Eines ist klar: »Klausen ist ein Tatort.« Was aber wirklich in diesem Südtiroler Ferienidyll für vor allem deutsche Touristen passiert ist, darüber gehen die Meinungen leidenschaftlich auseinander. Man erzählt von einem Überfall, gar einem gezielten Schuß aus dem Hinterhalt. Wer ist das Opfer, wer der Täter? Darüber gibt es zunächst nur abenteuerliche Spekulationen.
Erste Verdächtigungen gehen naturgemäß in Richtung der Pakistani und der Albaner auf der Ploderburg, aber bald geraten Hintermänner in den Blick, deren Grundstücksspekulationen die Vorgänge halbwegs plausibel zu machen scheinen. Jedoch werden nicht der einschlägig vorbestrafte Laner und sein Kontrahent Zurner verhaftet, sondern Gasser und seine Saufkumpane. Was beginnt wie eine Provinzposse, wächst sich aus: Ist Klausen gar Umschlagplatz eines internationalen Drogenkartells?
Wie sich Öffentlichkeit bildet, wie eine Verwirrung die nächste stiftet, bis alle Gewißheiten (oder was wir dafür halten) immer wahnhaftere Züge annehmen und schrill auf unser Handeln zurückwirken, das komponiert Andreas Maier zu einer bitterbösen Komödie über dieses vielleicht doch nicht so weltabgelegene Klausen.
Erste Verdächtigungen gehen naturgemäß in Richtung der Pakistani und der Albaner auf der Ploderburg, aber bald geraten Hintermänner in den Blick, deren Grundstücksspekulationen die Vorgänge halbwegs plausibel zu machen scheinen. Jedoch werden nicht der einschlägig vorbestrafte Laner und sein Kontrahent Zurner verhaftet, sondern Gasser und seine Saufkumpane. Was beginnt wie eine Provinzposse, wächst sich aus: Ist Klausen gar Umschlagplatz eines internationalen Drogenkartells?
Wie sich Öffentlichkeit bildet, wie eine Verwirrung die nächste stiftet, bis alle Gewißheiten (oder was wir dafür halten) immer wahnhaftere Züge annehmen und schrill auf unser Handeln zurückwirken, das komponiert Andreas Maier zu einer bitterbösen Komödie über dieses vielleicht doch nicht so weltabgelegene Klausen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.05.2002Onkel, die auf Schultern klopfen
Die Butterfahrt geht wie geschmiert: Andreas Maier macht einen Ausflug nach Klausen
Hat man einmal den Brenner überquert, den kahlen Pass mit seinen grauen Gebäuden, scheint die Landschaft in einem immer freudiger, beschwingter werdenden Accelerando vorbeizuziehen: Franzensfeste, Brixen, Klausen heißen die Orte im engen Tal. Oder Fortezza, Bressanone und Chiusa. Sie huschen vorüber, mit ihren dunklen Mauern, den Gasthöfen und den knallroten Geranien in den Blumenkästen, während die Autobahn sich bergab schwingt. Manchmal denkt sich der Reisende, das sehe doch sehr mittelalterlich aus hier, auf eine herbe, trutzige Weise interessant. Selten aber fährt tatsächlich einer ab, um die Kaskade nach Süden zu unterbrechen. Und dann öffnet sich das Tal, und Bozen liegt vor dem Reisenden.
Einem dieser Orte, dem von einer doppelten Burg gekrönten Klausen, hat Andreas Maier nun einen Roman gewidmet. Im Schatten der Autobahn begegnen einander ein paar wunderliche Gestalten, Tagediebe scheinen es zumeist zu sein, und auf eine vage, diffuse Art entwickelt sich eine Geschichte, die mit einem sauren Kalbskopf und einem Viertel Roten im Gasthaus beginnt und mit einer wenn auch nur kurz währenden Blockade, vielleicht sogar mit dem Versuch einer Sprengung der Autobahn endet. Genaues weiß aber keiner, auch wenn alle Beteiligten in einem fort reden, und der Leser wird es auch nicht erfahren. Denn im Zentrum dieses Romans steht das Gerücht. Oder besser: Dort stünde das Gerücht, wenn es der Autor mit sich, mit seinem Buch und mit seinen Lesern etwas ernster gemeint hätte.
Der Unterton des Oberwirts
Andreas Maier ist ein Meister seines Fachs. Und dieses Fach besteht darin, Andeutungen zu machen, unfertige Gedanken miteinander zu verschränken, die indirekte Rede zu gebrauchen und dieses ganze Murmeln, Raunen und Hörensagen solange aufeinander zu türmen, bis am Ende der letzte Rest vom Wirklichkeit im allgemeinen Gequassel begraben liegt. In diesem Sinne heißt es über zwei der Hauptfiguren in diesem Buch: „Es war zwar allgemein bekannt, daß sich Auer und Gasser in einer Klausner Wirtschaft tatsächlich einmal als Ingenieure vom Latzfonser Kreuz ausgegeben hatten, und zwar irgendeiner deutschen Seniorenreisegruppe gegenüber, der sie stundenlang etwas vorgelogen hatten, aber da das alles in der Zeitung gestanden hatte, wurde durchaus vermutet, daß der Unterwirt Erlebtes und Gelesenes vermischte und insgesamt, wie alle anderen auch, Voriges und Späteres vermengte und zu einem unlösbaren Knäuel verwirrte.” Und so geht es weiter, zweihundertfünfzehn Seiten lang. Und es macht Spaß, einen Weile jedenfalls, diesem Autor beim Spinnen seiner Kuriositäten zuzusehen.
Spätestens zur Mitte des Buches ist man der vielen Geschichten ohne Auflösung allerdings überdrüssig, und der zunächst so muntere, ja komische Erzähler hat sich in den Conferencier einer Butterfahrt in ihrer elften Stunde verwandelt. Das liegt daran, dass es diesem Geschwätz an Wahrheit fehlt, dass sich Tatsachen und Erfindung hier unablässig und unterschiedslos vermengen, ohne dass diese Mischung etwas anderes als nur skurril wäre. Und es geht darauf zurück, dass die dem Roman zugrunde liegenden Strukturen so einfach sind, so schlicht, als hätte man sie als Kopiervorlage aus einem germanistischen Seminar mit nach Hause genommen und durchgepaust: die Stadt und das Land, der Künstler und der Biedermann, der Einheimische mit seiner Liebe zum Laserstrahler und der deutsche Tourist mit seiner Bundhose und den roten Strümpfen.
