Der Konflikt um die Mitwirkung der katholischen Kirche in Deutschland an der nachweispflichtigen Schwangerschaftskonfliktberatung brachte die Kirche an den Rand der Spaltung. Von 1993 bis 1999 wurde die Problematik eines katholischen Beratungsscheins unter den deutschen Bischöfen, zwischen der Mehrheit der Bischöfe und Rom und unter den deutschen Katholiken kontrovers diskutiert. Niemals im 20. Jahrhundert hat ein kirchliches Thema auch derart die Öffentlichkeit beschäftigt. Johannes Paul II. hat sich in fünf Briefen der Mitwirkung der Kirche in Deutschland an der nachweispflichtigen Schwangerschaftskonfliktberatung widersetzt, weil der Schein die zentrale Bedingung der Straflosigkeit einer Abtreibung ist. Die Arbeit zeigt die Ursache und den Verlauf dieses Konflikts bis zur Entscheidung im November 1999 und insbesondere seine Entstehung im Juni 1993. Sie geht den Gründen nach, weshalb die Verteidigung des deutschen Beratungskonzepts gegen Rom immer mehr die Verteidigung der kirchlichen Lehre gegen den Gesetzgeber überlagerte. Sie erörtert die Bedeutung des Beratungsscheins in rechtlicher, moraltheologischer, sozialethischer, pastoraltheologischer und philosophischer Perspektive und die Besonderheiten der deutschen Abtreibungsgesetzgebung. Sie zeigt im neuen Kapitel IV der zweiten Auflage die weitere Entwicklung des katholischen Beratungswesens bis zum Jahr 2007. Im Zentrum dieses Kapitels stehen die Konflikte um den Verein "Donum Vitae".
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2001Was gestern Recht war, kann heute nicht Unrecht sein
Schlimmes tun, um Schlimmeres zu verhüten: Wie die katholische Kirche sich in das Abtreibungssystem verstrickte
Seit Anfang der siebziger Jahre ist der § 218 StGB, der bis dahin die Abtreibung (fast) ausnahmslos unter Strafe stellte, in der politischen Debatte und in der Öffentlichkeit zu einem Dauerthema geworden. Auch als 1976 dem Verlangen nach einer Liberalisierung mittels einer Indikationenregelung und 1995 mittels einer Fristenregelung mit Beratungsangebot entsprochen wurde und die Mehrheit der Politiker dieses Thema als erledigt betrachten wollte, ist die Auseinandersetzung nicht zur Ruhe gekommen. In der Tat kann der Streit nicht zu Ende gehen, solange das Grundgesetz der Bundesrepublik das Recht auf Leben zu den "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" zählt.
In diesem Rahmen ist der Konflikt innerhalb der katholischen Kirche angesiedelt, dessen "Ursachen und Verlauf" in dem Buch Manfred Spiekers ausführlich und verständlich dargelegt werden. Freilich handelt es sich um einen Konflikt, der in der Kirche im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft eine weitere Verschärfung erfahren hat. Denn das alle Menschen bindende Naturrecht gehört als Gottesrecht zu dem von der Kirche vertretenen Menschenbild und damit zu ihrer Morallehre.
Der Widersprüchlichkeit der staatlichen Abtreibungsregelung konnte sich die Kirche in Deutschland nicht entziehen, als sie sich bereit erklärte, eigene, vom Gesetz vorgesehene Beratungsstellen einzurichten. Denn damit war die Hilfe zum Leben, die die Kirche überall auf der Welt, den Umständen entsprechend, leistet, mit der Gewährung der Straffreiheit für die eventuell folgende Abtreibung unzertrennlich verbunden. Denn gerade dies zeichnet die vom Gesetz festgelegte "Konfliktberatung" aus.
