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Der Kiosk an der nächsten Straßenecke - nach außen hin hat er vielerlei zu bieten. Innen, im Halbdunkel, sitzt ein Mann oder eine frau, was die sich denken, steht auf einem anderen Blatt. Früher freilich waren Kioske nicht im Zentrum der Städte zu finden, sondern in stillen Parks und weitläufigen Gärten. Hans Magnus Enzensbergers Gedichte sind an beiden Orten angesiedelt. Sie nehmen die grellen Widersprüche und die bunten Lügen einer maroden, marodierenden Zivilisation ebenso auf wie jenes meditative Hintergrundrauschen, das nur im Abseits zu vernehmen ist. Mit irritierender Leichtigkeit…mehr

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Produktbeschreibung
Der Kiosk an der nächsten Straßenecke - nach außen hin hat er vielerlei zu bieten. Innen, im Halbdunkel, sitzt ein Mann oder eine frau, was die sich denken, steht auf einem anderen Blatt.
Früher freilich waren Kioske nicht im Zentrum der Städte zu finden, sondern in stillen Parks und weitläufigen Gärten. Hans Magnus Enzensbergers Gedichte sind an beiden Orten angesiedelt. Sie nehmen die grellen Widersprüche und die bunten Lügen einer maroden, marodierenden Zivilisation ebenso auf wie jenes meditative Hintergrundrauschen, das nur im Abseits zu vernehmen ist. Mit irritierender Leichtigkeit beqwegt sich diese Poesie zwischen dem Wunder und der Katastrophe.
Vom intimen Detail bis zur kosmischen Totale - und umgekehrt - ist es für diesen Autor nur ein kleiner Schritt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Autorenporträt
Enzensberger, Hans Magnus
Hans Magnus Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren geboren. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und Übersetzer ist er einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.1995

Alter Dachdecker
Enzensbergers neuer Gedichtband · Von Ernst Osterkamp

Zum Beispiel "Carceri d'invenzione" ("Blindenschrift"), "Abendmahl. Venezianisch, 16. Jahrhundert" ("Der Untergang der Titanic"), "Gillis van Coninxloo, Landschaft" ("Zukunftsmusik") und heute, am Kiosk, "Paolo di Dono, genannt Uccello": schon immer hat Hans Magnus Enzensberger die alten Meister geliebt. Mittlerweile ist er selber einer. Ob er sich Fremdenfeindlichkeit oder die Innenwelt der eigenen Organe, Armut oder das Ende der Menschheit zum Gegenstand wählt, nicht einen Augenblick hat der Leser zu fürchten, daß diesen Dichter seine eminente Metiersicherheit verläßt: herrliche Parallelismen, hinreißende Assonanzen, Anaphern nur vom Feinsten, dann auch ein Sonett, wie es sein soll. "So etwas", sprach einst bescheiden Thomas Mann, als ihm Theodor Adorno für seine Beschreibung von Wendell Kretzschmars Stotterorgien im "Doktor Faustus" ein Kompliment machte, "so etwas können wir." Und "so etwas können wir" sagt auch jeder Vers von Enzensbergers neuem Gedichtbuch, wovon er auch handeln mag. Denn wo der Blick eines alten Meisters auf unsere alltägliche Apokalypse fällt, entsteht zunächst und vor allem: das Kunstschöne.

Wer wollte dies geringschätzen? Zu rühmen sind an Enzensbergers neuen Gedichten wie immer sein Formbewußtsein, die sprachliche Präzision, die äußerste Sensibilität für geistig-politische Klimaschwankungen, der urbane Witz, die Skepsis gegenüber dogmatischen Festlegungen, entschiedene Zeitgenossenschaft: seltene Tugenden in der deutschen Gegenwartsliteratur. Falsche Vergleiche, schiefe Bilder, stilistische Entgleisungen, dieser große Artist erspart sie uns, und daß er gelegentlich ein wenig selbstverliebt seine Virtuosität in Form manieristischer Sprachspiele ausstellt, wen könnte dies irritieren in Zeiten, die man noch vor kurzem postmodern genannt hätte: "Die Andacht des Anfangs/ist dir abhanden gekommen/Ein Omega ist nicht in Sicht."