Schon einmal hat Andreas Maier ein solches Buch veröffentlicht, und vor eineinhalb Jahren, als der Ton neu und originell war, erhielt er für „Wäldchestag”, ein Panoptikum aus der Wetterau nördlich von Frankfurt, mit gutem Grund viel Ruhm und Applaus. Dass sich aber dieser Ton so flott auf andere Landstriche übertragen lässt, ist Grund zum Misstrauen: Steht der übernächste Ort etwa schon bereit? Wo gibt es noch ein paar ländlich beschränkte Burschen, die sich über denselben Kamm scheren lassen? Und kann man wirklich zwei Mal und auf ähnliche Weise einen Roman über das Gerücht schreiben? Man kann es nicht. Denn nichts ist der Infamie, der tiefen Bösartigkeit eines wahren Gerüchts ferner als das klappernde Schema eines wenn auch noch so gelungenen Witzes.
Andreas Maier hat sich im Südtiroler Klausen also einen Vorgarten eingerichtet, einen hübsch realistischen Vorgarten zwar, mit echtem Beton und authentischen Fabriken, aber doch eine von Grund auf harmlose Miniaturlandschaft, beherrschbar und beherrscht bis zum Asylantenlager auf der Ploderburg: „Die Marokkaner und die Albaner hatten nämlich eine Todesangst vor den Brixner Polizisten, und die Brixner Polizisten konnten das überhaupt nicht verstehen.” Nein, das können sie vermutlich ebenso wenig, wie der Räuber Hotzenplotz sich ein Bild von der Mafia zu machen in der Lage wäre.
In seinen Vorgarten hat Andreas Maier keine Menschen, sondern Gartenzwerge gestellt. Alle sind gleich groß, so dass sich eine behagliche Desorientierung einstellt, wer nun gerade spricht, alle haben irgendwelche wunderlichen Ideen im Kopf, so dass man sie nebeneinander reden lassen kann, ohne sich mit einem Gedanken beschäftigen zu müssen. Und alle stehen in einem fast komisch schrägen Winkel zueinander. Der eine ist dick und schiebt eine Karre, der andere ist dünn und hat eine Brille auf der Nase, aber possierlich sind sie allesamt: der Dichter Auer, der Taugenichts Gasser, dessen Schwester Kati, die Heldin einer Seifenoper im Fernsehen, der Philosoph Zanetti, eine Handvoll Würdenträger aus dem Dorf, und alle miteinander sind sie nicht weniger dem Alkohol verfallen als die Mannschaft des ANO-Teppichladens in Eckhard Henscheids unvergessenem Roman „Geht in Ordnung – sowieso – genau” aus dem Jahre 1976. Bei Henscheid ist dann auch die Tradition dieses Werks zu suchen, viel eher als bei Thomas Bernhard, der neuerdings und sehr zu Unrecht bei jedem auch nur halbwegs schlecht gelaunten Heimatroman als Pate herbeigerufen wird.
Wo keiner zu Schaden kommt
Zu einer Satire reicht es hier nicht, denn diese funktioniert nur dann, wenn sie ihrem Gegenstand zum Verwechseln ähnlich ist. Eine Groteske könnte man diesen Roman hingegen nennen, einen auf moderate Weise exzentrischen Heimatroman, bei dem man genau weiß, dass alle formalen Ausflüge in die literarische Avantgarde auf die gesellschaftliche Mitte, auf den Konsens, auf die allgemeine Verträglichkeit bezogen bleiben und am Ende keiner wirklich zu Schaden kommt. Diese joviale Art zu schreiben hat sich in jüngster Zeit in der deutschsprachigen Literatur breit gemacht, von Michael Kumpfmüller bis zu Sven Regener – eine Liebe zu wunderlichen Figuren, bizarren Kontrasten und sonderbaren Geschichten, ein von Grund auf nettes, onkelhaftes, schulterklopfendes Erzählen. Kurz: eine Literatur für Gemütsmenschen. Sie lebt vom stillen, genießenden Einverständnis mit dem Lauf der Welt. Und das kann auf die Dauer nicht genügen.
THOMAS STEINFELD
ANDREAS MAIER: Klausen. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 216 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Die Butterfahrt geht wie geschmiert: Andreas Maier macht einen Ausflug nach Klausen
Hat man einmal den Brenner überquert, den kahlen Pass mit seinen grauen Gebäuden, scheint die Landschaft in einem immer freudiger, beschwingter werdenden Accelerando vorbeizuziehen: Franzensfeste, Brixen, Klausen heißen die Orte im engen Tal. Oder Fortezza, Bressanone und Chiusa. Sie huschen vorüber, mit ihren dunklen Mauern, den Gasthöfen und den knallroten Geranien in den Blumenkästen, während die Autobahn sich bergab schwingt. Manchmal denkt sich der Reisende, das sehe doch sehr mittelalterlich aus hier, auf eine herbe, trutzige Weise interessant. Selten aber fährt tatsächlich einer ab, um die Kaskade nach Süden zu unterbrechen. Und dann öffnet sich das Tal, und Bozen liegt vor dem Reisenden.
Einem dieser Orte, dem von einer doppelten Burg gekrönten Klausen, hat Andreas Maier nun einen Roman gewidmet. Im Schatten der Autobahn begegnen einander ein paar wunderliche Gestalten, Tagediebe scheinen es zumeist zu sein, und auf eine vage, diffuse Art entwickelt sich eine Geschichte, die mit einem sauren Kalbskopf und einem Viertel Roten im Gasthaus beginnt und mit einer wenn auch nur kurz währenden Blockade, vielleicht sogar mit dem Versuch einer Sprengung der Autobahn endet. Genaues weiß aber keiner, auch wenn alle Beteiligten in einem fort reden, und der Leser wird es auch nicht erfahren. Denn im Zentrum dieses Romans steht das Gerücht. Oder besser: Dort stünde das Gerücht, wenn es der Autor mit sich, mit seinem Buch und mit seinen Lesern etwas ernster gemeint hätte.
Der Unterton des Oberwirts
Andreas Maier ist ein Meister seines Fachs. Und dieses Fach besteht darin, Andeutungen zu machen, unfertige Gedanken miteinander zu verschränken, die indirekte Rede zu gebrauchen und dieses ganze Murmeln, Raunen und Hörensagen solange aufeinander zu türmen, bis am Ende der letzte Rest vom Wirklichkeit im allgemeinen Gequassel begraben liegt. In diesem Sinne heißt es über zwei der Hauptfiguren in diesem Buch: „Es war zwar allgemein bekannt, daß sich Auer und Gasser in einer Klausner Wirtschaft tatsächlich einmal als Ingenieure vom Latzfonser Kreuz ausgegeben hatten, und zwar irgendeiner deutschen Seniorenreisegruppe gegenüber, der sie stundenlang etwas vorgelogen hatten, aber da das alles in der Zeitung gestanden hatte, wurde durchaus vermutet, daß der Unterwirt Erlebtes und Gelesenes vermischte und insgesamt, wie alle anderen auch, Voriges und Späteres vermengte und zu einem unlösbaren Knäuel verwirrte.” Und so geht es weiter, zweihundertfünfzehn Seiten lang. Und es macht Spaß, einen Weile jedenfalls, diesem Autor beim Spinnen seiner Kuriositäten zuzusehen.
