr aller Leben ziehen, in feinen Verästelungen noch die Zimmerdecke des Wochenendhauses verzieren, unter der sie sich begegnen. "Sie", das sind Max und sein Lebensgefährte Reik - ein gut gehandelter Künstler -, Reiks erste Liebe Tonio sowie Tonios Tochter Pega. Jede dieser Figuren darf einmal vom Leben in der Scherbenwelt erzählen, und es versteht sich von selbst, dass es dabei stets um Vertrauen und Misstrauen gehen wird, um die stillen, kaum wahrnehmbaren Übergänge von Freundschaft und Leidenschaft, um Eifersucht - und Lust.
Kühmels Wahlverwandte lieben und leiden freilich meist im Stillen. Wohl erspüren sie, dass die Dinge im Schwange sind, dass sich alte Empfindungen nicht ohne weiteres nach neuen Realitäten richten, dass aus Vätern wieder Liebhaber werden könnten und aus einer gemeinsamen Ziehtochter wiederum die Geliebte eines der Väter. Aber eben: Diese Menschen verharren auf der Schwelle, sie sprechen von den Möglichkeiten zwischen ihnen, aber sie leben sie nicht. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit auf all das, was ohnehin nie ganz glatt war: Die Vita, die abwesenden Väter, die Mütter - entweder in Sucht oder Selbstverwirklichung aufgegangen -, die Deformationen, aus denen heraus man in Beziehungen stolpert oder die man in die Beziehungen mit hinübernimmt.
"Kintsugi" nimmt sich viel, sehr viel Zeit für diese bisweilen redundanten Erzählungen. Originalität ist hier freilich nicht das Gesuchte, geht es doch um Strukturen: Wie sich in der Teetasse noch vor ihrem Zerbrechen "ein Geflecht der kleinen Versehrtheiten" findet, "das sich mit jedem Aufguss vertieft", so speisen sich auch die Verhältnisse zwischen den Menschen aus ihren Verwundungen, mit denen sie nach und nach verwachsen. Wer keine Liebe kennt, der entwickelt dann - wie Reik - eine "Sucht danach, geliebt zu werden", die zwangsläufig größer wird als die Liebe, die er zu geben hat. Mit den erwartbaren promiskuitiven Folgen.
Die Gesetze, die dieser Roman etabliert, sind zweifelsohne psychologistischer Herkunft. Das ist nicht zwangsläufig von Vorteil, denn ebendieser Psychologismus verantwortet nicht nur eine Reihe bisweilen etwas bemühte Topflappensentenzen à la "Hilflosigkeit verdoppelt sich, wenn man sie nicht teilen kann" oder "Ihr gönnt euch einfach selbst nicht glücklich zu sein", sondern auch eine seltsam klischierte und in ihrer Unterkomplexität mit den Charakteren kaum zu vereinbarende Vater-Tochter-Beziehung. (Diese gipfelt im gebrüllten Verdikt "Du hast keinen Sex", das sich wiederum auf die Feststellung "Du bist meine Tochter!" gründet - da braucht es nun wirklich keinen Familientherapeuten mehr.) Zu bedauern ist dies nicht zuletzt, weil es Kühmel durchaus vermag, ihre vier Erzählstimmen über längere Strecken stimmig zu konturieren, ein eigenes Vokabular, einen spezifischen Redestil und im Falle von Pega sogar deutlich erkennbare Schwächen im Bezug auf grammatikalisch korrekte Satzanschlüsse zu verleihen.