Selbst dort noch, wo Enzensberger, wie in dem Gedicht "Der Krieg, wie" angesichts der Allgegenwärtigkeit von Gewalt, an die Grenzen der Sprache zu gelangen scheint, tut er dies auf formvollendete Weise, man liest diese wortgewaltige Beschwörung sprachlicher Ohnmacht gegenüber dem bellum omnium in omnes mit dem gleichen Vergnügen wie, sagen wir, den Chandos-Brief. Daß das Grauen über "Mord Gift Krieg", Tag für Tag feilgeboten am Kiosk "an der nächsten Ecke", ihm tatsächlich einmal die Sprache verschlüge oder sich zumindest als ein Riß in der Form zeigen würde, damit ist wohl nicht mehr zu rechnen. Kurz, Hans Magnus Enzensbergers neue Gedichte sind von Alpha bis Omega ein pures Lesevergnügen.

Von dem Autor der wütendsten und klügsten Gedichte der deutschen Nachkriegsliteratur aber hätten wir mehr erwartet. Sein Gedicht muß ja nicht immer gleich ein Messer sein, aber ein bißchen kratzen sollte es uns doch schon. Enzensbergers neue Lyrik jedoch entstammt dem irenischen Geist des Wissenschaftskollegs zu Berlin, dem der Autor zu Beginn für seine Gastfreundschaft dankt: einem Ort der Ruhe, des Nachdenkens, auch einer gewissen Distanz zur Härte des Alltags. Mag sein, daß die meisten von Enzensbergers Gedichten dort gar nicht entstanden sind, und doch fiele einem kein besserer Ort ein, an dem sie hätten entstehen können.

Den genauen Gegensatz aber zum Wissenschaftskolleg bildet der Kiosk: ein Ort von geringer Verweildauer, an dem sich eine gehetzte Laufkundschaft mit bunten Blättern, Zeitungen für kluge Köpfe und junk food für den kleinen Hunger zwischendurch versorgt, leicht verderblicher Ware allzumal. Welch wunderbar ironischer Titel für einen Gedichtband! Nur besagt er hier nicht viel mehr, als daß Enzensbergers neues Buch Gedichte vermischten Inhalts mit dem Anspruch auf Aktualität enthält. Nichts von den grellen Effekten, den Geschmacklosigkeiten, dem schamlosen Willen zur Eindeutigkeit, wie sie für gewöhnlich die Ästhetik des Kiosks bestimmten, nichts vom ruppigen Charme seiner Betreiber, dem Schmutz und Gestank seiner Umgebung haben diese Gedichte sich zu eigen gemacht, und so zuckt der Leser schon zusammen, wenn er plötzlich doch auf eine ortsübliche Reflexion über das Erhabene stößt: "Unbegreiflich,/was so sublim ist/am bloßen Arsch einer Frau." Erleichtertes Aufatmen. Hier wird wenigstens einmal die Grenze der political correctness gestreift! Sonst aber herrscht an diesem Kiosk der kultivierte Ton eines Salons, bei dessen Gastgeber sich mit den Jahren unabweisbar das metaphysische Bedürfnis meldet, einer unbekannten Instanz dafür zu danken, daß er es auf Erden so schlecht nicht getroffen hat: "Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,/für die Zahl e und für das Koffein,/und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,/gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,/für den Schlaf ganz besonders."

Wo der Homo politicus Enzensberger, wie im ersten, "Geschichtsklitterung" überschriebenen Teil, in seinen Gedichten zur Gewalt gegen Asylanten, zur Migration der Armen, zur Brutalisierung des Alltags Stellung bezieht, da sind dies vernünftige Reaktionen eines vernünftigen Zeitungslesers, denen kein Vernünftiger seine Zustimmung versagen wird. Diese Gedichte empfehlen sich zur sofortigen Aufnahme ins Lesebuch für die Oberstufe. Allerdings kommt gerade hier Enzensberger der Diktion gehobener Leitartikel gefährlich nahe: "Jahrzehntelang gestauchter Haß./Absichten zählen kaum./Noch mehr Nomaden/taumeln über die Straßen." Oder: "alles kommt über Satellit,/wird gespeichert d.h. vergessen." Doch findet sich hier auch das wunderbar zarte, melancholische Erinnerungsstück "Frühschriften", mit dem Enzensberger jener Namenlosen ein lyrisches Denkmal setzt, die ihn in den grauen fünfziger Jahren mit den Marxschen Frühschriften vertraut gemacht hat: "Sommersprossen,/mitten im Winter,/rührende Ungeduld." Physiognomie der Hoffnung in kalten Zeiten. Bei der vergeblichen Suche nach dem zerfledderten Band fällt dem Dichter plötzlich die Geberin ein: Vor Jahren hat mir einer gesagt, irgendeiner, vor Jahren, am Telephon, nebenbei, sie habe sich umgebracht.

