Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Vergangenheit kennen. Nach den turbulenten Entwicklungen der letzten Jahre mit der Entstehung eines neuen deutschen Nationalstaats und auch im Blick auf die Zukunft in der EU ist das wichtiger denn je. Dem Autor ist es gelungen, 2000 Jahre deutscher Geschichte von den Anfängen bis zur Vereinigung des geteilten Deutschland im Jahre 1990 zusammenzufassen, in ihren Grundzügen darzustellen und alle wesentlichen Aspekte prägnant und anschaulich zu schildern. Gebündelte Information führt so zu solidem Wissen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996Am Fuß des Kilimandscharo
Hagen Schulze komprimiert die deutsche Geschichte / Von Michael Jeismann
Im Weinberg der deutschen Geschichte finden sich vielerlei Gewächse. So unterschiedlich die Trauben, so verschieden fallen auch die Jahrgänge aus. Gewichtig war das meiste, was in den vergangenen fünfzehn Jahren, seit Nipperdeys "Bürgerwelt und starker Staat", produziert wurde. Der Kenner kam dabei auf seine Kosten, weil er das gravitätisch Ausgewogene gleichermaßen zu goutieren vermochte wie die besondere Note des entschiedenen politischen Standpunkts. Das breite Publikum wurde zwar von der Historie wie selten angesprochen, aber wieviel "deutsche Geschichte" man tatsächlich lesend genoß, ist angesichts der aufgetürmten Gelehrsamkeit sehr fraglich. Auch war es mit der literarischen Qualität bei weitem nicht so gut bestellt, wie oft behauptet wurde. So hat sich nach all den Jahren schon ein gewisser Überdruß eingestellt.
Gegen die Übersättigung ist die "Kleine deutsche Geschichte" von Hagen Schulze das richtige Remedium. Nachdem er sich der großen Domäne der europäischen Geschichte gewidmet hat, ist Schulze zurückgekehrt auf die deutsche Parzelle. Und hier ist ihm etwas Seltenes gelungen. Eine deutsche Geschichte, wie sie das Publikum lange nicht hatte: knapp, temperamentvoll, modern und gut bebildert. Die Geschichte beginnt bei der Schlacht im Teutoburger Wald, endet in der allerjüngsten Vergangenheit und kommt mit wenig mehr als zweihundert Seiten aus. Der Schwerpunkt liegt ganz auf der Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Ein deutliches Anzeichen dafür, daß Schulze keine beschauliche Vergangenheitsbesichtigung im Sinn hatte. Er tut erst gar nicht so, als könne solche Synthese im Stande der historiographischen Unschuld geschrieben werden. Er hebt das Politische der Geschichtsschreibung hervor, in gewisser Hinsicht sogar das Nationale. Noch einmal stellt er sich die Frage "Was ist des Deutschen Vaterland" und hält sie nun im Licht der Einheit für historisch beantwortet und politisch entschärft.
Modern ist das Werk insofern, als es versucht, den Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeiten deutlich zu machen. Bei aller politischen Grundtendenz sind Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft nicht ausgeblendet. Demographische Entwicklungen sind genau wie das Alltagsleben Bestandteil dieser Historie. Vor allem aber gibt das Werk der Geschichte die Gefühle zurück. Die psychologische Dimension ist bei Schulze allenthalben präsent. Es darf dies nicht als historiographisches Extra verbucht werden, denn im Zeitalter der Demokratisierung und der Massenorganisationen sind Emotionen ein maßgebliches Element der Geschichte selbst und dürfen in der Geschichtsschreibung nicht fehlen. Zu Recht weist Schulze darauf hin, daß die "Modernität" des Nationalsozialismus auch darin begründet sei, daß er im besonderen Maß Vorurteile, Ängste und diffuse kollektive Gefühlslagen aufzugreifen und zu lenken verstand. Die Nationalsozialisten gingen gar nicht davon aus, daß die Menschen mit "vernünftigen" Programmen anzusprechen seien.