Manfred Spieker, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, hat sich in den letzten Jahren mehrmals zu diesem Konflikt zu Wort gemeldet. In seinem Buch konnte er ein umfangreiches Material, einschließlich bisher unveröffentlichter Briefe, Protokolle und Memoranden, auswerten und in einer übersichtlichen Darlegung aufschlüsseln. Der Leser kann in einer gut lesbaren Gesamtschau eine tragische Verwicklung in die herrschende Kultur des Todes verfolgen, aus der die Ortskirche sich nur deshalb befreien konnte, weil Papst Johannes Paul II. in einem geduldigen Dialog und durch wiederholte, taktvolle Weisungen ihr dazu die Hand gereicht hat.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Zuerst werden die "rechtlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs" und dann "die Position der katholischen Kirche" dargelegt. Ein letzter, kürzerer Teil geht auf die mehrfache Bedeutung des Beratungsscheins und auf die politische Dimension des Konflikts ein und entwickelt Perspektiven zur Lösung des Konflikts.
Besondere Aufmerksamkeit wird dem ersten Urteil des Bundesverfassungsgerichts gewidmet, das die Fristenregelung von 1974 verwarf und eine Reihe von Leitsätzen formulierte. In ihnen wurde das Recht der Leibesfrucht auf Leben deutlich über das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren gestellt, zugleich aber ein verhängnisvolles Prinzip der Unzumutbarkeit für die Schwangere gebilligt, das ihrer Entscheidung zur Abtreibung den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung zuerkannte. Von einer solchen Qualifikation dieser Entscheidung rückte allerdings das Bundesverfassungsgericht in seinem Abtreibungsurteil von 1993 wieder ab.
An der schließlich 1976 in Kraft getretenen Indikationenregelung werden hier zwei Kennzeichen hervorgehoben: Eine Notlageindikation, die sich bald zum Ersatz für die verbotene Fristenregelung entwickelte, und eine verkappte Fristenregelung in § 218 Abs. 3, Satz 2, der jede Abtreibung nach Beratung straffrei stellte. Damit bekam die Beratung eine viel größere Bedeutung, als sie bloß aufgrund der Indikationenregelung gehabt hätte. Weder dieser Umstand noch die sich im Laufe der Jahre mehrenden Einwände konnten die Bischöfe bewegen, ihre Mitwirkung an einem Gesetz aufzukündigen, das auch die neue Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP in keiner Weise zu verbessern sich bemühte.
Von noch größerem Interesse für den Leser dürften die Ausführungen sein, die direkt die Position der Kirche betreffen. Die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken haben die Diskussion um den § 218 seit 1970 kritisch begleitet. Sie verteidigten gemeinsam die Lehre der Kirche zum Lebensrecht gegen die verschiedenen Gesetzgeber.
Im Sommer 1992 verkündete Bischof Lehmann noch: "Die Beratungsstellen können sich nicht in ein Verfahren einbinden lassen, das die Ausstellung einer Beratungsbescheinigung zu einer wesentlichen Voraussetzung für die straffreie Tötung eines ungeborenen Menschen macht." Ähnlich drückten sich die Bischofskonferenz und die Laienorganisationen aus: Sie sprachen von einer "Perversion der Beratungsarbeit" und von einer "Alibifunktion", die die Beratung auf diese Weise erhalten würde. Diese Kritik an der Konfliktberatung, kommentiert Spieker, "markiert gleichsam den Gegenpol zu allen Äußerungen zum Beratungskonzept nach 1995".
Perversion der Beratungsarbeit
Nachdem am 26. Juni 1992 gegen die von katholischer Seite einmütig abgelehnte Fristenregelung Klage beim Bundesverfassungsgericht erhoben wurde, hielt Lehmann während der Herbstvollversammlung der Bischofskonferenz ein Referat, das "den Eindruck erweckt, als habe er sich . . . von einem Verfassungsrichter . . . darüber informieren lassen, wie das Gericht den Fall anzupacken gedenke". Denn er stellte die Möglichkeit von Alternativen zur Strafandrohung in Aussicht, näherhin jene Funktion der allein übrigbleibenden Beratung, die er vorher kategorisch abgelehnt hatte. Auf der Basis dieser Perspektive drückte er die Hoffnung aus, daß die Kirche ihre Beratung "in der bisherigen Ausrichtung fortsetzen" könne.