Spätestens zur Mitte des Buches ist man der vielen Geschichten ohne Auflösung allerdings überdrüssig, und der zunächst so muntere, ja komische Erzähler hat sich in den Conferencier einer Butterfahrt in ihrer elften Stunde verwandelt. Das liegt daran, dass es diesem Geschwätz an Wahrheit fehlt, dass sich Tatsachen und Erfindung hier unablässig und unterschiedslos vermengen, ohne dass diese Mischung etwas anderes als nur skurril wäre. Und es geht darauf zurück, dass die dem Roman zugrunde liegenden Strukturen so einfach sind, so schlicht, als hätte man sie als Kopiervorlage aus einem germanistischen Seminar mit nach Hause genommen und durchgepaust: die Stadt und das Land, der Künstler und der Biedermann, der Einheimische mit seiner Liebe zum Laserstrahler und der deutsche Tourist mit seiner Bundhose und den roten Strümpfen.
Schon einmal hat Andreas Maier ein solches Buch veröffentlicht, und vor eineinhalb Jahren, als der Ton neu und originell war, erhielt er für „Wäldchestag”, ein Panoptikum aus der Wetterau nördlich von Frankfurt, mit gutem Grund viel Ruhm und Applaus. Dass sich aber dieser Ton so flott auf andere Landstriche übertragen lässt, ist Grund zum Misstrauen: Steht der übernächste Ort etwa schon bereit? Wo gibt es noch ein paar ländlich beschränkte Burschen, die sich über denselben Kamm scheren lassen? Und kann man wirklich zwei Mal und auf ähnliche Weise einen Roman über das Gerücht schreiben? Man kann es nicht. Denn nichts ist der Infamie, der tiefen Bösartigkeit eines wahren Gerüchts ferner als das klappernde Schema eines wenn auch noch so gelungenen Witzes.
Andreas Maier hat sich im Südtiroler Klausen also einen Vorgarten eingerichtet, einen hübsch realistischen Vorgarten zwar, mit echtem Beton und authentischen Fabriken, aber doch eine von Grund auf harmlose Miniaturlandschaft, beherrschbar und beherrscht bis zum Asylantenlager auf der Ploderburg: „Die Marokkaner und die Albaner hatten nämlich eine Todesangst vor den Brixner Polizisten, und die Brixner Polizisten konnten das überhaupt nicht verstehen.” Nein, das können sie vermutlich ebenso wenig, wie der Räuber Hotzenplotz sich ein Bild von der Mafia zu machen in der Lage wäre.
In seinen Vorgarten hat Andreas Maier keine Menschen, sondern Gartenzwerge gestellt. Alle sind gleich groß, so dass sich eine behagliche Desorientierung einstellt, wer nun gerade spricht, alle haben irgendwelche wunderlichen Ideen im Kopf, so dass man sie nebeneinander reden lassen kann, ohne sich mit einem Gedanken beschäftigen zu müssen. Und alle stehen in einem fast komisch schrägen Winkel zueinander. Der eine ist dick und schiebt eine Karre, der andere ist dünn und hat eine Brille auf der Nase, aber possierlich sind sie allesamt: der Dichter Auer, der Taugenichts Gasser, dessen Schwester Kati, die Heldin einer Seifenoper im Fernsehen, der Philosoph Zanetti, eine Handvoll Würdenträger aus dem Dorf, und alle miteinander sind sie nicht weniger dem Alkohol verfallen als die Mannschaft des ANO-Teppichladens in Eckhard Henscheids unvergessenem Roman „Geht in Ordnung – sowieso – genau” aus dem Jahre 1976. Bei Henscheid ist dann auch die Tradition dieses Werks zu suchen, viel eher als bei Thomas Bernhard, der neuerdings und sehr zu Unrecht bei jedem auch nur halbwegs schlecht gelaunten Heimatroman als Pate herbeigerufen wird.
Wo keiner zu Schaden kommt
Zu einer Satire reicht es hier nicht, denn diese funktioniert nur dann, wenn sie ihrem Gegenstand zum Verwechseln ähnlich ist. Eine Groteske könnte man diesen Roman hingegen nennen, einen auf moderate Weise exzentrischen Heimatroman, bei dem man genau weiß, dass alle formalen Ausflüge in die literarische Avantgarde auf die gesellschaftliche Mitte, auf den Konsens, auf die allgemeine Verträglichkeit bezogen bleiben und am Ende keiner wirklich zu Schaden kommt. Diese joviale Art zu schreiben hat sich in jüngster Zeit in der deutschsprachigen Literatur breit gemacht, von Michael Kumpfmüller bis zu Sven Regener – eine Liebe zu wunderlichen Figuren, bizarren Kontrasten und sonderbaren Geschichten, ein von Grund auf nettes, onkelhaftes, schulterklopfendes Erzählen. Kurz: eine Literatur für Gemütsmenschen. Sie lebt vom stillen, genießenden Einverständnis mit dem Lauf der Welt. Und das kann auf die Dauer nicht genügen.
THOMAS STEINFELD
ANDREAS MAIER: Klausen. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 216 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
»Nach einem ersten Erfolg das zweite Buch zu schreiben, ist bekanntlich schwer. ... Andreas Maier hat die Hürde mit Schwung und Geschick gemeistert.« Ulrich Greiner DIE ZEIT 20020502
Der moderne Heimatroman oder: Die Provinzposse
Auch sein zweiter Roman ist ein Mikrokosmos, bis zum Bersten gefüllt mit Charakteren, die Andreas Maier meisterhaft darzustellen weiß. Freilich sind es auch diesmal wieder die Fiesen und die Dummen, die es ihm angetan haben. Kleinststadtmenschen und Provinzler, deren Engstirnigkeit, hochfahrende Besserwisserei und Wut auf Fremde er durch die überwiegend in indirekter Rede gehaltene Wiedergabe ihres Geredes entlarvt. Sicherer und lockerer ist dabei sein eigentümlicher Stil geworden, weniger artifiziell, aber immer noch so eindringlich wie in seinem ersten Buch Wäldchestag.