Warum aber wird gerade einem solchen Text, der sich weniger darüber definiert, was geschieht - nach zwanzig Jahren trennt sich das Paar Max und Reik feierlich -, als vielmehr darüber, wie er das Ungeschehene inszeniert, eine dermaßen große Aufmerksamkeit zuteil? Vordergründig zielen die Kommentare auf den Aspekt der Diversität, auf die Selbstverständlichkeit, mit der hier Homo-, Bi- und Heterosexualität generationsübergreifend wie nebeneinander auf engstem Raum gelebt und beschrieben werden. Freilich täte man dem Roman schweres Unrecht, würde man ihn simplistisch auf die Thesenhaftigkeit seiner Figurenkonstellation, das "Aufwachsen mit drei Außenseitern" reduzieren wollen. Tatsächlich materialisiert sich in ihm noch etwas ganz anderes, nämlich die Furcht vor den "sauberen Brüchen", der "schriftlichen Division", die Pega von ihren Vätern gelernt hat. Die Kunst des klaren Schnitts wächst bei Kühmel zu einem biographischen, wo nicht gesellschaftlichen Problem heran. Man könnte aus den hier versammelten Lebensläufen problemlos auch die Geschichte der urbanen, also mittlerweile wieder dörflich-familial organisierten Mittelschicht erzählen, die sich zwischen den Kapiteln immer wieder zu kammerspielartigen Einlagen am gemeinsamen Küchentisch versammelt und ihr Befinden aushandelt. Dass diese Gemeinschaft geschichtlich ist, dass sie einen Anfang hat und ein Ende haben könnte (von dem die Prenzlauer-Berg-Romane Anke Stellings künden), dass die kreative Ausgestaltung ihrer Individualitäten womöglich zwischen unheilbaren sozialen Brüchen eingelagert sein könnte - das sind die Urängste, die zum Frühstück und Abendessen in diesem Milieu mit am Tisch sitzen.
Im kintsugi, womit man im Japanischen "das Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu reparieren", bezeichnet, stellt Kühmels Liebesexperiment der aufkeimenden Katastrophik dieses Lebensgefühls nun eine Selbstvergewisserung entgegen. Wo Adorno einst erkannt hatte, dass der "Ausdruck des Geschichtlichen an Dingen . . . nichts anderes als der vergangener Qual" ist, so glänzen hier am Ende "die Splitter, die Brüche" der Teeschale, "das Gold wie Adern aus Licht", bleibt immer noch der Schein "schlichter Eleganz", der Balance, von denen sich der Scherbensucher Max "mehr Halt" in seinem Leben verspricht. Dem Arrangement mit der Lüge der Geborgenheit, der vermeintlichen Unmöglichkeit echter Schnitte und scharfer Trennungen stiftet dieser Roman ein veritables Dingsymbol, an das man natürlich allzu gerne glaubt. Bei näherer Betrachtung aber - von Tasse wie Text - bleibt dann doch zu konstatieren: So schön es auch leuchten mag - das Ganze ist das Kaputte.
PHILIPP THEISOHN
Miku Sophie Kühmel: "Kintsugi". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2019. 304 S., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Reparieren der Liebe in unterschiedlichsten Formen: Miku Sophie Kühmels für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman "Kintsugi"
Die Scherbe zählt schon immer zu den semiotisch interessantesten Phänomenen des menschlichen Alltags. Selbst dort, wo sie vereinzelt auftritt, bedeutet sie uns, dass es noch mindestens ein anderes von ihr geben müsse. Scherben sind ein Versprechen auf Zweiheit, auf das Komplementäre, sind - um vielleicht allzu didaktisch zu werden - das Symbol aller Symbolik. Wenn Max, Juniorprofessor für Archäologie an einer Berliner Universität und einer der Protagonisten in Miku Sophie Kühmels Debütroman "Kintsugi", seinen Studierenden in einer etwas archaisch anmutenden Vorlesungsszene eine zwei Zentimeter breite Tonscherbe als den einzigen Lohn ihrer harten Arbeit anpreist, dann verbirgt sich dahinter folglich mehr als das teutonische Pathos philosophischer Fakultäten. Wer der Scherbe dient, der glaubt daran, dass es Entsprechungen in dieser Welt gibt, ein Ganzes, von dem er oder sie selbst nur ein Teil ist. So erzählt man Liebe.