Diese nunmehr öffentlich vorgezeichnete Richtung führte zum Streit zwischen den Bischöfen und Rom von 1995 bis 1999, als es um die Mitwirkung am 1995 novellierten Gesetz ging. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 hatte nämlich den Paradigmenwechsel von den "Indikationen" zum Beratungskonzept für verfassungskonform erklärt. Für die Mehrheit der Bischöfe bedeutete dies, daß sie "nicht mehr das kirchliche Profil der Beratungsstellen gegenüber den Zumutungen des Gesetzgebers, sondern das Beratungskonzept des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes gegen die Zumutungen des Papstes verteidigte".
Im Gefolge der Bischöfe vollzog etwas später auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken eine ähnliche Wende. Unter dem neuen Präsidenten Hans Joachim Meyer, so Spieker, wurde es "zu einem geradezu aggressiven Kritiker des päpstlichen Verlangens, auf den Beratungsschein zu verzichten". Es blieb nur eine Minderheit aus Lebensrechtsgruppen und publizistisch tätigen Intellektuellen übrig, die in der Öffentlichkeit für jene Position eintrat, die bis in die Mitte der neunziger Jahre die der Bischöfe und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken gewesen war. Es ist deshalb nur recht, wenn Spieker den Mut aufbringt, ihr Engagement und Fachwissen gegen den offiziellen Trend in der Kirche zu würdigen.
Der Verlauf der Kontroverse, die auf diese Frontverschiebung folgte, ist wegen der großen Resonanz in den Medien bekannt. Es genügt, zwei Höhepunkte zu erwähnen. Im Brief vom 11. Januar 1998 hatte der Papst aufgrund seiner Analyse der Funktion der Beratungsbescheinigung "eindringlich" gebeten, daß "ein Schein solcher Art nicht mehr ausgestellt wird". Die Antwort von Bischof Lehmann bestand darin, eine Arbeitsgruppe zu bilden, die nach einem Jahr vorschlug, dem alten Schein eine zweite Funktion der Garantie für die versprochenen Hilfen hinzuzufügen. Spieker weist darauf hin, daß das Papier der Arbeitsgruppe "nur eine Handschrift verrät", nämlich die von Ernst Wolfgang Böckenförde, der zuvor als Verfassungsrichter an dem Urteil maßgeblich mitgewirkt hatte, mit dem das Beratungskonzept als grundgesetzkonform gebilligt worden war.
Der andere Höhepunkt stand im Zusammenhang mit dem Brief vom Juni 1999, in dem der Papst die weiterhin bestehende juridische Funktion des Scheins als Ermöglichung einer "legalen" Abtreibung mit dem Zusatz "Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden" eliminieren wollte. Auch diesmal versuchte Bischof Lehmann, die Anweisung des Papstes zu umgehen, indem er den Zusatz bloß als einen moralischen Appell an die Schwangere verstanden wissen wollte.
Das Buch gibt den Brief wieder, den Kardinal Sodano im Auftrag des Papstes an dreizehn Bischöfe schrieb, die auch nach der endgültigen, nicht mehr umzudeutenden Entscheidung des Papstes sich vorbehalten hatten, ihre Bedenken dem Papst bei dem "Ad limina"-Besuch in Rom vorzutragen. Spieker zeigt die zentrale Bedeutung des Briefes, der eine Güterabwägung im Sinne einer Aufrechnung von abgetriebenen Kindern gegen gerettete Kinder ausdrücklich verwirft. Genau auf diese Abwägung gründen die Befürworter des Beratungsscheins ihre Mitwirkung.
