Der Literaturnobelpreisträger José Saramago stammt aus ärmlichen Verhältnissen in der portugiesischen Provinz Ribatejo und wuchs dort und in Lissabon auf. Die "kleinen Erinnerungen" schildern seine Kindheit und Jugend, ein bewegtes, farbiges Leben zwischen städtischer und ländlicher Kultur, und sie beschreiben - durchzogen von poetischen Reflexionen, historischen Betrachtungen und privaten Reminiszenzen - den Werdegang und künstlerischen Reifeprozess eines der größten lebenden Autoren Europas.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.08.2009Ein Stillleben mit Kugel
Aufrichtig: José Saramagos Autobiographie einer Jugend
Als José Saramago zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Lissabon. Aber jeden Sommer kehrte der Junge zu seinen Großeltern, ärmlichen Landarbeitern, nach Azinhaga zurück, knapp einen Kilometer vom Zusammenfluss des Tejo mit dem unbedeutenden Almonda entfernt. Francisco Dinis, ein Onkel, war Wächter auf einem Landgut der Gegend. Damit gehörte er, wie Saramago schreibt, zur „Aristokratie der Flussniederung: Jagdgewehr mit Doppellauf, grünes Barett, weißes, bei sengender Hitze wie klirrender Kälte bis zum Kragen zugeknöpftes Hemd, Stiefel mit Metallbesatz, kurze Jacke – und natürlich ein Pferd”. Prächtig, doch Onkel Francisco hatte gelernt, was sich gehört. Kein einziges Mal durfte José mit aufsteigen. Nie wagte er es, danach zu fragen. Stolz und „Benimm” waren zu stark. Die Welt war eindeutig geordnet.
„Kleine Erinnerungen” heißt das Buch, in dem der 1922 in Azinhaga geborene Literatur-Nobelpreisträger Saramago diese Geschichte erzählt, und beinahe ist es schade, dass ihm der Titel so schön bescheiden geraten ist (wobei „As pequenas memorias”, „Die kleinen Erinnerungen”, Lissabon 2006, etwas spitzer klingt). Mindestens „Autobiographie einer Jugend” hätte dabeistehen können, was zutreffend gewesen wäre und dem Buch wohl die Aufmerksamkeit gesichert hätte, die es verdient. Denn die lose miteinander verbundenen Begebenheiten, die Saramago darin preisgibt, leuchten wie Kieselsteine im Fluss. Sie profitieren davon, dass sie meist ohne aufwendiges Bedeutungsgerüst daherkommen können. Diese Erinnerungen sind mal wichtig, mal nebensächlich, ergeben ein vielseitiges, keineswegs kohärentes, erstaunlich „aufrichtig” wirkendes Bild. Und das Holzschnittartige, das Saramagos Äußerungen in der Öffentlichkeit manchmal haben, erhält seinen Grund.
„Damals gab es bei den einfachen Leuten ein sehr beliebtes Spiel, das man sich zu Hause selbst basteln konnte (. . .), bestehend aus einem kleinen, rechteckigen Holzbrett mit zweiundzwanzig eingeschlagenen Nägeln, elf auf jeder Seite, in der damals gängigen Anordnung einer Fußballmannschaft (. . .). Man konnte es mit einer kleinen Murmel spielen oder, besser noch, mit einer kleinen Metallkugel aus einem Kugellager, die dann mit einer kleinen Spatel von einer Seite zur anderen geschoben wurde, bis sie schließlich im Tor landete.” Fußball als Stillleben mit Kugel, eine schöne Sache, fast ein Idyll, doch „mein Vater war kein Mensch, der seinen Sohn gewinnen ließ, und so schoss er, meine mangelnde Geschicklichkeit ausnutzend, ein Tor nach dem anderen”.
„Du verlierst, du verlierst!”
