Produktdetails
- Verlag: Mann (Gebr.), Berlin
- Seitenzahl: 360
- Abmessung: 305mm
- Gewicht: 1780g
- ISBN-13: 9783786122586
- Artikelnr.: 07554290
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.1999Man sieht immer noch, dass es Träume sind
Bernadette Collenberg-Plotnikovs ehrgeizige Geschichte der Karikatur verzerrt die ebenmäßigen Ideale des Klassizismus
Das Haus der Kunstgeschichte hat mehrere Etagen, und seine neueren Aufstockungen entsprechen dem Zeitgeschmack. Wer hoch hinaus will, wohnt in luftigen Höhen, genießt den Überblick und kann auf die Gegenstände der Wissenschaft herabsehen. Bäume wirken platt wie Flechten. Man ist den Wolken der Begriffe nahe, verfolgt ihre Bahnen und beschreibt das System, nach dem sie sich verändern. Das erfordert viel Intelligenz. Bernadette Collenberg-Plotnikov besitzt sie und dazu Ausdauer. Mehr als zweihundert eng beschriebene Seiten und doppelt so viele Anmerkungen, die zu erkennen geben, welche Berge von Literatur zu verarbeiten waren, um diese um ein weiteres Buch zu vermehren, verdienen zunächst Respekt. Es handelt sich um eine Dissertation, eine gnädig gekürzte, bei der jeder Anschein von jugendlichem Schwung zugunsten des Eindrucks von professoraler Gesetztheit und professioneller Problembewältigung gebremst ist.
Man könnte sich ein Buch mit dem Titel "Klassizismus und Karikatur" vorstellen, das die Gärungsblasen einer Umbruchzeit mit Blick auf die tieferen Ursachen deutet, lebendig geschrieben und mit Sinn für die Komik, die sich hier offenbart. Aber dieses Buch ist ein anderes. Im Titel ist von einer "Konstellation der Kunst" die Rede und vom "Beginn der Moderne". Da ist er, der Schnörkel, der eher an den Beginn der Postmoderne denken lässt. Die äußere Gestaltung des Buches entspricht dem: großes Format, schweres Kunstdruckpapier auch für den bildlosen Textteil und eine ästhetische Feinheit sich versagende Zusammenstellung der Abbildungen. Die Beziehung von Wissenschaft und Komik kommt allerdings noch auf eine andere als die hier intendierte Weise zustande, weil die Behandlung der Karikatur, die nicht selten die Absicht verfolgt, Verstiegenes auf den Boden der Wirklichkeit herunterzuholen, hier förmlich nach einer karikierenden Kommentierung verlangt. Wenn der Leser sich nicht ärgern will, erfreut er sich an der unfreiwilligen Komik.
Das Rezept der Kunstgeschichte aus dem Penthouse ist dieses: Die Überfülle des Materials - die Verlustrate ist bei Karikaturen besonders hoch - wird radikal reduziert und das, was man kennt, wird gleichgesetzt mit dem, was existiert oder existiert hat. Geradezu naiv heißt es in der Einleitung, das "vorgestellte Karikaturenkorpus" erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wobei jedes Korpus ebendas tut. Wer sich bei der Behandlung eines Zeitraums von etwa hundert Jahren - so weit wird die "Kunst um 1800" gefasst - in den wichtigsten Ländern Europas (England, das klassische Land der Karikatur, wird dabei nahezu ausgespart) auf wenig mehr als zwei Dutzend Künstler beschränkt, erstrebt wahrhaftig keine Vollständigkeit. Auf dem so verkleinerten Grundriss kann sich erst die ganze Virtuosität einer Gedankenbaukunst bewähren, bei der gezeigt wird, dass in Wirklichkeit alles ganz anders war, als man bisher angenommen hat. Was in einem ersten Schritt vereinfacht worden ist, muss nun verkompliziert werden. Die Karikatur, eine Randerscheinung, wird zu einem Zentralphänomen gemacht. Wer bei Klassizismus zuerst an Antikennähe in Architektur und Skulptur denkt, ist auf dem Holzweg. Die Malerei steht im Zentrum, und während die Scheinwerfer der Untersuchung auf den Klassizismus gerichtet werden, versinken andere Zeiten im Dunkel, so Barock und Rokoko als Epochen, in denen angeblich allein der Absolutismus Kunst hervorgebracht hat.