Das Buch widmet einige Seiten dem langen Schatten, den der zweite Akt des Dramas auf die Kirche wirft. Mit dem Argument, das die Vorsitzende des Vereins "Donum vitae" durch die rhetorische Frage zum Ausdruck gebracht hat, "ob denn ab 1. Januar 2001 Unrecht sein könne, was bis dahin den bischöflichen Richtlinien entsprochen hat", setzen katholische Laien eine Aktivität fort, die das Zeugnis der Kirche von der absoluten Unerlaubtheit, unschuldige Menschen zu töten beziehungsweise bei ihrer Tötung mitzuwirken, verdunkelt.
Dem Verfasser des Buches gebührt Anerkennung dafür, daß er sich die Mühe gegeben hat, mit Verantwortung für das Lebensrecht und Respekt vor den Akteuren diesen "wenig erbaulichen Gegenstand" zu untersuchen. Die Lektüre des Buches hinterläßt ein bedrückendes Gefühl angesichts der allzu leicht durchschaubaren Tricks, auf die Verantwortliche in der Kirche vor einer erstaunten Öffentlichkeit zur Rettung des Beratungsscheins zurückgegriffen haben. Manche Bischöfe, schreibt Spieker, haben sich der "päpstlichen Entscheidung nur gequält gebeugt", und deshalb fahren sie jetzt als "Verlierer" fort, "die Doppelstrategie einer Beratung ohne Schein in den eigenen Beratungsstellen und einer Beratung mit Schein bei ,Donum vitae' zu tolerieren oder gar zu fördern".
Verpaßte Ausstiegschancen
Das Fatale an dieser scheinbaren Liberalität liegt darin, daß dadurch die Unzulässigkeit einer Beteiligung an der nachweispflichtigen Konfliktberatung zu einer Sondermoral der Kirche heruntergespielt wird. Dies entspricht in keiner Weise der Enzyklika "Evangelium vitae", derzufolge sittlich verantwortliche Bürger verpflichtet sind, sich der Freigabe der Tötung unschuldiger Menschen zu widersetzen.
Diese Geschichte der Mitwirkung an einem Gesetz, von dem Kardinal Döpfner erklärt hatte, daß die Kirche sich mit ihm niemals abfinden würde, liest sich wie der Bericht einer schubweise geschehenen Anpassung. Eine Argumentation wie die des Zentralkomitees der deutschen Katholiken 1971, daß "die Achtung vor dem menschlichen Leben unteilbar ist" und daß deshalb eine etwaige Indikationenregelung "auf den Konflikt zwischen dem ungeborenen Leben und dem Leben der Mutter zu begrenzen" sei, hört sich heute an, als käme sie aus einer anderen Welt.
1995 verpaßten die Bischöfe die Chance, "sich in Würde aus einem System zu verabschieden, das flächendeckende Abtreibungen vorsieht und ermöglicht". Die Konsequenz daraus war, daß jeder Versuch, die falsche Entscheidung abzustützen, zu immer neuen Widersprüchen führte, die bei einem Leser, für den die Kirche etwas bedeutet, nur Beklemmung hervorrufen können. Das Buch deckt die Gründe der gegenwärtigen Lähmung der Kirche im Bereich des Lebensschutzes auf: eine mangelnde Einsicht in ein Beratungskonzept, das das Lebensrecht des Kindes dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren opfert, und die Illusion, nur über die sogenannte Konfliktberatung fünftausend Kinder pro Jahr retten zu können. Aber die Kritik verfolgt den positiven Zweck, daß sich die Katholiken dieses Landes zusammen mit ihren Bischöfen von einer Gesetzgebung befreien, die darauf bedacht ist, unerwünschte Kinder möglichst reibungslos zu beseitigen. Das Buch zeigt Perspektiven auf, wie sie mit Sachverstand, Mut und Zuversicht "auf der Basis von Wahrheit und Liebe", wie der Papst in seinem Brief vom 11. Januar 1998 schrieb, wirksam und überzeugend für das "Evangelium des Lebens" eintreten und dem Rechtsstaat wieder zur Geltung verhelfen können.