Kühmels Roman, sowohl für den Deutschen Buchpreis nominiert als auch der wohl heißeste Anwärter für den Aspekte-Literaturpreis, lebt vom Spiel mit den Scherben. Heimlich, ohne es zu ahnen, sind seine vier Figuren verbunden durch eine japanische Teetasse, die immer wieder von neuem zu Bruch geht und immer wieder von neuem - aber immer durch jemand anderen - zusammengeklebt wird. Die Liebenden einen die Risse, die sie voreinander verheimlichen, die sich aber durch ihr aller Leben ziehen, in feinen Verästelungen noch die Zimmerdecke des Wochenendhauses verzieren, unter der sie sich begegnen. "Sie", das sind Max und sein Lebensgefährte Reik - ein gut gehandelter Künstler -, Reiks erste Liebe Tonio sowie Tonios Tochter Pega. Jede dieser Figuren darf einmal vom Leben in der Scherbenwelt erzählen, und es versteht sich von selbst, dass es dabei stets um Vertrauen und Misstrauen gehen wird, um die stillen, kaum wahrnehmbaren Übergänge von Freundschaft und Leidenschaft, um Eifersucht - und Lust.
Kühmels Wahlverwandte lieben und leiden freilich meist im Stillen. Wohl erspüren sie, dass die Dinge im Schwange sind, dass sich alte Empfindungen nicht ohne weiteres nach neuen Realitäten richten, dass aus Vätern wieder Liebhaber werden könnten und aus einer gemeinsamen Ziehtochter wiederum die Geliebte eines der Väter. Aber eben: Diese Menschen verharren auf der Schwelle, sie sprechen von den Möglichkeiten zwischen ihnen, aber sie leben sie nicht. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit auf all das, was ohnehin nie ganz glatt war: Die Vita, die abwesenden Väter, die Mütter - entweder in Sucht oder Selbstverwirklichung aufgegangen -, die Deformationen, aus denen heraus man in Beziehungen stolpert oder die man in die Beziehungen mit hinübernimmt.
"Kintsugi" nimmt sich viel, sehr viel Zeit für diese bisweilen redundanten Erzählungen. Originalität ist hier freilich nicht das Gesuchte, geht es doch um Strukturen: Wie sich in der Teetasse noch vor ihrem Zerbrechen "ein Geflecht der kleinen Versehrtheiten" findet, "das sich mit jedem Aufguss vertieft", so speisen sich auch die Verhältnisse zwischen den Menschen aus ihren Verwundungen, mit denen sie nach und nach verwachsen. Wer keine Liebe kennt, der entwickelt dann - wie Reik - eine "Sucht danach, geliebt zu werden", die zwangsläufig größer wird als die Liebe, die er zu geben hat. Mit den erwartbaren promiskuitiven Folgen.
Die Gesetze, die dieser Roman etabliert, sind zweifelsohne psychologistischer Herkunft. Das ist nicht zwangsläufig von Vorteil, denn ebendieser Psychologismus verantwortet nicht nur eine Reihe bisweilen etwas bemühte Topflappensentenzen à la "Hilflosigkeit verdoppelt sich, wenn man sie nicht teilen kann" oder "Ihr gönnt euch einfach selbst nicht glücklich zu sein", sondern auch eine seltsam klischierte und in ihrer Unterkomplexität mit den Charakteren kaum zu vereinbarende Vater-Tochter-Beziehung. (Diese gipfelt im gebrüllten Verdikt "Du hast keinen Sex", das sich wiederum auf die Feststellung "Du bist meine Tochter!" gründet - da braucht es nun wirklich keinen Familientherapeuten mehr.) Zu bedauern ist dies nicht zuletzt, weil es Kühmel durchaus vermag, ihre vier Erzählstimmen über längere Strecken stimmig zu konturieren, ein eigenes Vokabular, einen spezifischen Redestil und im Falle von Pega sogar deutlich erkennbare Schwächen im Bezug auf grammatikalisch korrekte Satzanschlüsse zu verleihen.