Ein schönes Beispiel für Schulzes Fähigkeit, Stimmungen und Übergänge prägnant zu bezeichnen, ist seine Charakterisierung der Nach-Adenauer-Zeit: "Der Pragmatismus der Adenauer-Ära, die restaurativen Grundlagen der frühen Bundesrepublik, in der manche Beamten, Richter und Diplomaten aus der NS-Zeit ihre Karrieren hatten fortsetzen können, die kulturelle Stagnation, als Kehrseite die jahrzehntelange Tabuisierung und Verfemung linker und radikaler Ideen, der hemmungslose Materialismus einer Epoche, in der die Entbehrungen und inneren wie äußerlichen Verwüstungen der Kriegs- und Nachkriegszeit durch einen wahren Konsumrausch kompensiert worden waren - das alles stieß jetzt auf schonungslose Fundamentalkritik." Der Katarakt der Aufzählung ist hier das stilistische Äquivalent des angehäuften Überdrusses.
Aus dem Fundus des Deutschen Historischen Museums stammen die Bilder deutscher Vergangenheit in diesem Band, und hier gibt es manche Überraschung und wahre Trouvaillen. Zu den erhellenden Kuriosa zählt ein Bild des Kilimandscharo von Walter von Ruckteschell aus dem Jahr 1914. Was hat, mag man sich im ersten Moment fragen, der Kilimandscharo mit der deutschen Geschichte zu tun? Man erfährt bei Schulze, daß der Berg in Deutsch-Ostafrika so sehr ein Symbol für die deutsche "Weltgeltung" war, daß man ihn als "höchsten deutschen Berg" titulierte und in die deutsche Bilder- und Gefühlswelt integrierte. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie Schulze versucht, den Blick und das Selbstverständnis der Zeitgenossen in die historische Darstellung aufzunehmen.
Gelungen ist dieser Band auch deshalb, weil es genug zu kritisieren gibt und vieles zum Widerspruch einlädt. Anders als noch vor wenigen Jahren wird man nicht die Darstellung des Kaiserreichs zu dem Punkt machen, an dem sich das letzte Urteil über ein solches Werk entscheidet. An die Stelle des Kaiserreichs ist die Geschichte der Bundesrepublik vor der Einheit getreten. Schulze verwirft die Idee des Verfassungspatriotismus, weil er zu "kalt" sei, um die Menschen zu bewegen. Aber warum sollte man nicht stolz sein dürfen auf die Art und Weise, in der man hierzulande versucht zusammenzuleben?
Schulze stellt sich hier dezidiert auf den Standpunkt einer Nationalgeschichte und betrachtet die alte Bundesrepublik als ein Asyl der Geschichtsmüdigkeit und der politischen Nullität. Im Vorwort ist gar von "außenpolitischer Verantwortungslosigkeit" Westdeutschlands die Rede. Solche Bemerkungen fallen weit unter das Reflexionsniveau des Buches. Das gilt auch für die Bemerkung, man habe in Westdeutschland zwischen 1949 und 1989 den Nationalstaat wohl falsch aufgefaßt und zu Unrecht historisch-politisch verdächtigt. Tatsächlich verhält es sich doch so, daß der Nationalstaat und die Erwartungen, Hoffnungen und Sehnsüchte, die an ihm heften, sich verändert haben. Schulze läßt sich die deutsche Geschichte, vor allem aber die Gegenwart, ein bißchen zu gut schmecken. Das wird bei den abschließenden Betrachtungen über das Deutschland nach der Einheit überaus deutlich. Es hätte dem optimistischen Grundton dieser Geschichte keinen Abbruch getan, wenn sie wenigstens an dieser Stelle mit Kritik am Faktischen gesalzen wäre. Es fehlt zudem an Skepsis und Melancholie. Dieses Defizit an Distanz beeinträchtigt erfahrungsgemäß die Haltbarkeit historischer Werke, befördert sie dafür aber um so rascher in den Rang einer Quelle.