GIOVANNI B. SALA
Manfred Spieker: "Kirche und Abtreibung in Deutschland". Ursache und Verlauf eines Konfliktes. Schöningh Verlag, Paderborn 2000. 260 S., kt., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schlimmes tun, um Schlimmeres zu verhüten: Wie die katholische Kirche sich in das Abtreibungssystem verstrickte
Seit Anfang der siebziger Jahre ist der § 218 StGB, der bis dahin die Abtreibung (fast) ausnahmslos unter Strafe stellte, in der politischen Debatte und in der Öffentlichkeit zu einem Dauerthema geworden. Auch als 1976 dem Verlangen nach einer Liberalisierung mittels einer Indikationenregelung und 1995 mittels einer Fristenregelung mit Beratungsangebot entsprochen wurde und die Mehrheit der Politiker dieses Thema als erledigt betrachten wollte, ist die Auseinandersetzung nicht zur Ruhe gekommen. In der Tat kann der Streit nicht zu Ende gehen, solange das Grundgesetz der Bundesrepublik das Recht auf Leben zu den "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" zählt.
In diesem Rahmen ist der Konflikt innerhalb der katholischen Kirche angesiedelt, dessen "Ursachen und Verlauf" in dem Buch Manfred Spiekers ausführlich und verständlich dargelegt werden. Freilich handelt es sich um einen Konflikt, der in der Kirche im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft eine weitere Verschärfung erfahren hat. Denn das alle Menschen bindende Naturrecht gehört als Gottesrecht zu dem von der Kirche vertretenen Menschenbild und damit zu ihrer Morallehre.
Der Widersprüchlichkeit der staatlichen Abtreibungsregelung konnte sich die Kirche in Deutschland nicht entziehen, als sie sich bereit erklärte, eigene, vom Gesetz vorgesehene Beratungsstellen einzurichten. Denn damit war die Hilfe zum Leben, die die Kirche überall auf der Welt, den Umständen entsprechend, leistet, mit der Gewährung der Straffreiheit für die eventuell folgende Abtreibung unzertrennlich verbunden. Denn gerade dies zeichnet die vom Gesetz festgelegte "Konfliktberatung" aus.
Manfred Spieker, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, hat sich in den letzten Jahren mehrmals zu diesem Konflikt zu Wort gemeldet. In seinem Buch konnte er ein umfangreiches Material, einschließlich bisher unveröffentlichter Briefe, Protokolle und Memoranden, auswerten und in einer übersichtlichen Darlegung aufschlüsseln. Der Leser kann in einer gut lesbaren Gesamtschau eine tragische Verwicklung in die herrschende Kultur des Todes verfolgen, aus der die Ortskirche sich nur deshalb befreien konnte, weil Papst Johannes Paul II. in einem geduldigen Dialog und durch wiederholte, taktvolle Weisungen ihr dazu die Hand gereicht hat.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Zuerst werden die "rechtlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs" und dann "die Position der katholischen Kirche" dargelegt. Ein letzter, kürzerer Teil geht auf die mehrfache Bedeutung des Beratungsscheins und auf die politische Dimension des Konflikts ein und entwickelt Perspektiven zur Lösung des Konflikts.
Besondere Aufmerksamkeit wird dem ersten Urteil des Bundesverfassungsgerichts gewidmet, das die Fristenregelung von 1974 verwarf und eine Reihe von Leitsätzen formulierte. In ihnen wurde das Recht der Leibesfrucht auf Leben deutlich über das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren gestellt, zugleich aber ein verhängnisvolles Prinzip der Unzumutbarkeit für die Schwangere gebilligt, das ihrer Entscheidung zur Abtreibung den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung zuerkannte. Von einer solchen Qualifikation dieser Entscheidung rückte allerdings das Bundesverfassungsgericht in seinem Abtreibungsurteil von 1993 wieder ab.