Warum aber wird gerade einem solchen Text, der sich weniger darüber definiert, was geschieht - nach zwanzig Jahren trennt sich das Paar Max und Reik feierlich -, als vielmehr darüber, wie er das Ungeschehene inszeniert, eine dermaßen große Aufmerksamkeit zuteil? Vordergründig zielen die Kommentare auf den Aspekt der Diversität, auf die Selbstverständlichkeit, mit der hier Homo-, Bi- und Heterosexualität generationsübergreifend wie nebeneinander auf engstem Raum gelebt und beschrieben werden. Freilich täte man dem Roman schweres Unrecht, würde man ihn simplistisch auf die Thesenhaftigkeit seiner Figurenkonstellation, das "Aufwachsen mit drei Außenseitern" reduzieren wollen. Tatsächlich materialisiert sich in ihm noch etwas ganz anderes, nämlich die Furcht vor den "sauberen Brüchen", der "schriftlichen Division", die Pega von ihren Vätern gelernt hat. Die Kunst des klaren Schnitts wächst bei Kühmel zu einem biographischen, wo nicht gesellschaftlichen Problem heran. Man könnte aus den hier versammelten Lebensläufen problemlos auch die Geschichte der urbanen, also mittlerweile wieder dörflich-familial organisierten Mittelschicht erzählen, die sich zwischen den Kapiteln immer wieder zu kammerspielartigen Einlagen am gemeinsamen Küchentisch versammelt und ihr Befinden aushandelt. Dass diese Gemeinschaft geschichtlich ist, dass sie einen Anfang hat und ein Ende haben könnte (von dem die Prenzlauer-Berg-Romane Anke Stellings künden), dass die kreative Ausgestaltung ihrer Individualitäten womöglich zwischen unheilbaren sozialen Brüchen eingelagert sein könnte - das sind die Urängste, die zum Frühstück und Abendessen in diesem Milieu mit am Tisch sitzen.
Im kintsugi, womit man im Japanischen "das Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu reparieren", bezeichnet, stellt Kühmels Liebesexperiment der aufkeimenden Katastrophik dieses Lebensgefühls nun eine Selbstvergewisserung entgegen. Wo Adorno einst erkannt hatte, dass der "Ausdruck des Geschichtlichen an Dingen . . . nichts anderes als der vergangener Qual" ist, so glänzen hier am Ende "die Splitter, die Brüche" der Teeschale, "das Gold wie Adern aus Licht", bleibt immer noch der Schein "schlichter Eleganz", der Balance, von denen sich der Scherbensucher Max "mehr Halt" in seinem Leben verspricht. Dem Arrangement mit der Lüge der Geborgenheit, der vermeintlichen Unmöglichkeit echter Schnitte und scharfer Trennungen stiftet dieser Roman ein veritables Dingsymbol, an das man natürlich allzu gerne glaubt. Bei näherer Betrachtung aber - von Tasse wie Text - bleibt dann doch zu konstatieren: So schön es auch leuchten mag - das Ganze ist das Kaputte.
PHILIPP THEISOHN
Miku Sophie Kühmel: "Kintsugi". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2019. 304 S., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrem Debütroman erweist sich Miku Sophie Kühmel als großes erzählerisches Talent. Gérard Otremba Rolling Stone 20200130
Karambolage auf dem Teeweg
Japan und Uckermark, Folie à quatre und moderne Familienaufstellung: Miku Sophie Kühmels Debütroman „Kintsugi“
Goldlack ist eine feine Sache. Mit ihm wurden feudale Insignien überzogen. Er ziert die Paläste der arabischen Emire und Trumps Gemächer, auch der Trump Tower glänzt wie mit Goldlack überzogen, erst recht, wenn er in die karge Landschaft Grönlands montiert ist. Und kürzlich leuchtete feinstes Blattgold auf dem Steak von Franck Ribéry in einem Restaurant in Dubai. Der Beleg, dass man Geld auch essen kann. Das ist die Machtseite, das ewige Eldorado. Seine unendliche Verweiskraft zieht es aus der spirituellen Goldsphäre. Gott ist Gold auf den spätmittelalterlichen Bildtafeln. Es überzieht den Himmel und macht ihn zum überirdischen Reich. Und von all dem zieht sich eine dünne Goldspur bis in unsere säkulare Gegenwart, in Boudoirs und Accessoires, Halsketten für Rapper und Feinstaub für Filigrankünstler.