Was sich intellektuell geschliffen gibt, was funkelt mit Begriffen wie "kontrastreflektierende Darstellungsmaßnahmen", "Konstellationsforschung", "konfligierende Positionen" oder "kontrafaktisch" und brillieren will mit Schöpfungen wie "wechselseitige Verwiesenheit", das ist in Wahrheit verwaschen. Diese Ungenauigkeit infolge fehlender Bodenhaftung lässt sich dreifach belegen, was den Gang der Geschichte betrifft, die lokalen Prägekräfte und die Selbständigkeit des Individuums. Bonaventura Genelli, dem schlichtweg bescheinigt wird, er habe den "Kampf mit der prosaischen Lebenswelt nicht bestanden", wird ohne weiteres neben Carstens gestellt, der im Geburtsjahr des Ersteren stirbt. Dass Schweden eine andere Tradition hat als Frankreich, spielt keine Rolle. Am meisten stört jedoch, dass der Klassizismus wie ein übermächtiger Geist die einzelne Künstlerpersönlichkeit dominiert. An der kolossalen Gestalt Johann Gottfried Schadows hätte sich viel über das Verhältnis von Klassizismus und Karikatur erläutern lassen, aber die Bemerkungen über den Künstler bleiben wohl deshalb so dürftig, weil er von Werner Hofmann und seinem viel zitierten Hamburger Ausstellungszyklus "Kunst um 1800" verschont worden ist.
Das von Liebe inspirierte, förmlich atmende Aquarellporträt der schönen Marianne Devidels, deren Namensbezeichnung Schadow noch die Worte "meine Frau" hinzugefügt hat, wird nur wegen einer nicht verschwiegenen Warze und wegen Goethes Klassifizierung der Berliner Kunst in die Realismusschublade sortiert und ganz unzulässig mit dessen dilettantischem Bildnis seiner Frau Christiane als idealisierte Erscheinung konfrontiert. So tritt fast überall an die Stelle eines Gespürs für die feineren Qualitäten dürre Dozierlust. Die Argumentation kann zwar dort überzeugen, wo Strategien eines Künstlers bei der Erzeugung von Effekten nachgewiesen werden kann, nicht aber im eigentlich Künstlerischen. Große Meister haben bisweilen kuriose Notizen hinterlassen. Man sollte bei ihrer Veröffentlichung Schonung üben. Die letzte Abbildung des Buches ist als einzige Zeichnung von Ingres ein geradezu kümmerliches Blatt.
Aber es geht um Behauptung statt Beobachtung, um Konstruktion statt Anschauung, um Diskurspflege statt Denkmälerkenntnis. These wird an These gereiht. Die Sicherheit des Behauptens gewinnt man aber nur durch ein Verdrängen der Wissenslücken. Dass zum Beispiel mit Jacques Louis Davids Karikatur der Königin Marie Antoinette erstmals "eine bekannte Person des öffentlichen Lebens" im Bild zum Verbrecher degradiert wird, kann man nur sagen, wenn man die Tradition der bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurückreichenden Schandbilder nicht kennt. Andrea del Castagno malte 1440 die Gegner der Medici sicher nicht als Idealporträts an die Fassade des Palazzo del Podesta in Florenz. Schwerer wiegen Irrtümer wie der, es habe in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in allen europäischen Ländern einen Widerstand gegen das akademische Reglement gegeben. Apodiktische Feststellungen, die dem Gedankengebäude Festigkeit verleihen sollen, können zwar im Augenblick verblüffen, bei genauerem Nachdenken lassen sie sich jedoch oft widerlegen, so die Ansicht, "die Rückenfigur als zentrale Figur einer Komposition" bleibe "von der Hochkunst des Klassizismus . . . ausgeschlossen". Gegenbeispiele bieten Angelika Kauffmann, Heinrich Füger, Abraham Nicolai Abildgaard, ja sogar Jacques Louis David. Über der Lust an der geistesgeschichtlichen Spekulation fehlt es am Ansporn, dem einzelnen Werk auf den Grund zu gehen. So wäre leicht zu ermitteln gewesen, dass Genellis Karikatur eines Nazareners neben einem Affenkopf nicht den Typus eines Nazareners, sondern Theodor Rehbenitz meint.
Sicher enthält das Buch viel Richtiges, aber es wird überwuchert von Schiefem und Halbwahrem. Man könnte es übergehen, wenn es nicht, von renommierten Wissenschaftlern begutachtet, dank eines Druckkostenzuschusses der VG Wort ein so prächtiges Outfit erhalten hätte. Das wirft ein Schlaglicht auf die sich vertiefende Kluft zwischen einer als Hochleistungssport betriebenen und einer als Dienst an der Kultur sich verstehenden Kunstgeschichte.