Klausen, Südtirol
Die Handlung, vor dessen Hintergrund Maier seine hochkomisch und bissig-satirisch dargestellten Charaktere in Intrigen, Missverständnisse, Lügen und Mauscheleien verwickelt, ist beängstigend realistisch. Ort ist Klausen, ein kleines Dorf in Südtirol, deren Einwohner im Schatten eines gigantischen, auf hohen Stelzen ruhenden Viadukts der Brennerautobahn leben. Dieses Viadukt wird zum Schauplatz eines spektakulären Geschehens, in dem sich die zuvor aufgeladene Spannung zwischen den gar nicht so friedlichen Dorfbewohnern entlädt. Die Beklemmung, die den Leser im Laufe der Erzählung erfasst, wird dabei weniger durch die Schilderung der Ereignisse als vielmehr durch das damit einhergehende boshafte Gerede erzeugt. Die Wirklichkeit der Ereignisse ist nicht immer die durch das Gerede erzeugte Wirklichkeit. So gerät man in einen schwer zu durchdringende Sumpf von übler Nachrede, Feindschaft und vielleicht auch wahrer Kriminalität. Klausen jedenfalls entwickelt sich schließlich zu einer richtigen Kriminalgeschichte, in der militante Umweltaktivisten, Grundstücksspekulanten und Ausländerhasser ihr Unwesen treiben.
Andreas Maier zählt zu dem Besten, was die deutsche Literatur derzeit zu bieten hat. Mit Klausen hat er es wieder bewiesen und man freut sich auf seinen dritten Roman. (Andreas Rötzer)
Auch sein zweiter Roman ist ein Mikrokosmos, bis zum Bersten gefüllt mit Charakteren, die Andreas Maier meisterhaft darzustellen weiß. Freilich sind es auch diesmal wieder die Fiesen und die Dummen, die es ihm angetan haben. Kleinststadtmenschen und Provinzler, deren Engstirnigkeit, hochfahrende Besserwisserei und Wut auf Fremde er durch die überwiegend in indirekter Rede gehaltene Wiedergabe ihres Geredes entlarvt. Sicherer und lockerer ist dabei sein eigentümlicher Stil geworden, weniger artifiziell, aber immer noch so eindringlich wie in seinem ersten Buch Wäldchestag.
Klausen, Südtirol
Die Handlung, vor dessen Hintergrund Maier seine hochkomisch und bissig-satirisch dargestellten Charaktere in Intrigen, Missverständnisse, Lügen und Mauscheleien verwickelt, ist beängstigend realistisch. Ort ist Klausen, ein kleines Dorf in Südtirol, deren Einwohner im Schatten eines gigantischen, auf hohen Stelzen ruhenden Viadukts der Brennerautobahn leben. Dieses Viadukt wird zum Schauplatz eines spektakulären Geschehens, in dem sich die zuvor aufgeladene Spannung zwischen den gar nicht so friedlichen Dorfbewohnern entlädt. Die Beklemmung, die den Leser im Laufe der Erzählung erfasst, wird dabei weniger durch die Schilderung der Ereignisse als vielmehr durch das damit einhergehende boshafte Gerede erzeugt. Die Wirklichkeit der Ereignisse ist nicht immer die durch das Gerede erzeugte Wirklichkeit. So gerät man in einen schwer zu durchdringende Sumpf von übler Nachrede, Feindschaft und vielleicht auch wahrer Kriminalität. Klausen jedenfalls entwickelt sich schließlich zu einer richtigen Kriminalgeschichte, in der militante Umweltaktivisten, Grundstücksspekulanten und Ausländerhasser ihr Unwesen treiben.
Andreas Maier zählt zu dem Besten, was die deutsche Literatur derzeit zu bieten hat. Mit Klausen hat er es wieder bewiesen und man freut sich auf seinen dritten Roman. (Andreas Rötzer)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002In dieser Sekunde standen ihre Schwingen still
Frau Fama fliegt nach Südtirol: Andreas Maiers Roman "Klausen" entdeckt die Wahrheit als Gerücht, das noch niemand vernommen hat
Vor ungefähr einem Jahr wurde ein seltsames Wesen beobachtet, das sich mit großer Geschwindigkeit aus der Gegend um Frankfurt nach Süden bewegte. Es sei eine geflügelte Frau gewesen, sagten die einen, und sie habe furchterregend ausgesehen: mit zahllosen Augen, Mündern und Ohren. Nein, sagten andere, es sei ein alter Mann gewesen: Er habe ein Maul gehabt, das bis zu den Ohren reichte, und in diesem Maul sieben Zungen, von denen jede wiederum siebenmal gespalten war. Im übrigen sei der häßliche Alte lahm und blind gewesen. Es gab noch andere Beschreibungen des Wesens, aber keine glich der anderen. Nur in einem Punkt waren sich die Beobachter einig: Man könne sicher sein, daß dieses Wesen aus der nördlich von Frankfurt gelegenen Wetterau gekommen sei und nach Südtirol gewollt habe, nach Brixen, wie manche meinten, nach Klausen, wie andere sagten.
Das seltsame Wesen gibt es tatsächlich. Bei den Griechen hieß es Pheme und wurde als mächtige Gottheit mehr gefürchtet als verehrt. Die Römer nannten es Fama und bezeichneten damit den Ruhm, aber auch das Gerede und vor allem das Gerücht. Vergil beschreibt es als geflügeltes weibliches Ungeheuer, Ovid als Macht ohne Gestalt und Körper. Chaucer bezeichnet das Gerücht als den "Mann, welchen ich nicht nennen kann", von Rabelais stammt die Variante des siebenzüngigen Greises, und Shakespeare läßt das Gerücht in seinem "Heinrich IV." leibhaftig die Bühne betreten. Gerücht, Gerede, Geschwätz, Denunziation, Verleumdung und Intrige haben die Literatur seit je beschäftigt.
Das Gerücht, das vor einem Jahr aus der Wetterau nach Südtirol flog, wußte von einem jungen Schriftsteller, der Bücher über die Orte schreibe, an denen er lebe, und über die Menschen, denen er dort begegne. Andreas Maier, so der Name des Autors, habe einen Roman über die Wetterau geschrieben, die Region, in der er geboren und aufgewachsen sei, und nun, da er einen großen Teil des Jahres in Brixen verbringe, arbeite er an einem Buch über Südtirol und die Südtiroler. Bis in die Wetterau sei daraufhin das Wehklagen der Südtiroler zu hören gewesen, sagten manche. Nein, sagen andere, es sei Jubel gewesen, den man habe hören können. Was soll man glauben? Was können wir wissen? Was hat es auf sich mit den Gerüchten um Andreas Maier?
Als verbürgt darf gelten, daß der 1967 in Bad Nauheim geborene Andreas Maier eine der interessantesten Stimmen der jungen deutschen Literatur ist, seitdem er vor zwei Jahren mit seinem Debütroman "Wäldchestag" die literarische Bühne betrat und gleich mehrere Auszeichnungen erhielt, darunter den "aspekte"-Literaturpreis. Ein Erfolg, der nicht leicht zu erklären ist. Denn "Wäldchestag" liegt quer zu den literarischen Moden der letzten Jahre: ein sperriges, überwiegend im Konjunktiv geschriebenes Buch über die Macht des Hörensagens am Beispiel einiger Provinzler, die anläßlich der Beerdigung eines Dorfsonderlings in Streit geraten und sich heillos in ein Netz aus Mißverständnissen, Intrigen und Eifersüchteleien verstricken.