Hagen Schulze: "Kleine deutsche Geschichte". Mit Bildern aus dem Historischen Museum. Verlag C. H. Beck, München 1996. 276 S., Abb., geb., 38,- DM.
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Hagen Schulze komprimiert die deutsche Geschichte / Von Michael Jeismann
Im Weinberg der deutschen Geschichte finden sich vielerlei Gewächse. So unterschiedlich die Trauben, so verschieden fallen auch die Jahrgänge aus. Gewichtig war das meiste, was in den vergangenen fünfzehn Jahren, seit Nipperdeys "Bürgerwelt und starker Staat", produziert wurde. Der Kenner kam dabei auf seine Kosten, weil er das gravitätisch Ausgewogene gleichermaßen zu goutieren vermochte wie die besondere Note des entschiedenen politischen Standpunkts. Das breite Publikum wurde zwar von der Historie wie selten angesprochen, aber wieviel "deutsche Geschichte" man tatsächlich lesend genoß, ist angesichts der aufgetürmten Gelehrsamkeit sehr fraglich. Auch war es mit der literarischen Qualität bei weitem nicht so gut bestellt, wie oft behauptet wurde. So hat sich nach all den Jahren schon ein gewisser Überdruß eingestellt.
Gegen die Übersättigung ist die "Kleine deutsche Geschichte" von Hagen Schulze das richtige Remedium. Nachdem er sich der großen Domäne der europäischen Geschichte gewidmet hat, ist Schulze zurückgekehrt auf die deutsche Parzelle. Und hier ist ihm etwas Seltenes gelungen. Eine deutsche Geschichte, wie sie das Publikum lange nicht hatte: knapp, temperamentvoll, modern und gut bebildert. Die Geschichte beginnt bei der Schlacht im Teutoburger Wald, endet in der allerjüngsten Vergangenheit und kommt mit wenig mehr als zweihundert Seiten aus. Der Schwerpunkt liegt ganz auf der Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Ein deutliches Anzeichen dafür, daß Schulze keine beschauliche Vergangenheitsbesichtigung im Sinn hatte. Er tut erst gar nicht so, als könne solche Synthese im Stande der historiographischen Unschuld geschrieben werden. Er hebt das Politische der Geschichtsschreibung hervor, in gewisser Hinsicht sogar das Nationale. Noch einmal stellt er sich die Frage "Was ist des Deutschen Vaterland" und hält sie nun im Licht der Einheit für historisch beantwortet und politisch entschärft.
Modern ist das Werk insofern, als es versucht, den Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeiten deutlich zu machen. Bei aller politischen Grundtendenz sind Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft nicht ausgeblendet. Demographische Entwicklungen sind genau wie das Alltagsleben Bestandteil dieser Historie. Vor allem aber gibt das Werk der Geschichte die Gefühle zurück. Die psychologische Dimension ist bei Schulze allenthalben präsent. Es darf dies nicht als historiographisches Extra verbucht werden, denn im Zeitalter der Demokratisierung und der Massenorganisationen sind Emotionen ein maßgebliches Element der Geschichte selbst und dürfen in der Geschichtsschreibung nicht fehlen. Zu Recht weist Schulze darauf hin, daß die "Modernität" des Nationalsozialismus auch darin begründet sei, daß er im besonderen Maß Vorurteile, Ängste und diffuse kollektive Gefühlslagen aufzugreifen und zu lenken verstand. Die Nationalsozialisten gingen gar nicht davon aus, daß die Menschen mit "vernünftigen" Programmen anzusprechen seien.