Der Vater war in Lissabon Polizist geworden. Im selben Haus wohnte ein Kollege von der Kripo, der gerade hinter dem Sohn stand. „Er hatte bestimmt schon viele Trainingseinheiten zu wirkungsvoller Bedrängnis bei Verhören absolviert, aber damals wollte er offensichtlich die Gelegenheit nutzen, noch ein wenig zu üben. So stieß er mich ständig von hinten mit dem Fuß an und sagte: ,Du verlierst, du verlierst.‘”
Der kleine Junge erträgt den Vater und den Kollegen – bis er es nicht mehr aushält und dem Fuß des Kollegen mit dem Schrei „Seien sie still!” einen kleinen Fausthieb versetzt. Worauf ihm der siegreiche Vater zwei Ohrfeigen gibt, die den Jungen „auf den Zementboden schmetterten. Wegen mangelnden Respekts gegenüber Erwachsenen, versteht sich.” Die „Hüter der Ordnung” begriffen beide nicht, „dass sie es an Respekt gegenüber einem Menschen hatten mangeln lassen, der viele Jahre brauchte, um diese traurige Geschichte endlich erzählen zu können, die seinige wie die ihre”.
Eine andere, bei genauerer Betrachtung verwandte Geschichte, hat Saramago schon erzählt: als er für seinen Roman „Hoffnung im Alentejo” einen Preis des Pen-Clubs erhielt. Als der Junge aus einfachen Verhältnissen in eine neue Schule und dort in die zweite Klasse kam, setzte ihn die Lehrerin zu den schlechtesten Schülern, den besten direkt gegenüber, an denen sie sich ein Beispiel nehmen sollten. Doch als nach wenigen Tagen das erste Diktat anstand, schrieb der Neue von den billigen Plätzen in einer schönen, runden Schrift und machte einen einzigen Fehler: „calsse”, statt „classe”.
Die Lehrerin reagierte sofort. Sie wies den Neuen an, sich auf den Platz des Klassenbesten zu setzen, der Klassenbeste war es nicht mehr. „Wenn ich es mir recht überlege”, schreibt Saramago, „begann an diesem Tag mein Leben”. Heute denke er, wenn er sich an die machtvolle Wertschätzung erinnere, an den ehemaligen Klassenbesten.
Immer wieder unterbricht Saramago Schwelgereien in einfachen Sommern auf dem Land durch kleine und große Schocks. Er konstatiert die Veränderungen um den Almonda, den Traumfluss der Jugend, heute stinkend und von Mais-Monokulturen umgeben, die die der Jahrhunderte alten Olivenhaine dank EU-Abholzungsprämien abgelöst haben. Übrig bleibt ein radikales Fazit: „Ich klage nicht, weine nicht einer Sache nach, die gar nicht mein eigen war, versuche nur zu erklären, dass diese Landschaft nicht mehr die meine ist, dass dies nicht der Ort ist, an dem ich geboren wurde, dass ich hier nicht aufgewachsen bin.” HANS-PETER KUNISCH
JOSÉ SARAMAGO: Kleine Erinnerungen. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 160 Seiten, 16,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Aufrichtig: José Saramagos Autobiographie einer Jugend
Als José Saramago zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Lissabon. Aber jeden Sommer kehrte der Junge zu seinen Großeltern, ärmlichen Landarbeitern, nach Azinhaga zurück, knapp einen Kilometer vom Zusammenfluss des Tejo mit dem unbedeutenden Almonda entfernt. Francisco Dinis, ein Onkel, war Wächter auf einem Landgut der Gegend. Damit gehörte er, wie Saramago schreibt, zur „Aristokratie der Flussniederung: Jagdgewehr mit Doppellauf, grünes Barett, weißes, bei sengender Hitze wie klirrender Kälte bis zum Kragen zugeknöpftes Hemd, Stiefel mit Metallbesatz, kurze Jacke – und natürlich ein Pferd”. Prächtig, doch Onkel Francisco hatte gelernt, was sich gehört. Kein einziges Mal durfte José mit aufsteigen. Nie wagte er es, danach zu fragen. Stolz und „Benimm” waren zu stark. Die Welt war eindeutig geordnet.