Wahr und verbürgt ist auch, daß Maiers zweites Buch in Südtirol spielt. Mit "Klausen", das in diesen Tagen erschienen ist, verfolgt Andreas Maier das mit dem Debüt begonnene Projekt konsequent weiter: die Erneuerung des Heimatromans als philosophisch-sprachskeptisches Genre, der die Region als kunstvoll aus Geschwätz und Gerede, Unsinn und Tiefsinn erbautes Labyrinth beschreibt, in dem Frau Fama, die geflügelte Allegorie des Gerüchtes, herumschwirrt wie die Schwalbe im Heuschober.
Ein solches Labyrinth ist Klausen, ein Ort nordöstlich von Bozen, von dem sich Albrecht Dürer 1494 zu dem Gemälde "Das große Glück" anregen ließ. Seitdem kokettiert die Gemeinde mit dem Etikett "Künstlerstadt". Und tatsächlich spielen zwei Künstler wichtige Rollen im Buch: Der eine, der Kunsthandwerker Pareith, hat eine Ansicht Klausens gemalt, die von der Stadt angekauft und als offizielles Stadtporträt auf Plakaten und Postkarten tausendfach reproduziert wurde. Pareith zeigt Klausen, wie das Fremdenverkehrsbüro und die Tourismusbranche die Stadt gern hätten: als idyllische Insel der Ruhe. Was immer das Idyll in der Realität beeinträchtigt, hat Pareith auf seinem Bild weggelassen: die vielbefahrene Eisacktaler Straße, die Kalkwerke, die Speckfabrik, den Staudamm, die betonierten Ufer des Eisack. Vor allem aber fehlt auf Pareiths Bild das Autobahnviadukt, die auf hohen Stelzen Stadt und Tal überragende Fahrbahn der nach Trient führenden A 22.
Dieses Viadukt und der von ihm aufs Städtchen herniederdonnernde Verkehrslärm straft jedes Wort vom Südtiroler Idyll Lügen. In Wilhelm Raabes 1884 erschienener Erzählung "Pfisters Mühle", einer der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Thema moderner Umweltverschmutzung, setzen die Abwässer einer Zuckerfabrik dem Idyll am Dorfbach ein Ende. In "Klausen" ist das Viadukt das zentrale Symbol der Modernisierung und ihrer negativen Folgen wie Umweltverschmutzung und Lärmbelästigung. Die Autobahnbrücke ist der Kristallisationspunkt jener Vorkommnisse, an deren Ende es heißen wird: "Klausen ist ein Tatort." Denn dieser Roman ist nicht nur ein hochkomisches Pamphlet wider die Seuche Zivilisationslärm und eine hintersinnige Apologie der Stille, sondern auch eine Kriminalgeschichte, in der zwar niemand überführt, aber jeder verdächtigt wird. Es wird, wie man im Schatten der großen Speckwerke sagen würde, verdächtigt, daß die Schwarte kracht.
Zum Kreis der a priori Verdächtigen gehört auch Auer, neben Pareith der zweite Künstler in Klausen. In Deutschland werden die Verse des Dichters und Malers veröffentlicht und mit Stipendien gewürdigt, während die Klausner in ihrem Mitbürger nicht mehr als einen verwahrlosten Trunkenbold sehen. Auers Kunstwerke zeigen das wahre Klausen, aber nicht jenes aus Häuser und Gassen erbaute, sondern die Stadt, wie sie sich in den Gesichtern ihrer Bürger offenbart. Auf Servietten und Zetteln hat Auer Porträts seiner Mitbürger als "pazzi", als Verrückte, festgehalten: verzerrte Grimassen, Fratzen "mit aufgerissenem Mund", Bilder von Männern und Frauen, die sich das Maul zerreißen. Denn das ist die Hauptbeschäftigung der Klausner: Sie reden, schwätzen, spekulieren, verbreiten Gerüchte.
Der Roman beschreibt rückblickend einen Zeitraum von drei Wochen, in denen sich Klausen zu einem Dampfkochtopf entwickelt. Zunächst köcheln die Ereignisse (und mit ihnen der Leser) auf kleiner Flamme: Josef Gasser, die Hauptfigur, kehrt nach dem Studium in Berlin in seinen Heimatort zurück. Nun arbeitet er im Fremdenverkehrsbüro, wo er Touristen in die Irre führt oder gleich verjagt, und lungert mit seinem Freund Auer in der Wirtschaft herum. Gasser beobachtet die Klausner, und die Klausner beobachten ihn, denn seine verschlossene Art und der Aufenthalt im fernen Berlin haben ihm den Respekt, vor allem aber das Mißtrauen der Klausner eingetragen. Innerhalb kürzester Zeit sorgen verborgene und erfundene Konflikte für mehr Druck im Kessel: Einige Honoratioren stehen unter Korruptionsverdacht, ein Immobilienskandal droht, bei dem auch Asylbewerber und Gastarbeiter eine Rolle spielen, Vogelschützer gehen gegen die Laserreklame der Dorfdiscothek vor, nächtliche Lärmschutzmessungen werden gewaltsam verhindert, es kommt zu Überfällen und Schlägereien.
So entsteht ein Klima der Verdächtigungen und Unterstellungen. Bereitwillig glaubt man, was man gehört hat; eilfertig gibt man es weiter. Es ist "das kleine, so leicht gesprochene, so schnell geschriebene, so flüchtig ins Ohr klingende, gedruckt kaum ins Auge fallende Wörtchen: man", wie Wilhelm Raabe in seinem Roman "Horacker" schreibt, das die Ereignisse vorantreibt. "Horacker grassierte in der Gegend", heißt es, als das erste Mal der Name des entlaufenen Fürsorgezöglings fällt, der im Verlauf des Romans mehrerer Morde und schrecklicher Schandtaten bezichtigt wird. Kein Verbrechen, das Horacker unterstellt wird, hat er begangen. Die Dinge ereignen sich nur in der Sprache, als Erzähltes, und ihr Agent ist das ungreifbare, allgegenwärtige "man", von dem es bei Raabe heißt: "Es ist der fliegende lichtbeschienene Schaum der Oberfläche; es ist die unbewegte schwarze Tiefe." Dieses gemeinschaftsstiftende "man" ist auch bei Maier der Zeuge, auf den sich alle berufen. Er ist nicht zu identifizieren und also nicht zu widerlegen, noch kann er zur Rechenschaft gezogen werden. Und doch gibt sich im Gerücht die Gemeinschaft zu erkennen, in der es entstanden ist.