An der schließlich 1976 in Kraft getretenen Indikationenregelung werden hier zwei Kennzeichen hervorgehoben: Eine Notlageindikation, die sich bald zum Ersatz für die verbotene Fristenregelung entwickelte, und eine verkappte Fristenregelung in § 218 Abs. 3, Satz 2, der jede Abtreibung nach Beratung straffrei stellte. Damit bekam die Beratung eine viel größere Bedeutung, als sie bloß aufgrund der Indikationenregelung gehabt hätte. Weder dieser Umstand noch die sich im Laufe der Jahre mehrenden Einwände konnten die Bischöfe bewegen, ihre Mitwirkung an einem Gesetz aufzukündigen, das auch die neue Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP in keiner Weise zu verbessern sich bemühte.
Von noch größerem Interesse für den Leser dürften die Ausführungen sein, die direkt die Position der Kirche betreffen. Die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken haben die Diskussion um den § 218 seit 1970 kritisch begleitet. Sie verteidigten gemeinsam die Lehre der Kirche zum Lebensrecht gegen die verschiedenen Gesetzgeber.
Im Sommer 1992 verkündete Bischof Lehmann noch: "Die Beratungsstellen können sich nicht in ein Verfahren einbinden lassen, das die Ausstellung einer Beratungsbescheinigung zu einer wesentlichen Voraussetzung für die straffreie Tötung eines ungeborenen Menschen macht." Ähnlich drückten sich die Bischofskonferenz und die Laienorganisationen aus: Sie sprachen von einer "Perversion der Beratungsarbeit" und von einer "Alibifunktion", die die Beratung auf diese Weise erhalten würde. Diese Kritik an der Konfliktberatung, kommentiert Spieker, "markiert gleichsam den Gegenpol zu allen Äußerungen zum Beratungskonzept nach 1995".
Perversion der Beratungsarbeit
Nachdem am 26. Juni 1992 gegen die von katholischer Seite einmütig abgelehnte Fristenregelung Klage beim Bundesverfassungsgericht erhoben wurde, hielt Lehmann während der Herbstvollversammlung der Bischofskonferenz ein Referat, das "den Eindruck erweckt, als habe er sich . . . von einem Verfassungsrichter . . . darüber informieren lassen, wie das Gericht den Fall anzupacken gedenke". Denn er stellte die Möglichkeit von Alternativen zur Strafandrohung in Aussicht, näherhin jene Funktion der allein übrigbleibenden Beratung, die er vorher kategorisch abgelehnt hatte. Auf der Basis dieser Perspektive drückte er die Hoffnung aus, daß die Kirche ihre Beratung "in der bisherigen Ausrichtung fortsetzen" könne.
Diese nunmehr öffentlich vorgezeichnete Richtung führte zum Streit zwischen den Bischöfen und Rom von 1995 bis 1999, als es um die Mitwirkung am 1995 novellierten Gesetz ging. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 hatte nämlich den Paradigmenwechsel von den "Indikationen" zum Beratungskonzept für verfassungskonform erklärt. Für die Mehrheit der Bischöfe bedeutete dies, daß sie "nicht mehr das kirchliche Profil der Beratungsstellen gegenüber den Zumutungen des Gesetzgebers, sondern das Beratungskonzept des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes gegen die Zumutungen des Papstes verteidigte".
Im Gefolge der Bischöfe vollzog etwas später auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken eine ähnliche Wende. Unter dem neuen Präsidenten Hans Joachim Meyer, so Spieker, wurde es "zu einem geradezu aggressiven Kritiker des päpstlichen Verlangens, auf den Beratungsschein zu verzichten". Es blieb nur eine Minderheit aus Lebensrechtsgruppen und publizistisch tätigen Intellektuellen übrig, die in der Öffentlichkeit für jene Position eintrat, die bis in die Mitte der neunziger Jahre die der Bischöfe und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken gewesen war. Es ist deshalb nur recht, wenn Spieker den Mut aufbringt, ihr Engagement und Fachwissen gegen den offiziellen Trend in der Kirche zu würdigen.
