Ein Buch, das seinesgleichen und bis zum Ende seinen Erzähler suchtWer ist Kirio? Ein seltsamer Vogel, ein Verrückter, ein Heiliger? Seine Spur findet sich zuerst in Südfrankreich und verliert sich im Hanau der Brüder Grimm. Kirio läuft gerne auf den Händen und stellt auch sonst alles auf den Kopf. Er spielt Flöte und redet mit Steinen und Fledermäusen ebenso selbstverständlich wie mit Menschen. Er nimmt alles für bare Münze, bis auf die bare Münze selbst. Er vollbringt Wunder über Wunder und merkt es nicht. Wer also ist dieser Kirio? Und wem gehört die Stimme, die von ihm erzählt? Sie weiß es selber nicht! Und so ist das Rätsel auch dem Leser aufgegeben. Ist es die des Autors? Die des Schöpfers? Eines Engels? Der Phantasie? Anne Webers neuer Roman liest sich wie eine moderne Heiligenlegende und zugleich als poetischer Grenzgang zwischen Himmel und Erde.Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2017Wer auf Händen geht, sieht mehr von der Welt
Nichts ist sicher, geglaubt, verbürgt: Anne Weber erzählt in ihrem neuen Roman "Kirio" die aberwitzige Heiligengeschichte eines Glückskinds
"Wer bin ich?", fragt Kirio gleich zu Beginn dieses rätselhaften Romans, der seinen Namen trägt, damit wenigstens das gesichert ist. Seine Frage aber zu beantworten, ist nicht die einfachste Aufgabe, wie sich im Laufe der Geschichte noch herausstellen wird. Nicht einmal Kirio selbst weiß es mit Gewissheit zu sagen: "Aber ich habe die Hoffnung, einem Detektiv in die Hände gefallen zu sein. Einem Leser mit detektivischem Gespür. Und am besten einem ebensolchem Autor. Wenn ich Glück habe und sie es darauf anlegen, werden sie mir auf die Spur kommen. Und am Ende werden wir alle wissen, mit wem oder was wir es zu tun haben."
So also lautet die Spielanordnung zu Anne Webers irrwitziger literarischer Phantasie: Identität oder so etwas wie Authentizität ist so leicht nicht zu haben. Denn was ist schon ein Ich, zumal wenn es sich um ein reines Phantasiegeschöpf, man könnte auch sagen, eine Kopfgeburt handelt? Für Kirio müsste man die Grammatik sprengen, heißt es im Roman einmal, neue Worte und am besten ganz neue Buchstaben erfinden: "Ich du er sie es wir ihr sie. Das soll's gewesen sein? Damit ließe sich alles erfassen?" Nun also ist der detektivische Leser gefragt, zumal die vielen Stimmen, die neben den verschiedenen Erzählerinnen auftreten, sich auch nie sicher sind, wer sich hinter dem zentralen Hirngespinst verbirgt.
Wer sich in Anne Webers multiperspektivischem Kaleidoskop auf die Spur dieses französischen Luftgeistes begibt, in dessen Gegenwart die wundersamsten Dinge geschehen, kommt schon beim Namen ins Grübeln. So wenig wir über Kirios Herkunft wissen, der in einem Autobahntunnel irgendwo unter den Alpen zwischen Savoyen und dem Piemont geboren wurde, so vielsagend ist sein Name: Nicht nur gab es einst einen bretonischen Bischof, der so hieß und der, weil er Kranke von Geschwüren und anderem Übel erlöst haben soll, als Heiliger verehrt wird. In Kirio steckt auch das griechische Kyrios, das Göttliche. Und sogar etwas Französisches findet sich noch darin: "Qui rit" - der, der lacht.
Zu lachen gibt es immer wieder in dieser postmodernen Heiligengeschichte, in der uns die deutsche Autorin mit Wohnsitz Paris auf höchst unsicheres Terrain führt. Ein Großteil der Komik bezieht der Roman aus dem Umstand, dass Kirio tatsächlich von Grund auf gut ist, jedenfalls ohne jeglichen Argwohn und ohne Absicht. Jede Schlechtigkeit des Lebens tropft an ihm ab wie Wasser an lackiertem Blech. Darin ist er nicht nur eine Art französischer Wiedergänger jenes unerschütterlich netten Amerikaners Forrest Gump aus dem Roman von Winston Groom. Er trägt auch Züge von Sybille Bergs grundgutem Helden Toto aus ihrem Roman "Vielen Dank für das Leben". Wie dieser lässt sich auch Kirio den Glauben an das Gute nicht nehmen, ja mehr noch: Er denkt erst gar nicht in Kategorien von gut und böse. Damit hat es dieser Held unter die Finalisten für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse gebracht.