Es sind kleine Gemeinschaften, denen sich Maier zuwendet. Während viele literarische Debüts der letzten Jahre vom wohlfeilen Berlin-Bonus profitierten oder in spätpubertären Selbstbetrachtungen verharrten, entschied sich Maier für die Provinz und wurde Regionalist. Aber er wählt den lokalen Schauplatz nicht, weil er lokales Brauchtum oder den Dialekt in der Beschreibung bewahren will. Sein Interesse gilt jener Form mündlicher Öffentlichkeit, wie sie nur in kleinen und kleinsten sozialen Strukturen existieren kann: Informationen und Meinungen werden im Gespräch ausgetauscht, auf der Straße, beim Kaffeeklatsch, in der Wirtschaft. Die Massenmedien spielen eine untergeordnete Rolle. Wie hier Argumente und Behauptungen, Mißverständnisse und Unterstellungen, Halbwahrheiten und Lügen, Spekulationen und Spinnereien ein Sprachgewebe ergeben, in dem nicht zwei Beteiligte dasselbe Muster erkennen - das zu beschreiben macht Maiers Meisterschaft aus. Sie beruht auf einem feinen Ohr für die gesprochene Sprache.
Während bei einem anderen Autor dieses Frühjahrs, bei Peter Handke, Mündlichkeit als idealisiertes Gegenbild einer korrumpierten Medienöffentlichkeit erscheint, als Möglichkeit zur Wiedergewinnung einer vormodernen Kommunikationsform, begreift Maier Mündlichkeit als abgefeimten Agenten des Chaos: Das Gerede der Menge hüllt alle Gegenstände in einen Sprachnebel und macht Erkenntnis unmöglich. Das Geschwätz spottet jeder Empirie. Was sollen wir glauben? Was können wir wissen? Dies sind die großen erkenntnistheoretischen Fragen, die Maiers Bücher komödiantisch, sarkastisch, aber auch verzweifelt stellt. Wenn Heimat mit Bloch der Ort ist, an dem noch niemand war, so ist die Wahrheit mit Andreas Maier das Gerücht, das noch keiner vernommen hat. Am nächsten kommt ihr das Wort, das nicht gesprochen wird: das Schweigen.
In seinem äußerst kenntnisreichen und lesenswerten Buch "Fama. Eine Geschichte des Gerüchts" zitiert Hans-Joachim Neubauer die Theoretiker des Gerüchts, von Plutarch bis zu C. G. Jung. Die Soziologie begreift das Gerücht als "kollektive Formung", die in der Zusammenarbeit vieler entstanden sei und damit deutbar wird. Wer die Klausner Gerüchte deuten möchte, stößt auf die aus "Wäldchestag" bekannten Ressentiments, auf Neid, Mißgunst und Eitelkeit. Der Rest geht auf die Kappe des ganz normalen Wahnsinns, der sich am Zipfel ihres Umhangs festkrallt, wann immer Frau Fama sich in die Lüfte erhebt.
Aber in "Klausen" kommen andere Dinge hinzu: Hier streiten Südtiroler um das Recht auf eine eigene Identität zwischen Deutschen und Italienern, der Tourismus hat eine Fremdenfeindlichkeit ganz eigener Prägung hervorgebracht, die Modernisierungsängste der Talbewohner, die in der Schönheit der Landschaft ihr wichtigstes Kapital sehen, liegen mit ihren ökonomischen Interessen in heftigstem Widerstreit. Schließlich wird sogar ein terroristischer Anschlag einiger Umweltaktivisten vermutet. Als sie die Autobahn sperren, um ein Transparent zu enthüllen oder aber, wie sofort vermutet wird, um das Viadukt in die Luft zu sprengen, erreicht das unübersichtliche Geschehen seinen Höhepunkt: "Etwas Unfaßbares war eingetreten: Stille." Denn im selben Moment, in dem der Straßenlärm aussetzt, erstirbt auch das vielstimmige Getratsche der Klausner. Für einen Moment stehen Frau Famas Flügel still, völlig reglos schwebt sie über dem Ort. Dies ist der Moment, dem Maiers glänzend konstruiertes Buch von der ersten Zeile an zustrebt.
Andreas Maier: "Klausen". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 216 S., geb., 18,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frau Fama fliegt nach Südtirol: Andreas Maiers Roman "Klausen" entdeckt die Wahrheit als Gerücht, das noch niemand vernommen hat
Vor ungefähr einem Jahr wurde ein seltsames Wesen beobachtet, das sich mit großer Geschwindigkeit aus der Gegend um Frankfurt nach Süden bewegte. Es sei eine geflügelte Frau gewesen, sagten die einen, und sie habe furchterregend ausgesehen: mit zahllosen Augen, Mündern und Ohren. Nein, sagten andere, es sei ein alter Mann gewesen: Er habe ein Maul gehabt, das bis zu den Ohren reichte, und in diesem Maul sieben Zungen, von denen jede wiederum siebenmal gespalten war. Im übrigen sei der häßliche Alte lahm und blind gewesen. Es gab noch andere Beschreibungen des Wesens, aber keine glich der anderen. Nur in einem Punkt waren sich die Beobachter einig: Man könne sicher sein, daß dieses Wesen aus der nördlich von Frankfurt gelegenen Wetterau gekommen sei und nach Südtirol gewollt habe, nach Brixen, wie manche meinten, nach Klausen, wie andere sagten.
Das seltsame Wesen gibt es tatsächlich. Bei den Griechen hieß es Pheme und wurde als mächtige Gottheit mehr gefürchtet als verehrt. Die Römer nannten es Fama und bezeichneten damit den Ruhm, aber auch das Gerede und vor allem das Gerücht. Vergil beschreibt es als geflügeltes weibliches Ungeheuer, Ovid als Macht ohne Gestalt und Körper. Chaucer bezeichnet das Gerücht als den "Mann, welchen ich nicht nennen kann", von Rabelais stammt die Variante des siebenzüngigen Greises, und Shakespeare läßt das Gerücht in seinem "Heinrich IV." leibhaftig die Bühne betreten. Gerücht, Gerede, Geschwätz, Denunziation, Verleumdung und Intrige haben die Literatur seit je beschäftigt.