„Kleine Erinnerungen” heißt das Buch, in dem der 1922 in Azinhaga geborene Literatur-Nobelpreisträger Saramago diese Geschichte erzählt, und beinahe ist es schade, dass ihm der Titel so schön bescheiden geraten ist (wobei „As pequenas memorias”, „Die kleinen Erinnerungen”, Lissabon 2006, etwas spitzer klingt). Mindestens „Autobiographie einer Jugend” hätte dabeistehen können, was zutreffend gewesen wäre und dem Buch wohl die Aufmerksamkeit gesichert hätte, die es verdient. Denn die lose miteinander verbundenen Begebenheiten, die Saramago darin preisgibt, leuchten wie Kieselsteine im Fluss. Sie profitieren davon, dass sie meist ohne aufwendiges Bedeutungsgerüst daherkommen können. Diese Erinnerungen sind mal wichtig, mal nebensächlich, ergeben ein vielseitiges, keineswegs kohärentes, erstaunlich „aufrichtig” wirkendes Bild. Und das Holzschnittartige, das Saramagos Äußerungen in der Öffentlichkeit manchmal haben, erhält seinen Grund.
„Damals gab es bei den einfachen Leuten ein sehr beliebtes Spiel, das man sich zu Hause selbst basteln konnte (. . .), bestehend aus einem kleinen, rechteckigen Holzbrett mit zweiundzwanzig eingeschlagenen Nägeln, elf auf jeder Seite, in der damals gängigen Anordnung einer Fußballmannschaft (. . .). Man konnte es mit einer kleinen Murmel spielen oder, besser noch, mit einer kleinen Metallkugel aus einem Kugellager, die dann mit einer kleinen Spatel von einer Seite zur anderen geschoben wurde, bis sie schließlich im Tor landete.” Fußball als Stillleben mit Kugel, eine schöne Sache, fast ein Idyll, doch „mein Vater war kein Mensch, der seinen Sohn gewinnen ließ, und so schoss er, meine mangelnde Geschicklichkeit ausnutzend, ein Tor nach dem anderen”.
„Du verlierst, du verlierst!”
Der Vater war in Lissabon Polizist geworden. Im selben Haus wohnte ein Kollege von der Kripo, der gerade hinter dem Sohn stand. „Er hatte bestimmt schon viele Trainingseinheiten zu wirkungsvoller Bedrängnis bei Verhören absolviert, aber damals wollte er offensichtlich die Gelegenheit nutzen, noch ein wenig zu üben. So stieß er mich ständig von hinten mit dem Fuß an und sagte: ,Du verlierst, du verlierst.‘”
Der kleine Junge erträgt den Vater und den Kollegen – bis er es nicht mehr aushält und dem Fuß des Kollegen mit dem Schrei „Seien sie still!” einen kleinen Fausthieb versetzt. Worauf ihm der siegreiche Vater zwei Ohrfeigen gibt, die den Jungen „auf den Zementboden schmetterten. Wegen mangelnden Respekts gegenüber Erwachsenen, versteht sich.” Die „Hüter der Ordnung” begriffen beide nicht, „dass sie es an Respekt gegenüber einem Menschen hatten mangeln lassen, der viele Jahre brauchte, um diese traurige Geschichte endlich erzählen zu können, die seinige wie die ihre”.
Eine andere, bei genauerer Betrachtung verwandte Geschichte, hat Saramago schon erzählt: als er für seinen Roman „Hoffnung im Alentejo” einen Preis des Pen-Clubs erhielt. Als der Junge aus einfachen Verhältnissen in eine neue Schule und dort in die zweite Klasse kam, setzte ihn die Lehrerin zu den schlechtesten Schülern, den besten direkt gegenüber, an denen sie sich ein Beispiel nehmen sollten. Doch als nach wenigen Tagen das erste Diktat anstand, schrieb der Neue von den billigen Plätzen in einer schönen, runden Schrift und machte einen einzigen Fehler: „calsse”, statt „classe”.
Die Lehrerin reagierte sofort. Sie wies den Neuen an, sich auf den Platz des Klassenbesten zu setzen, der Klassenbeste war es nicht mehr. „Wenn ich es mir recht überlege”, schreibt Saramago, „begann an diesem Tag mein Leben”. Heute denke er, wenn er sich an die machtvolle Wertschätzung erinnere, an den ehemaligen Klassenbesten.