HELMUT BÖRSCH-SUPAN
Bernadette Collenberg-Plotnikov: "Klassizismus und Karikatur". Eine Konstellation der Kunst am Beginn der Moderne. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1998. 248 S., 112 Taf. mit 201 Abb., geb., 178,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernadette Collenberg-Plotnikovs ehrgeizige Geschichte der Karikatur verzerrt die ebenmäßigen Ideale des Klassizismus
Das Haus der Kunstgeschichte hat mehrere Etagen, und seine neueren Aufstockungen entsprechen dem Zeitgeschmack. Wer hoch hinaus will, wohnt in luftigen Höhen, genießt den Überblick und kann auf die Gegenstände der Wissenschaft herabsehen. Bäume wirken platt wie Flechten. Man ist den Wolken der Begriffe nahe, verfolgt ihre Bahnen und beschreibt das System, nach dem sie sich verändern. Das erfordert viel Intelligenz. Bernadette Collenberg-Plotnikov besitzt sie und dazu Ausdauer. Mehr als zweihundert eng beschriebene Seiten und doppelt so viele Anmerkungen, die zu erkennen geben, welche Berge von Literatur zu verarbeiten waren, um diese um ein weiteres Buch zu vermehren, verdienen zunächst Respekt. Es handelt sich um eine Dissertation, eine gnädig gekürzte, bei der jeder Anschein von jugendlichem Schwung zugunsten des Eindrucks von professoraler Gesetztheit und professioneller Problembewältigung gebremst ist.
Man könnte sich ein Buch mit dem Titel "Klassizismus und Karikatur" vorstellen, das die Gärungsblasen einer Umbruchzeit mit Blick auf die tieferen Ursachen deutet, lebendig geschrieben und mit Sinn für die Komik, die sich hier offenbart. Aber dieses Buch ist ein anderes. Im Titel ist von einer "Konstellation der Kunst" die Rede und vom "Beginn der Moderne". Da ist er, der Schnörkel, der eher an den Beginn der Postmoderne denken lässt. Die äußere Gestaltung des Buches entspricht dem: großes Format, schweres Kunstdruckpapier auch für den bildlosen Textteil und eine ästhetische Feinheit sich versagende Zusammenstellung der Abbildungen. Die Beziehung von Wissenschaft und Komik kommt allerdings noch auf eine andere als die hier intendierte Weise zustande, weil die Behandlung der Karikatur, die nicht selten die Absicht verfolgt, Verstiegenes auf den Boden der Wirklichkeit herunterzuholen, hier förmlich nach einer karikierenden Kommentierung verlangt. Wenn der Leser sich nicht ärgern will, erfreut er sich an der unfreiwilligen Komik.
Das Rezept der Kunstgeschichte aus dem Penthouse ist dieses: Die Überfülle des Materials - die Verlustrate ist bei Karikaturen besonders hoch - wird radikal reduziert und das, was man kennt, wird gleichgesetzt mit dem, was existiert oder existiert hat. Geradezu naiv heißt es in der Einleitung, das "vorgestellte Karikaturenkorpus" erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wobei jedes Korpus ebendas tut. Wer sich bei der Behandlung eines Zeitraums von etwa hundert Jahren - so weit wird die "Kunst um 1800" gefasst - in den wichtigsten Ländern Europas (England, das klassische Land der Karikatur, wird dabei nahezu ausgespart) auf wenig mehr als zwei Dutzend Künstler beschränkt, erstrebt wahrhaftig keine Vollständigkeit. Auf dem so verkleinerten Grundriss kann sich erst die ganze Virtuosität einer Gedankenbaukunst bewähren, bei der gezeigt wird, dass in Wirklichkeit alles ganz anders war, als man bisher angenommen hat. Was in einem ersten Schritt vereinfacht worden ist, muss nun verkompliziert werden. Die Karikatur, eine Randerscheinung, wird zu einem Zentralphänomen gemacht. Wer bei Klassizismus zuerst an Antikennähe in Architektur und Skulptur denkt, ist auf dem Holzweg. Die Malerei steht im Zentrum, und während die Scheinwerfer der Untersuchung auf den Klassizismus gerichtet werden, versinken andere Zeiten im Dunkel, so Barock und Rokoko als Epochen, in denen angeblich allein der Absolutismus Kunst hervorgebracht hat.