Das Gerücht, das vor einem Jahr aus der Wetterau nach Südtirol flog, wußte von einem jungen Schriftsteller, der Bücher über die Orte schreibe, an denen er lebe, und über die Menschen, denen er dort begegne. Andreas Maier, so der Name des Autors, habe einen Roman über die Wetterau geschrieben, die Region, in der er geboren und aufgewachsen sei, und nun, da er einen großen Teil des Jahres in Brixen verbringe, arbeite er an einem Buch über Südtirol und die Südtiroler. Bis in die Wetterau sei daraufhin das Wehklagen der Südtiroler zu hören gewesen, sagten manche. Nein, sagen andere, es sei Jubel gewesen, den man habe hören können. Was soll man glauben? Was können wir wissen? Was hat es auf sich mit den Gerüchten um Andreas Maier?
Als verbürgt darf gelten, daß der 1967 in Bad Nauheim geborene Andreas Maier eine der interessantesten Stimmen der jungen deutschen Literatur ist, seitdem er vor zwei Jahren mit seinem Debütroman "Wäldchestag" die literarische Bühne betrat und gleich mehrere Auszeichnungen erhielt, darunter den "aspekte"-Literaturpreis. Ein Erfolg, der nicht leicht zu erklären ist. Denn "Wäldchestag" liegt quer zu den literarischen Moden der letzten Jahre: ein sperriges, überwiegend im Konjunktiv geschriebenes Buch über die Macht des Hörensagens am Beispiel einiger Provinzler, die anläßlich der Beerdigung eines Dorfsonderlings in Streit geraten und sich heillos in ein Netz aus Mißverständnissen, Intrigen und Eifersüchteleien verstricken.
Wahr und verbürgt ist auch, daß Maiers zweites Buch in Südtirol spielt. Mit "Klausen", das in diesen Tagen erschienen ist, verfolgt Andreas Maier das mit dem Debüt begonnene Projekt konsequent weiter: die Erneuerung des Heimatromans als philosophisch-sprachskeptisches Genre, der die Region als kunstvoll aus Geschwätz und Gerede, Unsinn und Tiefsinn erbautes Labyrinth beschreibt, in dem Frau Fama, die geflügelte Allegorie des Gerüchtes, herumschwirrt wie die Schwalbe im Heuschober.
Ein solches Labyrinth ist Klausen, ein Ort nordöstlich von Bozen, von dem sich Albrecht Dürer 1494 zu dem Gemälde "Das große Glück" anregen ließ. Seitdem kokettiert die Gemeinde mit dem Etikett "Künstlerstadt". Und tatsächlich spielen zwei Künstler wichtige Rollen im Buch: Der eine, der Kunsthandwerker Pareith, hat eine Ansicht Klausens gemalt, die von der Stadt angekauft und als offizielles Stadtporträt auf Plakaten und Postkarten tausendfach reproduziert wurde. Pareith zeigt Klausen, wie das Fremdenverkehrsbüro und die Tourismusbranche die Stadt gern hätten: als idyllische Insel der Ruhe. Was immer das Idyll in der Realität beeinträchtigt, hat Pareith auf seinem Bild weggelassen: die vielbefahrene Eisacktaler Straße, die Kalkwerke, die Speckfabrik, den Staudamm, die betonierten Ufer des Eisack. Vor allem aber fehlt auf Pareiths Bild das Autobahnviadukt, die auf hohen Stelzen Stadt und Tal überragende Fahrbahn der nach Trient führenden A 22.
Dieses Viadukt und der von ihm aufs Städtchen herniederdonnernde Verkehrslärm straft jedes Wort vom Südtiroler Idyll Lügen. In Wilhelm Raabes 1884 erschienener Erzählung "Pfisters Mühle", einer der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Thema moderner Umweltverschmutzung, setzen die Abwässer einer Zuckerfabrik dem Idyll am Dorfbach ein Ende. In "Klausen" ist das Viadukt das zentrale Symbol der Modernisierung und ihrer negativen Folgen wie Umweltverschmutzung und Lärmbelästigung. Die Autobahnbrücke ist der Kristallisationspunkt jener Vorkommnisse, an deren Ende es heißen wird: "Klausen ist ein Tatort." Denn dieser Roman ist nicht nur ein hochkomisches Pamphlet wider die Seuche Zivilisationslärm und eine hintersinnige Apologie der Stille, sondern auch eine Kriminalgeschichte, in der zwar niemand überführt, aber jeder verdächtigt wird. Es wird, wie man im Schatten der großen Speckwerke sagen würde, verdächtigt, daß die Schwarte kracht.
Zum Kreis der a priori Verdächtigen gehört auch Auer, neben Pareith der zweite Künstler in Klausen. In Deutschland werden die Verse des Dichters und Malers veröffentlicht und mit Stipendien gewürdigt, während die Klausner in ihrem Mitbürger nicht mehr als einen verwahrlosten Trunkenbold sehen. Auers Kunstwerke zeigen das wahre Klausen, aber nicht jenes aus Häuser und Gassen erbaute, sondern die Stadt, wie sie sich in den Gesichtern ihrer Bürger offenbart. Auf Servietten und Zetteln hat Auer Porträts seiner Mitbürger als "pazzi", als Verrückte, festgehalten: verzerrte Grimassen, Fratzen "mit aufgerissenem Mund", Bilder von Männern und Frauen, die sich das Maul zerreißen. Denn das ist die Hauptbeschäftigung der Klausner: Sie reden, schwätzen, spekulieren, verbreiten Gerüchte.
Der Roman beschreibt rückblickend einen Zeitraum von drei Wochen, in denen sich Klausen zu einem Dampfkochtopf entwickelt. Zunächst köcheln die Ereignisse (und mit ihnen der Leser) auf kleiner Flamme: Josef Gasser, die Hauptfigur, kehrt nach dem Studium in Berlin in seinen Heimatort zurück. Nun arbeitet er im Fremdenverkehrsbüro, wo er Touristen in die Irre führt oder gleich verjagt, und lungert mit seinem Freund Auer in der Wirtschaft herum. Gasser beobachtet die Klausner, und die Klausner beobachten ihn, denn seine verschlossene Art und der Aufenthalt im fernen Berlin haben ihm den Respekt, vor allem aber das Mißtrauen der Klausner eingetragen. Innerhalb kürzester Zeit sorgen verborgene und erfundene Konflikte für mehr Druck im Kessel: Einige Honoratioren stehen unter Korruptionsverdacht, ein Immobilienskandal droht, bei dem auch Asylbewerber und Gastarbeiter eine Rolle spielen, Vogelschützer gehen gegen die Laserreklame der Dorfdiscothek vor, nächtliche Lärmschutzmessungen werden gewaltsam verhindert, es kommt zu Überfällen und Schlägereien.