Immer wieder unterbricht Saramago Schwelgereien in einfachen Sommern auf dem Land durch kleine und große Schocks. Er konstatiert die Veränderungen um den Almonda, den Traumfluss der Jugend, heute stinkend und von Mais-Monokulturen umgeben, die die der Jahrhunderte alten Olivenhaine dank EU-Abholzungsprämien abgelöst haben. Übrig bleibt ein radikales Fazit: „Ich klage nicht, weine nicht einer Sache nach, die gar nicht mein eigen war, versuche nur zu erklären, dass diese Landschaft nicht mehr die meine ist, dass dies nicht der Ort ist, an dem ich geboren wurde, dass ich hier nicht aufgewachsen bin.” HANS-PETER KUNISCH
JOSÉ SARAMAGO: Kleine Erinnerungen. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 160 Seiten, 16,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.2009Jagdszenen in Portugal
Dauert dein Leben noch an? Oder hat die Erinnerung schon begonnen? Der Nobelpreisträger José Saramago schreibt über seine frühe Kindheit.
Das Drama beginnt, wenn man bemerkt, dass die Zeit nicht einfach nur da ist, sondern sich in berechenbare Einheiten zerlegen lässt. Ein Tag ist lang, das ja. Aber er hat vierundzwanzig Stunden. Und jede Stunde hat sechzig Minuten und jede Minute sechzig Sekunden. Das Voranschreiten der Zeit lässt sich also auf das genaueste messen. Wer das einmal begriffen hat, um den ist es geschehen. Er hat jenen Weg beschritten, der unausweichlich in das Erwachsenenalter führt. Denn vielleicht trennt Kinder und Erwachsene nichts so sehr wie ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeit. Die Kinder leben in und mit ihr. Und die Erwachsenen berechnen sie. Und sie berechnen sie nicht nur, sondern nutzen sie, füllen sie bis zum Äußersten, so lang, bis nichts mehr in sie hineingeht und sie zum Platzen voll ist. Spätestens dann weiß man: Ihre Unendlichkeit ist eine Illusion, eine gnädige Sinnestäuschung jener grandios sorglosen Jahre, die man die Kindheit nennt.
Es sind nur ein paar Zeilen, die José Saramago der Zeit und ihrer Berechenbarkeit widmet, aber sie haben es in sich: Sie bilden nämlich jene Demarkationslinie, von der ab Sein und Zeit ihren Charme verlieren, dieser zumindest ganz neu definiert werden muss. Vor allem aber stellt man sich ab dieser Linie eine beunruhigende Frage: Dauert dein Leben noch an? Oder hat die Erinnerung schon begonnen?
Dass beides zusammen nicht geht, zumindest aber ausgesprochen schwierig ist, zeigt Saramago in seinen "Kleinen Erinnerungen", einem Band mit Reminiszenzen an seine frühen und frühesten Jahre, anhand kleiner und zugleich sehr großer Szenen. Sie alle umkreisen, was man gern als Glück der Kindheit bezeichnet: auf der Welt zu sein, ohne einen Begriff davon zu haben. "Das Kind, das ich war", schreibt er, "sah die Landschaft nicht so, wie der spätere Erwachsene sie sich von seiner Manneshöhe herab vielleicht vorstellt. Das Kind war einfach in dieser Landschaft, war Teil von ihr, hinterfragte sie nicht, weder mit diesen noch mit anderen Worten: ,Was für eine schöne Landschaft, was für ein wunderbares Panorama, was für eine grandiose Aussicht!'"