Und wie es sich für eine ordentliche Legendengeschichte gehört, haben wir es deshalb auch in "Kirio" mit überliefertem Wissen zu tun. Nichts ist verbürgt, alles, was geschildert wird, muss geglaubt werden, so hanebüchen es auch ist. Das beginnt schon mit der Verkündigungsszene am Telefon, in der die Erzählerin Nummer eins, die eben noch gar nicht einsatzbereit war, weil sie noch im Bett lag und schlief, auf das kommende Ereignis vorbereitet wird. Nach der abenteuerlichen Geburt wird Kirios Leben mehr oder weniger chronologisch erzählt: Wie das Kind wächst und gedeiht, wie es mit drei Jahren seinen Namen schreiben und bald sämtliche Sternbilder aufsagen kann, aber bis es sieben ist, kein Wort gesprochen hat. Wie es später zur Schule geht und von seinen Klassenkameraden gemocht wird, weil Kirio einfallsreich ist und immer guter Dinge. Und manchen auch das Leben rettet. Und wie Kirio dann eines Tages Paris verlässt und bei einer stummen Frau im Wald die Lust kennenlernt, ehe er sich vom Mistral weiter gen Süden tragen lässt. Irgendwann, aber keineswegs zufällig landet er schließlich in Hanau, der Heimat der Brüder Grimm. Spätestens hier zeigt sich, dass sich Webers Text auch einer Gattungzugehörigkeit widersetzt: In die Legende mischen sich Märchentöne oder auch umgekehrt.
Insgesamt aber schlägt Anne Weber einen gänzlich anderen Ton an als etwa in ihrem vorherigen Buch "Ahnen", in dem sie sich auf die Suche nach einem Vorfahren machte, den sie nie kennengelernt und dessen Geschichte sie tief in die eigene Familienhistorie und ins zwanzigste Jahrhundert geführt hatte. "Kirio" dagegen ist ein Schelmenstück. Anarchisch, sprachverliebt und voller literarischer Hinweise auf Werke von Calvino, Pavese, Proust oder Zola. Bisweilen überschlägt sich die Lust am Wortwitz, und manches wird ausgeführt, wo es gar nicht nötig wäre. Dass sich etwa Kirio am liebsten auf den Händen durchs Leben bewegt, ist ja schon ein Bild, das für sich spricht. Trotzdem will die Autorin sichergehen und legt noch einmal nach, dass es "um die Erfahrung der Umkehrung" gehe, und es sinnvoll und nötig sei, nicht nur für einen Augenblick die Position zu wechseln, sondern länger darin zu verharren. "Das gängige Oben und Unten ist uns derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir zunächst einmal die Decke weiterhin als Decke und den Boden weiterhin als Boden wahrnehmen möchten". Die Bodenhaftung haben wir da aber längst schon verloren und uns bereitwillig der sinnlichen Täuschung überlassen.
SANDRA KEGEL
Anne Weber. "Kirio". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2017. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nichts ist sicher, geglaubt, verbürgt: Anne Weber erzählt in ihrem neuen Roman "Kirio" die aberwitzige Heiligengeschichte eines Glückskinds
"Wer bin ich?", fragt Kirio gleich zu Beginn dieses rätselhaften Romans, der seinen Namen trägt, damit wenigstens das gesichert ist. Seine Frage aber zu beantworten, ist nicht die einfachste Aufgabe, wie sich im Laufe der Geschichte noch herausstellen wird. Nicht einmal Kirio selbst weiß es mit Gewissheit zu sagen: "Aber ich habe die Hoffnung, einem Detektiv in die Hände gefallen zu sein. Einem Leser mit detektivischem Gespür. Und am besten einem ebensolchem Autor. Wenn ich Glück habe und sie es darauf anlegen, werden sie mir auf die Spur kommen. Und am Ende werden wir alle wissen, mit wem oder was wir es zu tun haben."
So also lautet die Spielanordnung zu Anne Webers irrwitziger literarischer Phantasie: Identität oder so etwas wie Authentizität ist so leicht nicht zu haben. Denn was ist schon ein Ich, zumal wenn es sich um ein reines Phantasiegeschöpf, man könnte auch sagen, eine Kopfgeburt handelt? Für Kirio müsste man die Grammatik sprengen, heißt es im Roman einmal, neue Worte und am besten ganz neue Buchstaben erfinden: "Ich du er sie es wir ihr sie. Das soll's gewesen sein? Damit ließe sich alles erfassen?" Nun also ist der detektivische Leser gefragt, zumal die vielen Stimmen, die neben den verschiedenen Erzählerinnen auftreten, sich auch nie sicher sind, wer sich hinter dem zentralen Hirngespinst verbirgt.