So entsteht ein Klima der Verdächtigungen und Unterstellungen. Bereitwillig glaubt man, was man gehört hat; eilfertig gibt man es weiter. Es ist "das kleine, so leicht gesprochene, so schnell geschriebene, so flüchtig ins Ohr klingende, gedruckt kaum ins Auge fallende Wörtchen: man", wie Wilhelm Raabe in seinem Roman "Horacker" schreibt, das die Ereignisse vorantreibt. "Horacker grassierte in der Gegend", heißt es, als das erste Mal der Name des entlaufenen Fürsorgezöglings fällt, der im Verlauf des Romans mehrerer Morde und schrecklicher Schandtaten bezichtigt wird. Kein Verbrechen, das Horacker unterstellt wird, hat er begangen. Die Dinge ereignen sich nur in der Sprache, als Erzähltes, und ihr Agent ist das ungreifbare, allgegenwärtige "man", von dem es bei Raabe heißt: "Es ist der fliegende lichtbeschienene Schaum der Oberfläche; es ist die unbewegte schwarze Tiefe." Dieses gemeinschaftsstiftende "man" ist auch bei Maier der Zeuge, auf den sich alle berufen. Er ist nicht zu identifizieren und also nicht zu widerlegen, noch kann er zur Rechenschaft gezogen werden. Und doch gibt sich im Gerücht die Gemeinschaft zu erkennen, in der es entstanden ist.
Es sind kleine Gemeinschaften, denen sich Maier zuwendet. Während viele literarische Debüts der letzten Jahre vom wohlfeilen Berlin-Bonus profitierten oder in spätpubertären Selbstbetrachtungen verharrten, entschied sich Maier für die Provinz und wurde Regionalist. Aber er wählt den lokalen Schauplatz nicht, weil er lokales Brauchtum oder den Dialekt in der Beschreibung bewahren will. Sein Interesse gilt jener Form mündlicher Öffentlichkeit, wie sie nur in kleinen und kleinsten sozialen Strukturen existieren kann: Informationen und Meinungen werden im Gespräch ausgetauscht, auf der Straße, beim Kaffeeklatsch, in der Wirtschaft. Die Massenmedien spielen eine untergeordnete Rolle. Wie hier Argumente und Behauptungen, Mißverständnisse und Unterstellungen, Halbwahrheiten und Lügen, Spekulationen und Spinnereien ein Sprachgewebe ergeben, in dem nicht zwei Beteiligte dasselbe Muster erkennen - das zu beschreiben macht Maiers Meisterschaft aus. Sie beruht auf einem feinen Ohr für die gesprochene Sprache.
Während bei einem anderen Autor dieses Frühjahrs, bei Peter Handke, Mündlichkeit als idealisiertes Gegenbild einer korrumpierten Medienöffentlichkeit erscheint, als Möglichkeit zur Wiedergewinnung einer vormodernen Kommunikationsform, begreift Maier Mündlichkeit als abgefeimten Agenten des Chaos: Das Gerede der Menge hüllt alle Gegenstände in einen Sprachnebel und macht Erkenntnis unmöglich. Das Geschwätz spottet jeder Empirie. Was sollen wir glauben? Was können wir wissen? Dies sind die großen erkenntnistheoretischen Fragen, die Maiers Bücher komödiantisch, sarkastisch, aber auch verzweifelt stellt. Wenn Heimat mit Bloch der Ort ist, an dem noch niemand war, so ist die Wahrheit mit Andreas Maier das Gerücht, das noch keiner vernommen hat. Am nächsten kommt ihr das Wort, das nicht gesprochen wird: das Schweigen.
In seinem äußerst kenntnisreichen und lesenswerten Buch "Fama. Eine Geschichte des Gerüchts" zitiert Hans-Joachim Neubauer die Theoretiker des Gerüchts, von Plutarch bis zu C. G. Jung. Die Soziologie begreift das Gerücht als "kollektive Formung", die in der Zusammenarbeit vieler entstanden sei und damit deutbar wird. Wer die Klausner Gerüchte deuten möchte, stößt auf die aus "Wäldchestag" bekannten Ressentiments, auf Neid, Mißgunst und Eitelkeit. Der Rest geht auf die Kappe des ganz normalen Wahnsinns, der sich am Zipfel ihres Umhangs festkrallt, wann immer Frau Fama sich in die Lüfte erhebt.
Aber in "Klausen" kommen andere Dinge hinzu: Hier streiten Südtiroler um das Recht auf eine eigene Identität zwischen Deutschen und Italienern, der Tourismus hat eine Fremdenfeindlichkeit ganz eigener Prägung hervorgebracht, die Modernisierungsängste der Talbewohner, die in der Schönheit der Landschaft ihr wichtigstes Kapital sehen, liegen mit ihren ökonomischen Interessen in heftigstem Widerstreit. Schließlich wird sogar ein terroristischer Anschlag einiger Umweltaktivisten vermutet. Als sie die Autobahn sperren, um ein Transparent zu enthüllen oder aber, wie sofort vermutet wird, um das Viadukt in die Luft zu sprengen, erreicht das unübersichtliche Geschehen seinen Höhepunkt: "Etwas Unfaßbares war eingetreten: Stille." Denn im selben Moment, in dem der Straßenlärm aussetzt, erstirbt auch das vielstimmige Getratsche der Klausner. Für einen Moment stehen Frau Famas Flügel still, völlig reglos schwebt sie über dem Ort. Dies ist der Moment, dem Maiers glänzend konstruiertes Buch von der ersten Zeile an zustrebt.
Andreas Maier: "Klausen". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 216 S., geb., 18,-
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Glänzend konstruiert" findet Rezensent Hubert Spiegel im Aufmacher der Literaturbeilage diesen Roman: ein lustiges Pamphlet gegen den "Zivilisationslärm", eine Verteidigung der Stille und eine Kriminalgeschichte zugleich. Für Spiegel gehört Autor Andreas Maier seit seinem Debüt "Wäldchenstag" vor zwei Jahren ohnehin zu den "interessantesten" Stimmen unter den jungen Autoren der deutschsprachigen Literatur gehört. Sein damals begonnenes Projekt, die "Erneuerung des Heimatromans als philosophisch-sprachskeptisches Genre", verfolgt Maier dem Rezensenten zufolge auch in diesem Roman weiter. Rückwirkend werde der Zeitraum von drei Wochen beschrieben, in dem die Beteiligten innerhalb kürzester Zeit durch verborgene und erfundene Konflikte immer stärker unter Druck geraten. Der Rezensent beschreibt, wie im kleinstädtischen Klausener Klima Verdächtigungen und Unterstellungen den Druck immer weiter erhöhen. Bei der Beschreibung der daraus resultierenden Missverständnisse, Behauptungen, Halbwahrheiten, Lügen und Spekulationen bescheinigt Spiegel dem Autor "Meisterschaft" und ein feines Ohr für das gesprochene Wort. Das Gerede hülle alle Menschen in einen Sprachnebel und mache Erkenntnis unmöglich, bringt Spiegel schließlich die Moral von Maiers Geschichte auf den Punkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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