All das denkt man nicht, und dass man sich auch sonst nicht allzu viel denkt, eben das könnte das Glück der jungen Jahre ausmachen. Und diese Jahre sind angefüllt mit all dem, was man früher mit dem Begriff "Lausbubengeschichten" verband. Von aufgeschlagenen Knien berichtet Saramago, von einem beim Schnitzen beinahe abgeschnittenen Zeigefinger und all den Unfällen, die Kindern so widerfahren. So hat es der spätere Großschriftsteller mit seiner Steinschleuder vor allem auf Vögel abgesehen. Aber weil er die kaum trifft, jagt er fortan Frösche. Die sonnen sich bei warmem Wetter regungslos auf dicken Algen, was die Trefferquote enorm erhöht. "Kindliche Grausamkeit kennt keine Grenzen", räumt Saramago ein, um den Satz dann noch eine weitere Wendung nehmen zu lassen: "Und das ist der eigentliche Grund, warum auch die der Erwachsenen keine kennt." Allerdings, und das macht den Charme dieses Buches aus, hält sich der Autor mit moralischen Erörterungen zurück. Während Saramago gerade in den letzten Jahren seine Romane auf gelegentlich schon penetrante Weise mit politischen Botschaften befrachtete, überlässt er sich hier der Lust am Erzählen, unbeschwerten Exkursionen, die kein anderes Ziel haben als das, zu unterhalten. Ähnlich angenehm war schon sein Buch "Die portugiesische Reise", in der er von seinen Fahrten durch sein Heimatland berichtet, sich dabei hauptsächlich den Kirchen widmete - denen er, der bekennende Atheist, vor allem darum etwas abgewinnen konnte, weil er sie rein ästhetisch wahrnehmen konnte, unbeschwert von all dem theologischen Überbau, der einst auf ihnen lastete.
Geschichte, die Freiheiten lässt - diesem Phänomen verdankt sich auch der Reiz dieses Erinnerungsbuches. Aber sind es denn Erinnerungen? Er wisse es gelegentlich selbst nicht, räumt Saramago ein. Gut möglich, dass es sich um die anderer Menschen handelt. Die berichteten ihm davon, und irgendwann hielt er sie für seine eigenen. Aber auch die imaginären Erinnerungen gehören zu den Lehrjahren der Gefühle - aber vor allem stehen ihnen ja immer wieder die Erinnerungen an reale Erlebnisse zur Seite. Die Begegnung mit dem Wörterbuch Portugiesisch-Französisch, dem der junge Saramago seine nie endende Liaison mit dieser Sprache verdankt; ein Bildungswissen, das ihm bald schon was einträgt: Wer so schwierige französische Wörter wie "Papier" fehlerlos zu schreiben vermag, der kann kaum anders denn als Klassenbester gelten. Die Berufung zum geschriebenen Wort bahnt sich eben schon sehr früh ihren Weg, muss dafür aber erst mal einen Haufen toter Vögel und Frösche beiseiteschieben.
KERSTEN KNIPP
José Saramago: "Kleine Erinnerungen". Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009. 160 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dauert dein Leben noch an? Oder hat die Erinnerung schon begonnen? Der Nobelpreisträger José Saramago schreibt über seine frühe Kindheit.
Das Drama beginnt, wenn man bemerkt, dass die Zeit nicht einfach nur da ist, sondern sich in berechenbare Einheiten zerlegen lässt. Ein Tag ist lang, das ja. Aber er hat vierundzwanzig Stunden. Und jede Stunde hat sechzig Minuten und jede Minute sechzig Sekunden. Das Voranschreiten der Zeit lässt sich also auf das genaueste messen. Wer das einmal begriffen hat, um den ist es geschehen. Er hat jenen Weg beschritten, der unausweichlich in das Erwachsenenalter führt. Denn vielleicht trennt Kinder und Erwachsene nichts so sehr wie ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeit. Die Kinder leben in und mit ihr. Und die Erwachsenen berechnen sie. Und sie berechnen sie nicht nur, sondern nutzen sie, füllen sie bis zum Äußersten, so lang, bis nichts mehr in sie hineingeht und sie zum Platzen voll ist. Spätestens dann weiß man: Ihre Unendlichkeit ist eine Illusion, eine gnädige Sinnestäuschung jener grandios sorglosen Jahre, die man die Kindheit nennt.
Es sind nur ein paar Zeilen, die José Saramago der Zeit und ihrer Berechenbarkeit widmet, aber sie haben es in sich: Sie bilden nämlich jene Demarkationslinie, von der ab Sein und Zeit ihren Charme verlieren, dieser zumindest ganz neu definiert werden muss. Vor allem aber stellt man sich ab dieser Linie eine beunruhigende Frage: Dauert dein Leben noch an? Oder hat die Erinnerung schon begonnen?