Was sich intellektuell geschliffen gibt, was funkelt mit Begriffen wie "kontrastreflektierende Darstellungsmaßnahmen", "Konstellationsforschung", "konfligierende Positionen" oder "kontrafaktisch" und brillieren will mit Schöpfungen wie "wechselseitige Verwiesenheit", das ist in Wahrheit verwaschen. Diese Ungenauigkeit infolge fehlender Bodenhaftung lässt sich dreifach belegen, was den Gang der Geschichte betrifft, die lokalen Prägekräfte und die Selbständigkeit des Individuums. Bonaventura Genelli, dem schlichtweg bescheinigt wird, er habe den "Kampf mit der prosaischen Lebenswelt nicht bestanden", wird ohne weiteres neben Carstens gestellt, der im Geburtsjahr des Ersteren stirbt. Dass Schweden eine andere Tradition hat als Frankreich, spielt keine Rolle. Am meisten stört jedoch, dass der Klassizismus wie ein übermächtiger Geist die einzelne Künstlerpersönlichkeit dominiert. An der kolossalen Gestalt Johann Gottfried Schadows hätte sich viel über das Verhältnis von Klassizismus und Karikatur erläutern lassen, aber die Bemerkungen über den Künstler bleiben wohl deshalb so dürftig, weil er von Werner Hofmann und seinem viel zitierten Hamburger Ausstellungszyklus "Kunst um 1800" verschont worden ist.
Das von Liebe inspirierte, förmlich atmende Aquarellporträt der schönen Marianne Devidels, deren Namensbezeichnung Schadow noch die Worte "meine Frau" hinzugefügt hat, wird nur wegen einer nicht verschwiegenen Warze und wegen Goethes Klassifizierung der Berliner Kunst in die Realismusschublade sortiert und ganz unzulässig mit dessen dilettantischem Bildnis seiner Frau Christiane als idealisierte Erscheinung konfrontiert. So tritt fast überall an die Stelle eines Gespürs für die feineren Qualitäten dürre Dozierlust. Die Argumentation kann zwar dort überzeugen, wo Strategien eines Künstlers bei der Erzeugung von Effekten nachgewiesen werden kann, nicht aber im eigentlich Künstlerischen. Große Meister haben bisweilen kuriose Notizen hinterlassen. Man sollte bei ihrer Veröffentlichung Schonung üben. Die letzte Abbildung des Buches ist als einzige Zeichnung von Ingres ein geradezu kümmerliches Blatt.
Aber es geht um Behauptung statt Beobachtung, um Konstruktion statt Anschauung, um Diskurspflege statt Denkmälerkenntnis. These wird an These gereiht. Die Sicherheit des Behauptens gewinnt man aber nur durch ein Verdrängen der Wissenslücken. Dass zum Beispiel mit Jacques Louis Davids Karikatur der Königin Marie Antoinette erstmals "eine bekannte Person des öffentlichen Lebens" im Bild zum Verbrecher degradiert wird, kann man nur sagen, wenn man die Tradition der bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurückreichenden Schandbilder nicht kennt. Andrea del Castagno malte 1440 die Gegner der Medici sicher nicht als Idealporträts an die Fassade des Palazzo del Podesta in Florenz. Schwerer wiegen Irrtümer wie der, es habe in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in allen europäischen Ländern einen Widerstand gegen das akademische Reglement gegeben. Apodiktische Feststellungen, die dem Gedankengebäude Festigkeit verleihen sollen, können zwar im Augenblick verblüffen, bei genauerem Nachdenken lassen sie sich jedoch oft widerlegen, so die Ansicht, "die Rückenfigur als zentrale Figur einer Komposition" bleibe "von der Hochkunst des Klassizismus . . . ausgeschlossen". Gegenbeispiele bieten Angelika Kauffmann, Heinrich Füger, Abraham Nicolai Abildgaard, ja sogar Jacques Louis David. Über der Lust an der geistesgeschichtlichen Spekulation fehlt es am Ansporn, dem einzelnen Werk auf den Grund zu gehen. So wäre leicht zu ermitteln gewesen, dass Genellis Karikatur eines Nazareners neben einem Affenkopf nicht den Typus eines Nazareners, sondern Theodor Rehbenitz meint.
Sicher enthält das Buch viel Richtiges, aber es wird überwuchert von Schiefem und Halbwahrem. Man könnte es übergehen, wenn es nicht, von renommierten Wissenschaftlern begutachtet, dank eines Druckkostenzuschusses der VG Wort ein so prächtiges Outfit erhalten hätte. Das wirft ein Schlaglicht auf die sich vertiefende Kluft zwischen einer als Hochleistungssport betriebenen und einer als Dienst an der Kultur sich verstehenden Kunstgeschichte.
HELMUT BÖRSCH-SUPAN
Bernadette Collenberg-Plotnikov: "Klassizismus und Karikatur". Eine Konstellation der Kunst am Beginn der Moderne. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1998. 248 S., 112 Taf. mit 201 Abb., geb., 178,- DM.
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