Das japanische Wort Kintsugi heißt so viel wie Goldflicken und meint eine traditionelle Reparaturmethode für Keramik, bei der feinstes Pulvergold verwandt wird. Der S.-Fischer-Verlag hat leider keine Vorzugsausgabe von Miku Sophie Kühmels erstem Roman „Kintsugi“ herausgebracht, bei der das Gold auf dem Buchumschlag nicht normal gedruckt, sondern leicht erhaben aufgetragen wäre. Das hätte dem kunsthandwerklichen Buch, das es auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat, den handfesten kunsthandwerklichen Mehrwert mitgegeben.
„Goldflicken“ also. Wo geflickt wird, muss etwas zerbrochen sein. Tatsächlich kracht es im Roman einmal richtig stofflich, wenn Max, der Archäologe unter den vier Personen des Kammerspiels, mit einem Schlag ein ganzes Regal abräumt, mit echtem japanischem Teegeschirr drauf. Er hatte es von einer Japanreise mit seinem So-gut-wie-Ehemann Reik nach Hause gebracht – und nun Peng: „Der Krach war herrlich. Der Schlag tat gut, ließ die Wände um mich her und die Gegend und den ganzen See erzittern.“
Das klingt nach Befreiung, und tatsächlich packt Max seine Koffer, um Reik und das gemeinsame Haus am See in der Uckermark hinter sich zu lassen. Doch dann muss der charismatische Archäologieprofessor doch reparieren, was zu reparieren war. „Die Teeschale war sehr gut gebrochen, sodass man sie wie ein Puzzle wieder zusammengesetzt bekam … Reik sagte ich nichts. Und ich weiß, bis heute hat er das nicht gesehen.“
Hier hat man fast alles zusammen, was den Kern einer parabelhaften Geschichte über Liebe, Abhängigkeit, Trennung, Heilung ausmachen könnte. Und Kintsugi wäre dann ein Stellvertreter auch für die literarische Technik des Flickens/Heilens widerstrebender Leidenschaften. Ein Bild für die heilende Macht der Kunst, der Literatur zumal, und also auch dieses Buches mit dem Titel „Kinsugi“. So schlicht, so wunsch-weise, so spirituell aufgeladen ist Miku Sophie Kühmels Unternehmen tatsächlich. Eine Teeschale mit schönen feinen Rissen. Es wimmelt in diesem Beziehungsbuch nur so von „zarten“, „sachten“, „weichen“ Gesten, von Dingen, die sich schmiegen und fügen und freundlich Antwort geben. Das ist, wie jedes Kunsthandwerk, Erlösung light, aber na ja.
Das Problem ist nur, dass die noch junge Autorin, Jahrgang 1992, unendlich viel mehr will als das. Sie zielt auf eine Art Beziehungsweltliteratur, die es mit Goethes „Wahlverwandtschaften“ ebenso aufnimmt wie mit Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“, sich intensiv auf Jacques Derays „Der Swimmingpool“ und das Remake „A bigger Splash“ bezieht, zudem auf Eric Rohmers „Pauline am Strand“. Selbst Martin Walsers „Fliehendes Pferd“ galoppiert vorbei. Es ist die von erotischer Anziehung und Abstoßung hoch dramatisierte Viererkonstellation, die der literaturwissenschaftlich ausgebildeten Autorin (Abschlussarbeit über die Verfilmung von Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“) als literarische Aufgabe gerade groß genug erscheint; die Folie à quatre mit ihren vielfach gebrochenen, gespiegelten, umgelenkten, aufgestauten und fehlgeleiteten Wünschen.
Schon die enorme Komplexität, die von vierstelligen Begehrenskonstellationen ausgeht, ist eine extreme Herausforderung, die am besten durch Reduktion und strenge symbolische Arithmetik bearbeitet wird, wie bei fast allen oben genannten Referenzen. Doch die Autorin wählt den entgegengesetzten Weg der maximalen Stoffanhäufung. Sie erzählt von den Familien und Kindheiten und Jugendsünden aller Beteiligten, fokussiert traumatische Urszenen in Reihe, und lässt sie vor allem von vier Ich-Erzählern vortragen, gerahmt von zwei auktorial erzählten Kapiteln und unterbrochen durch vier theatermäßige Gesprächsszenen am Frühstücks- und Abendbrottisch. Das formale Kalkül kriegt das inhaltliche Chaos nie in den Griff.