Nichts erinnert an sie an diesem warmen Mittwoch im Mai, heute, nicht einmal ein zerlesenes Buch.

In Enzensbergers Lyrik kam der Erinnerung als poetischer Einbildungskraft schon immer große Bedeutung zu: so im "Mausoleum" und im "Untergang der Titanic". In seinen neuen Gedichten nun treten die privaten Erinnerungen stärker hervor: der Geist des Vaters, das folgenlose "Palavern" damals, "tropische Abende in Thessaloniki", "helle Nächte am Ofotfjord", auch die "Frauen von früher", sie "zerfließen langsam,/immer bleicher werdend/in der Emulsion der Jahre". Das Leben stellt sich dar als eine Summe von Enttäuschungen, von der "Mama, die ihrem Schreihals den Rücken zugewandt hat", über den Kommunismus bis zum verschossenen Elfmeter. Dagegen setzt Enzensberger aber die Paradoxie des nie verlorenen Glaubens an den guten Ausgang: "Wunderbar also, daß wir zeitlebens, immer von neuem,/geglaubt haben an das Gute im Menschen - und überhaupt." ("Enttäuscht"). Es fällt schwer, angesichts solcher Bilanzen nicht von Altersmilde zu sprechen.

Natürlich vermeidet es Enzensberger mit dem ihm eigenen Taktgefühl den persönlichen Belangen gegenüber, die Erfahrung des Alterns offen zu thematisieren. Wo er es tut, geschieht dies allenfalls in Gestalt eines kunstvollen Rollenspiels in dem hinreißend schwerelosen Gedicht "von oben gesehen", in dem er das Porträt des Künstlers als "alter Dachdecker" zeichnet. Da aber ist ihm das Alter nicht eine Kategorie des körperlichen Verfalls, sondern der gewonnenen Meisterschaft, der in lebenslanger Übung erlangten Fähigkeit zur artistischen Überwindung des Tatsächlichen und Alltäglichen aufgrund vollkommener Materialbeherrschung: Schwindelfrei wie ein alter Dachdecker, behende, von denen, die auf dem Boden der Tatsachen bleiben, nicht weiter beachtet, zu zaubern, freihändig, mit geübtem Griff, wenn alles gut geht, hoch oben ein unscheinbares Wunder zu vollbringen.

In jedem der vier Teile des Buchs findet sich ein "Gedankenflucht" überschriebener Text, in dem Enzensberger den Prozeß der Selbstbefragung und Selbstvergewisserung innerhalb einer ziellos und chaotisch verlaufenden Geschichte, die nur noch als intermittierende Folge von Katastrophen erfahren wird ("Dann/ein neuer Schlagfluß der Geschichte,/und es geht wieder los."), aufgreift und vorantreibt: "Auch du, mein Alter, läßt dich bewegen,/bewegst dich. Bei aller Liebe./Wozu?" Auf Fragen wie diese wird niemand mehr im Ernst eine Antwort erwarten.

Die Summe der Gewißheiten schrumpft unaufhaltsam, alle Identitätskonzepte geraten ins Wanken ("Der Alte kannst du nicht bleiben."), die nationalen und kulturellen Bindungen lösen sich auf ("Unter uns bleiben wir nicht."), ja das Ende der Menschheit selbst erscheint absehbar ("Bei uns bleibt es nicht."). Da bleibt der im "Müll" der Geschichte "unermüdlich, nach Weisheiten" wühlenden "bis auf weiteres/unsterblichen Seele" - einer "kleinen Pilgerin" auf "chaotischer Bahn" - nur eines noch: mit der Ungewißheit zu leben und die Widersprüche auszuhalten: "unabsehbar/bewege ich mich, bin bewegt,/bis auf weiteres bleibe ich,/in der Schwebe."

Kein schlechter Zustand für einen Artisten, dem des alten Dachdeckers durchaus vergleichbar. Und so schaffen denn auch hier wieder die wundervollen Enzensbergerschen Assonanzen im Chaos der Geschichte auf altmeisterliche Weise eine Insel der Harmonie, seelische Balance, jenen wundersamen künstlerischen Ausgleich, welcher der durch all die quälenden Fragen verstörten kleinen Pilgerin die ersehnte Beruhigung gewährt. In dieser Schwebe wird sich auch der Leser gerne halten lassen: bis auf weiteres.

Hans Magnus Enzensberger: "Kiosk". Neue Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 134 S., geb., 34,- DM.

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