Der Verlauf der Kontroverse, die auf diese Frontverschiebung folgte, ist wegen der großen Resonanz in den Medien bekannt. Es genügt, zwei Höhepunkte zu erwähnen. Im Brief vom 11. Januar 1998 hatte der Papst aufgrund seiner Analyse der Funktion der Beratungsbescheinigung "eindringlich" gebeten, daß "ein Schein solcher Art nicht mehr ausgestellt wird". Die Antwort von Bischof Lehmann bestand darin, eine Arbeitsgruppe zu bilden, die nach einem Jahr vorschlug, dem alten Schein eine zweite Funktion der Garantie für die versprochenen Hilfen hinzuzufügen. Spieker weist darauf hin, daß das Papier der Arbeitsgruppe "nur eine Handschrift verrät", nämlich die von Ernst Wolfgang Böckenförde, der zuvor als Verfassungsrichter an dem Urteil maßgeblich mitgewirkt hatte, mit dem das Beratungskonzept als grundgesetzkonform gebilligt worden war.
Der andere Höhepunkt stand im Zusammenhang mit dem Brief vom Juni 1999, in dem der Papst die weiterhin bestehende juridische Funktion des Scheins als Ermöglichung einer "legalen" Abtreibung mit dem Zusatz "Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden" eliminieren wollte. Auch diesmal versuchte Bischof Lehmann, die Anweisung des Papstes zu umgehen, indem er den Zusatz bloß als einen moralischen Appell an die Schwangere verstanden wissen wollte.
Das Buch gibt den Brief wieder, den Kardinal Sodano im Auftrag des Papstes an dreizehn Bischöfe schrieb, die auch nach der endgültigen, nicht mehr umzudeutenden Entscheidung des Papstes sich vorbehalten hatten, ihre Bedenken dem Papst bei dem "Ad limina"-Besuch in Rom vorzutragen. Spieker zeigt die zentrale Bedeutung des Briefes, der eine Güterabwägung im Sinne einer Aufrechnung von abgetriebenen Kindern gegen gerettete Kinder ausdrücklich verwirft. Genau auf diese Abwägung gründen die Befürworter des Beratungsscheins ihre Mitwirkung.
Das Buch widmet einige Seiten dem langen Schatten, den der zweite Akt des Dramas auf die Kirche wirft. Mit dem Argument, das die Vorsitzende des Vereins "Donum vitae" durch die rhetorische Frage zum Ausdruck gebracht hat, "ob denn ab 1. Januar 2001 Unrecht sein könne, was bis dahin den bischöflichen Richtlinien entsprochen hat", setzen katholische Laien eine Aktivität fort, die das Zeugnis der Kirche von der absoluten Unerlaubtheit, unschuldige Menschen zu töten beziehungsweise bei ihrer Tötung mitzuwirken, verdunkelt.
Dem Verfasser des Buches gebührt Anerkennung dafür, daß er sich die Mühe gegeben hat, mit Verantwortung für das Lebensrecht und Respekt vor den Akteuren diesen "wenig erbaulichen Gegenstand" zu untersuchen. Die Lektüre des Buches hinterläßt ein bedrückendes Gefühl angesichts der allzu leicht durchschaubaren Tricks, auf die Verantwortliche in der Kirche vor einer erstaunten Öffentlichkeit zur Rettung des Beratungsscheins zurückgegriffen haben. Manche Bischöfe, schreibt Spieker, haben sich der "päpstlichen Entscheidung nur gequält gebeugt", und deshalb fahren sie jetzt als "Verlierer" fort, "die Doppelstrategie einer Beratung ohne Schein in den eigenen Beratungsstellen und einer Beratung mit Schein bei ,Donum vitae' zu tolerieren oder gar zu fördern".