Vier Menschen treffen sich an zwei Tagen in der noblen uckermärkischen Datsche. Der renommierte Archäologe Max und der wohlhabende Weltkünstler Reik, beide vom Charisma so sehr erleuchtet, dass es in der winterlich dunklen Stube eigentlich kein Kunstlicht braucht. Die beiden Männer sind genau zwanzig Jahre zusammen, wegen antibourgeoiser Einstellungen zwar nicht verheiratet, feiern aber dennoch „Porzellanhochzeit“(!).
Dazu eingeladen sind lediglich Tonio und seine gerade achtzehn gewordene Tochter Pega (in Derays „Swimming Pool“ heißt die achtzehnjährige Tochter Penelope, bei Eric Rohmer die Fünfzehnjährige Pauline). Reik hatte eine Beziehung zu Tonio, als Pega geboren wurde. Und da die Mutter in diesem Fall nicht da war, wurde Pega Reiks Liebling. Später allerdings, bis in die erzählten zwei Tage hinein, wurde Max der angebetete väterliche und erotische Liebling von Pega.
Diese Vier erzählen uns nun die Geschichte ihrer in aller Regel sowohl adorierten als auch sexuell begehrten Familienmitglieder. Eine biologisch-genealogisch determinierte Familie ist die dauerstimulierte Vierergruppe freilich nicht, sondern eine neue, kulturell bewusst konstruierte Familie. In den Herkunftsfamilien, an deren Stelle sie tritt, fehlen zur Verdeutlichung die Väter ganz, und die Mütter sind beschädigt oder unfähig.
Nicht nur erzählen also alle vier Protagonisten von ihren leidenschaftlichsten Momenten mit den jeweils drei anderen, sie erleben zwischen den langen monologischen Rückblicken zudem eine uckermärkische Gegenwart, in welche die gesamte komplizierte Lebens-Liebesmüh mündet: in eine seltsam forcierte Ereignishaftigkeit mit viel zu viel Liebe, Sex, Kunst und Palaver.
Der Roman fliegt Miku Sophie Kühmel sozusagen um die Ohren. Peng! Und dem geneigten Leser auch. Doch hat die Autorin ja mit dem spirituellen Goldschatz vorgebeugt. So verlässt am Ende Max die kleine Familiengesellschaft mit gepackten Koffern und den Worten „Vielleicht finde ich Horaisan. Ich werde es nicht suchen, weil ich es sonst nicht finden kann.“
Horaisan ist ein größerer Stein, der eine für Menschen unzugängliche Götterinsel in einem spirituellen japanischen Steingarten symbolisiert. Die letzten Worte des Romans lauten wie folgt: „auf dem Sideboard … steht neben dem Pinsel aus Holz und dem gusseisernen Kännchen auch, wieder zusammengesetzt, die Teeschale. Und an den Stellen, wo die Risse waren, die Splitter, die Brüche, glänzt in verästelten Linien das Gold wie Adern aus Licht.“ Goldlack ist eben eine feine Sache.
HUBERT WINKELS
Miku Sophie Kühmel: Kintsugi. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 297 Seiten, 21 Euro.
Es wimmelt in diesem Roman von
Dingen, die sich fügen und
freundlich Antwort geben
Die japanische Technik des Goldflickens inspiriert nicht nur die Literatur, sondern auch Keramikdesigner weltweit.
Foto: imago images / ZUMA Press
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Japan und Uckermark, Folie à quatre und moderne Familienaufstellung: Miku Sophie Kühmels Debütroman „Kintsugi“
Goldlack ist eine feine Sache. Mit ihm wurden feudale Insignien überzogen. Er ziert die Paläste der arabischen Emire und Trumps Gemächer, auch der Trump Tower glänzt wie mit Goldlack überzogen, erst recht, wenn er in die karge Landschaft Grönlands montiert ist. Und kürzlich leuchtete feinstes Blattgold auf dem Steak von Franck Ribéry in einem Restaurant in Dubai. Der Beleg, dass man Geld auch essen kann. Das ist die Machtseite, das ewige Eldorado. Seine unendliche Verweiskraft zieht es aus der spirituellen Goldsphäre. Gott ist Gold auf den spätmittelalterlichen Bildtafeln. Es überzieht den Himmel und macht ihn zum überirdischen Reich. Und von all dem zieht sich eine dünne Goldspur bis in unsere säkulare Gegenwart, in Boudoirs und Accessoires, Halsketten für Rapper und Feinstaub für Filigrankünstler.