Wer sich in Anne Webers multiperspektivischem Kaleidoskop auf die Spur dieses französischen Luftgeistes begibt, in dessen Gegenwart die wundersamsten Dinge geschehen, kommt schon beim Namen ins Grübeln. So wenig wir über Kirios Herkunft wissen, der in einem Autobahntunnel irgendwo unter den Alpen zwischen Savoyen und dem Piemont geboren wurde, so vielsagend ist sein Name: Nicht nur gab es einst einen bretonischen Bischof, der so hieß und der, weil er Kranke von Geschwüren und anderem Übel erlöst haben soll, als Heiliger verehrt wird. In Kirio steckt auch das griechische Kyrios, das Göttliche. Und sogar etwas Französisches findet sich noch darin: "Qui rit" - der, der lacht.
Zu lachen gibt es immer wieder in dieser postmodernen Heiligengeschichte, in der uns die deutsche Autorin mit Wohnsitz Paris auf höchst unsicheres Terrain führt. Ein Großteil der Komik bezieht der Roman aus dem Umstand, dass Kirio tatsächlich von Grund auf gut ist, jedenfalls ohne jeglichen Argwohn und ohne Absicht. Jede Schlechtigkeit des Lebens tropft an ihm ab wie Wasser an lackiertem Blech. Darin ist er nicht nur eine Art französischer Wiedergänger jenes unerschütterlich netten Amerikaners Forrest Gump aus dem Roman von Winston Groom. Er trägt auch Züge von Sybille Bergs grundgutem Helden Toto aus ihrem Roman "Vielen Dank für das Leben". Wie dieser lässt sich auch Kirio den Glauben an das Gute nicht nehmen, ja mehr noch: Er denkt erst gar nicht in Kategorien von gut und böse. Damit hat es dieser Held unter die Finalisten für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse gebracht.
Und wie es sich für eine ordentliche Legendengeschichte gehört, haben wir es deshalb auch in "Kirio" mit überliefertem Wissen zu tun. Nichts ist verbürgt, alles, was geschildert wird, muss geglaubt werden, so hanebüchen es auch ist. Das beginnt schon mit der Verkündigungsszene am Telefon, in der die Erzählerin Nummer eins, die eben noch gar nicht einsatzbereit war, weil sie noch im Bett lag und schlief, auf das kommende Ereignis vorbereitet wird. Nach der abenteuerlichen Geburt wird Kirios Leben mehr oder weniger chronologisch erzählt: Wie das Kind wächst und gedeiht, wie es mit drei Jahren seinen Namen schreiben und bald sämtliche Sternbilder aufsagen kann, aber bis es sieben ist, kein Wort gesprochen hat. Wie es später zur Schule geht und von seinen Klassenkameraden gemocht wird, weil Kirio einfallsreich ist und immer guter Dinge. Und manchen auch das Leben rettet. Und wie Kirio dann eines Tages Paris verlässt und bei einer stummen Frau im Wald die Lust kennenlernt, ehe er sich vom Mistral weiter gen Süden tragen lässt. Irgendwann, aber keineswegs zufällig landet er schließlich in Hanau, der Heimat der Brüder Grimm. Spätestens hier zeigt sich, dass sich Webers Text auch einer Gattungzugehörigkeit widersetzt: In die Legende mischen sich Märchentöne oder auch umgekehrt.
Insgesamt aber schlägt Anne Weber einen gänzlich anderen Ton an als etwa in ihrem vorherigen Buch "Ahnen", in dem sie sich auf die Suche nach einem Vorfahren machte, den sie nie kennengelernt und dessen Geschichte sie tief in die eigene Familienhistorie und ins zwanzigste Jahrhundert geführt hatte. "Kirio" dagegen ist ein Schelmenstück. Anarchisch, sprachverliebt und voller literarischer Hinweise auf Werke von Calvino, Pavese, Proust oder Zola. Bisweilen überschlägt sich die Lust am Wortwitz, und manches wird ausgeführt, wo es gar nicht nötig wäre. Dass sich etwa Kirio am liebsten auf den Händen durchs Leben bewegt, ist ja schon ein Bild, das für sich spricht. Trotzdem will die Autorin sichergehen und legt noch einmal nach, dass es "um die Erfahrung der Umkehrung" gehe, und es sinnvoll und nötig sei, nicht nur für einen Augenblick die Position zu wechseln, sondern länger darin zu verharren. "Das gängige Oben und Unten ist uns derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir zunächst einmal die Decke weiterhin als Decke und den Boden weiterhin als Boden wahrnehmen möchten". Die Bodenhaftung haben wir da aber längst schon verloren und uns bereitwillig der sinnlichen Täuschung überlassen.
SANDRA KEGEL
Anne Weber. "Kirio". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2017. 224 S., geb., 20,- [Euro].
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Anne Weber schafft in Szenen und meta-literarischen Reflexionen ein schwer fassbares, aber dabei ungemein klares Lese-Erlebnis, aus dem man nicht viel schlauer, aber belebt hervorgeht. Fabian May Westdeutscher Rundfunk, WDR 5 20170304