Verpaßte Ausstiegschancen
Das Fatale an dieser scheinbaren Liberalität liegt darin, daß dadurch die Unzulässigkeit einer Beteiligung an der nachweispflichtigen Konfliktberatung zu einer Sondermoral der Kirche heruntergespielt wird. Dies entspricht in keiner Weise der Enzyklika "Evangelium vitae", derzufolge sittlich verantwortliche Bürger verpflichtet sind, sich der Freigabe der Tötung unschuldiger Menschen zu widersetzen.
Diese Geschichte der Mitwirkung an einem Gesetz, von dem Kardinal Döpfner erklärt hatte, daß die Kirche sich mit ihm niemals abfinden würde, liest sich wie der Bericht einer schubweise geschehenen Anpassung. Eine Argumentation wie die des Zentralkomitees der deutschen Katholiken 1971, daß "die Achtung vor dem menschlichen Leben unteilbar ist" und daß deshalb eine etwaige Indikationenregelung "auf den Konflikt zwischen dem ungeborenen Leben und dem Leben der Mutter zu begrenzen" sei, hört sich heute an, als käme sie aus einer anderen Welt.
1995 verpaßten die Bischöfe die Chance, "sich in Würde aus einem System zu verabschieden, das flächendeckende Abtreibungen vorsieht und ermöglicht". Die Konsequenz daraus war, daß jeder Versuch, die falsche Entscheidung abzustützen, zu immer neuen Widersprüchen führte, die bei einem Leser, für den die Kirche etwas bedeutet, nur Beklemmung hervorrufen können. Das Buch deckt die Gründe der gegenwärtigen Lähmung der Kirche im Bereich des Lebensschutzes auf: eine mangelnde Einsicht in ein Beratungskonzept, das das Lebensrecht des Kindes dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren opfert, und die Illusion, nur über die sogenannte Konfliktberatung fünftausend Kinder pro Jahr retten zu können. Aber die Kritik verfolgt den positiven Zweck, daß sich die Katholiken dieses Landes zusammen mit ihren Bischöfen von einer Gesetzgebung befreien, die darauf bedacht ist, unerwünschte Kinder möglichst reibungslos zu beseitigen. Das Buch zeigt Perspektiven auf, wie sie mit Sachverstand, Mut und Zuversicht "auf der Basis von Wahrheit und Liebe", wie der Papst in seinem Brief vom 11. Januar 1998 schrieb, wirksam und überzeugend für das "Evangelium des Lebens" eintreten und dem Rechtsstaat wieder zur Geltung verhelfen können.
GIOVANNI B. SALA
Manfred Spieker: "Kirche und Abtreibung in Deutschland". Ursache und Verlauf eines Konfliktes. Schöningh Verlag, Paderborn 2000. 260 S., kt., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ausführlich und verständlich dargelegt" ist in diesem Buch nach Ansicht von Rezensent Giovanni B. Sala der Konflikt zwischen Kirche und Abtreibung in Deutschland. Sein Autor habe umfangreiches Material "einschließlich bisher unveröffentlichter Briefe, Protokolle und Memoranden" ausgewertet und übersichtlich aufgeschlüsselt. Zutage trete dabei die "gut lesbare Gesamtschau" einer tragischen Verwicklung in die herrschende Kultur des Todes, aus der sich die Ortskirche nur deshalb habe befreien können, wie es papstnah heißt, weil Johannes Paul der II. "in einem geduldigen Dialog" ihr dazu "die Hand gereicht" habe. Für besonders interessant hält Sala jene Ausführungen, die unmittelbar die Haltung der Kirche betreffen. Auch decke das Buch die Gründe für die "gegenwärtige Lähmung der Kirche im Bereich des Lebenschutzes" auf.
© Perlentaucher Medien GmbH
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