Das japanische Wort Kintsugi heißt so viel wie Goldflicken und meint eine traditionelle Reparaturmethode für Keramik, bei der feinstes Pulvergold verwandt wird. Der S.-Fischer-Verlag hat leider keine Vorzugsausgabe von Miku Sophie Kühmels erstem Roman „Kintsugi“ herausgebracht, bei der das Gold auf dem Buchumschlag nicht normal gedruckt, sondern leicht erhaben aufgetragen wäre. Das hätte dem kunsthandwerklichen Buch, das es auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat, den handfesten kunsthandwerklichen Mehrwert mitgegeben.
„Goldflicken“ also. Wo geflickt wird, muss etwas zerbrochen sein. Tatsächlich kracht es im Roman einmal richtig stofflich, wenn Max, der Archäologe unter den vier Personen des Kammerspiels, mit einem Schlag ein ganzes Regal abräumt, mit echtem japanischem Teegeschirr drauf. Er hatte es von einer Japanreise mit seinem So-gut-wie-Ehemann Reik nach Hause gebracht – und nun Peng: „Der Krach war herrlich. Der Schlag tat gut, ließ die Wände um mich her und die Gegend und den ganzen See erzittern.“
Das klingt nach Befreiung, und tatsächlich packt Max seine Koffer, um Reik und das gemeinsame Haus am See in der Uckermark hinter sich zu lassen. Doch dann muss der charismatische Archäologieprofessor doch reparieren, was zu reparieren war. „Die Teeschale war sehr gut gebrochen, sodass man sie wie ein Puzzle wieder zusammengesetzt bekam … Reik sagte ich nichts. Und ich weiß, bis heute hat er das nicht gesehen.“
Hier hat man fast alles zusammen, was den Kern einer parabelhaften Geschichte über Liebe, Abhängigkeit, Trennung, Heilung ausmachen könnte. Und Kintsugi wäre dann ein Stellvertreter auch für die literarische Technik des Flickens/Heilens widerstrebender Leidenschaften. Ein Bild für die heilende Macht der Kunst, der Literatur zumal, und also auch dieses Buches mit dem Titel „Kinsugi“. So schlicht, so wunsch-weise, so spirituell aufgeladen ist Miku Sophie Kühmels Unternehmen tatsächlich. Eine Teeschale mit schönen feinen Rissen. Es wimmelt in diesem Beziehungsbuch nur so von „zarten“, „sachten“, „weichen“ Gesten, von Dingen, die sich schmiegen und fügen und freundlich Antwort geben. Das ist, wie jedes Kunsthandwerk, Erlösung light, aber na ja.
Das Problem ist nur, dass die noch junge Autorin, Jahrgang 1992, unendlich viel mehr will als das. Sie zielt auf eine Art Beziehungsweltliteratur, die es mit Goethes „Wahlverwandtschaften“ ebenso aufnimmt wie mit Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“, sich intensiv auf Jacques Derays „Der Swimmingpool“ und das Remake „A bigger Splash“ bezieht, zudem auf Eric Rohmers „Pauline am Strand“. Selbst Martin Walsers „Fliehendes Pferd“ galoppiert vorbei. Es ist die von erotischer Anziehung und Abstoßung hoch dramatisierte Viererkonstellation, die der literaturwissenschaftlich ausgebildeten Autorin (Abschlussarbeit über die Verfilmung von Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“) als literarische Aufgabe gerade groß genug erscheint; die Folie à quatre mit ihren vielfach gebrochenen, gespiegelten, umgelenkten, aufgestauten und fehlgeleiteten Wünschen.