Ein schönes Beispiel für Schulzes Fähigkeit, Stimmungen und Übergänge prägnant zu bezeichnen, ist seine Charakterisierung der Nach-Adenauer-Zeit: "Der Pragmatismus der Adenauer-Ära, die restaurativen Grundlagen der frühen Bundesrepublik, in der manche Beamten, Richter und Diplomaten aus der NS-Zeit ihre Karrieren hatten fortsetzen können, die kulturelle Stagnation, als Kehrseite die jahrzehntelange Tabuisierung und Verfemung linker und radikaler Ideen, der hemmungslose Materialismus einer Epoche, in der die Entbehrungen und inneren wie äußerlichen Verwüstungen der Kriegs- und Nachkriegszeit durch einen wahren Konsumrausch kompensiert worden waren - das alles stieß jetzt auf schonungslose Fundamentalkritik." Der Katarakt der Aufzählung ist hier das stilistische Äquivalent des angehäuften Überdrusses.
Aus dem Fundus des Deutschen Historischen Museums stammen die Bilder deutscher Vergangenheit in diesem Band, und hier gibt es manche Überraschung und wahre Trouvaillen. Zu den erhellenden Kuriosa zählt ein Bild des Kilimandscharo von Walter von Ruckteschell aus dem Jahr 1914. Was hat, mag man sich im ersten Moment fragen, der Kilimandscharo mit der deutschen Geschichte zu tun? Man erfährt bei Schulze, daß der Berg in Deutsch-Ostafrika so sehr ein Symbol für die deutsche "Weltgeltung" war, daß man ihn als "höchsten deutschen Berg" titulierte und in die deutsche Bilder- und Gefühlswelt integrierte. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie Schulze versucht, den Blick und das Selbstverständnis der Zeitgenossen in die historische Darstellung aufzunehmen.
Gelungen ist dieser Band auch deshalb, weil es genug zu kritisieren gibt und vieles zum Widerspruch einlädt. Anders als noch vor wenigen Jahren wird man nicht die Darstellung des Kaiserreichs zu dem Punkt machen, an dem sich das letzte Urteil über ein solches Werk entscheidet. An die Stelle des Kaiserreichs ist die Geschichte der Bundesrepublik vor der Einheit getreten. Schulze verwirft die Idee des Verfassungspatriotismus, weil er zu "kalt" sei, um die Menschen zu bewegen. Aber warum sollte man nicht stolz sein dürfen auf die Art und Weise, in der man hierzulande versucht zusammenzuleben?
Schulze stellt sich hier dezidiert auf den Standpunkt einer Nationalgeschichte und betrachtet die alte Bundesrepublik als ein Asyl der Geschichtsmüdigkeit und der politischen Nullität. Im Vorwort ist gar von "außenpolitischer Verantwortungslosigkeit" Westdeutschlands die Rede. Solche Bemerkungen fallen weit unter das Reflexionsniveau des Buches. Das gilt auch für die Bemerkung, man habe in Westdeutschland zwischen 1949 und 1989 den Nationalstaat wohl falsch aufgefaßt und zu Unrecht historisch-politisch verdächtigt. Tatsächlich verhält es sich doch so, daß der Nationalstaat und die Erwartungen, Hoffnungen und Sehnsüchte, die an ihm heften, sich verändert haben. Schulze läßt sich die deutsche Geschichte, vor allem aber die Gegenwart, ein bißchen zu gut schmecken. Das wird bei den abschließenden Betrachtungen über das Deutschland nach der Einheit überaus deutlich. Es hätte dem optimistischen Grundton dieser Geschichte keinen Abbruch getan, wenn sie wenigstens an dieser Stelle mit Kritik am Faktischen gesalzen wäre. Es fehlt zudem an Skepsis und Melancholie. Dieses Defizit an Distanz beeinträchtigt erfahrungsgemäß die Haltbarkeit historischer Werke, befördert sie dafür aber um so rascher in den Rang einer Quelle.
Hagen Schulze: "Kleine deutsche Geschichte". Mit Bildern aus dem Historischen Museum. Verlag C. H. Beck, München 1996. 276 S., Abb., geb., 38,- DM.
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"... eine deutsche Geschichte, wie sie das Publikum lange nicht hatte" (FAZ)