Schon die enorme Komplexität, die von vierstelligen Begehrenskonstellationen ausgeht, ist eine extreme Herausforderung, die am besten durch Reduktion und strenge symbolische Arithmetik bearbeitet wird, wie bei fast allen oben genannten Referenzen. Doch die Autorin wählt den entgegengesetzten Weg der maximalen Stoffanhäufung. Sie erzählt von den Familien und Kindheiten und Jugendsünden aller Beteiligten, fokussiert traumatische Urszenen in Reihe, und lässt sie vor allem von vier Ich-Erzählern vortragen, gerahmt von zwei auktorial erzählten Kapiteln und unterbrochen durch vier theatermäßige Gesprächsszenen am Frühstücks- und Abendbrottisch. Das formale Kalkül kriegt das inhaltliche Chaos nie in den Griff.
Vier Menschen treffen sich an zwei Tagen in der noblen uckermärkischen Datsche. Der renommierte Archäologe Max und der wohlhabende Weltkünstler Reik, beide vom Charisma so sehr erleuchtet, dass es in der winterlich dunklen Stube eigentlich kein Kunstlicht braucht. Die beiden Männer sind genau zwanzig Jahre zusammen, wegen antibourgeoiser Einstellungen zwar nicht verheiratet, feiern aber dennoch „Porzellanhochzeit“(!).
Dazu eingeladen sind lediglich Tonio und seine gerade achtzehn gewordene Tochter Pega (in Derays „Swimming Pool“ heißt die achtzehnjährige Tochter Penelope, bei Eric Rohmer die Fünfzehnjährige Pauline). Reik hatte eine Beziehung zu Tonio, als Pega geboren wurde. Und da die Mutter in diesem Fall nicht da war, wurde Pega Reiks Liebling. Später allerdings, bis in die erzählten zwei Tage hinein, wurde Max der angebetete väterliche und erotische Liebling von Pega.
Diese Vier erzählen uns nun die Geschichte ihrer in aller Regel sowohl adorierten als auch sexuell begehrten Familienmitglieder. Eine biologisch-genealogisch determinierte Familie ist die dauerstimulierte Vierergruppe freilich nicht, sondern eine neue, kulturell bewusst konstruierte Familie. In den Herkunftsfamilien, an deren Stelle sie tritt, fehlen zur Verdeutlichung die Väter ganz, und die Mütter sind beschädigt oder unfähig.
Nicht nur erzählen also alle vier Protagonisten von ihren leidenschaftlichsten Momenten mit den jeweils drei anderen, sie erleben zwischen den langen monologischen Rückblicken zudem eine uckermärkische Gegenwart, in welche die gesamte komplizierte Lebens-Liebesmüh mündet: in eine seltsam forcierte Ereignishaftigkeit mit viel zu viel Liebe, Sex, Kunst und Palaver.
Der Roman fliegt Miku Sophie Kühmel sozusagen um die Ohren. Peng! Und dem geneigten Leser auch. Doch hat die Autorin ja mit dem spirituellen Goldschatz vorgebeugt. So verlässt am Ende Max die kleine Familiengesellschaft mit gepackten Koffern und den Worten „Vielleicht finde ich Horaisan. Ich werde es nicht suchen, weil ich es sonst nicht finden kann.“
Horaisan ist ein größerer Stein, der eine für Menschen unzugängliche Götterinsel in einem spirituellen japanischen Steingarten symbolisiert. Die letzten Worte des Romans lauten wie folgt: „auf dem Sideboard … steht neben dem Pinsel aus Holz und dem gusseisernen Kännchen auch, wieder zusammengesetzt, die Teeschale. Und an den Stellen, wo die Risse waren, die Splitter, die Brüche, glänzt in verästelten Linien das Gold wie Adern aus Licht.“ Goldlack ist eben eine feine Sache.
HUBERT WINKELS
Miku Sophie Kühmel: Kintsugi. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 297 Seiten, 21 Euro.
Es wimmelt in diesem Roman von
Dingen, die sich fügen und
freundlich Antwort geben
Die japanische Technik des Goldflickens inspiriert nicht nur die Literatur, sondern auch Keramikdesigner weltweit.
Foto: imago images / ZUMA Press
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