Dass beides zusammen nicht geht, zumindest aber ausgesprochen schwierig ist, zeigt Saramago in seinen "Kleinen Erinnerungen", einem Band mit Reminiszenzen an seine frühen und frühesten Jahre, anhand kleiner und zugleich sehr großer Szenen. Sie alle umkreisen, was man gern als Glück der Kindheit bezeichnet: auf der Welt zu sein, ohne einen Begriff davon zu haben. "Das Kind, das ich war", schreibt er, "sah die Landschaft nicht so, wie der spätere Erwachsene sie sich von seiner Manneshöhe herab vielleicht vorstellt. Das Kind war einfach in dieser Landschaft, war Teil von ihr, hinterfragte sie nicht, weder mit diesen noch mit anderen Worten: ,Was für eine schöne Landschaft, was für ein wunderbares Panorama, was für eine grandiose Aussicht!'"
All das denkt man nicht, und dass man sich auch sonst nicht allzu viel denkt, eben das könnte das Glück der jungen Jahre ausmachen. Und diese Jahre sind angefüllt mit all dem, was man früher mit dem Begriff "Lausbubengeschichten" verband. Von aufgeschlagenen Knien berichtet Saramago, von einem beim Schnitzen beinahe abgeschnittenen Zeigefinger und all den Unfällen, die Kindern so widerfahren. So hat es der spätere Großschriftsteller mit seiner Steinschleuder vor allem auf Vögel abgesehen. Aber weil er die kaum trifft, jagt er fortan Frösche. Die sonnen sich bei warmem Wetter regungslos auf dicken Algen, was die Trefferquote enorm erhöht. "Kindliche Grausamkeit kennt keine Grenzen", räumt Saramago ein, um den Satz dann noch eine weitere Wendung nehmen zu lassen: "Und das ist der eigentliche Grund, warum auch die der Erwachsenen keine kennt." Allerdings, und das macht den Charme dieses Buches aus, hält sich der Autor mit moralischen Erörterungen zurück. Während Saramago gerade in den letzten Jahren seine Romane auf gelegentlich schon penetrante Weise mit politischen Botschaften befrachtete, überlässt er sich hier der Lust am Erzählen, unbeschwerten Exkursionen, die kein anderes Ziel haben als das, zu unterhalten. Ähnlich angenehm war schon sein Buch "Die portugiesische Reise", in der er von seinen Fahrten durch sein Heimatland berichtet, sich dabei hauptsächlich den Kirchen widmete - denen er, der bekennende Atheist, vor allem darum etwas abgewinnen konnte, weil er sie rein ästhetisch wahrnehmen konnte, unbeschwert von all dem theologischen Überbau, der einst auf ihnen lastete.
Geschichte, die Freiheiten lässt - diesem Phänomen verdankt sich auch der Reiz dieses Erinnerungsbuches. Aber sind es denn Erinnerungen? Er wisse es gelegentlich selbst nicht, räumt Saramago ein. Gut möglich, dass es sich um die anderer Menschen handelt. Die berichteten ihm davon, und irgendwann hielt er sie für seine eigenen. Aber auch die imaginären Erinnerungen gehören zu den Lehrjahren der Gefühle - aber vor allem stehen ihnen ja immer wieder die Erinnerungen an reale Erlebnisse zur Seite. Die Begegnung mit dem Wörterbuch Portugiesisch-Französisch, dem der junge Saramago seine nie endende Liaison mit dieser Sprache verdankt; ein Bildungswissen, das ihm bald schon was einträgt: Wer so schwierige französische Wörter wie "Papier" fehlerlos zu schreiben vermag, der kann kaum anders denn als Klassenbester gelten. Die Berufung zum geschriebenen Wort bahnt sich eben schon sehr früh ihren Weg, muss dafür aber erst mal einen Haufen toter Vögel und Frösche beiseiteschieben.
KERSTEN KNIPP
José Saramago: "Kleine Erinnerungen". Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009. 160 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr eingenommen ist Rezensent Kersten Knipp von Jose Saramagos Erinnerungen an seine frühe Kindheit. Anhand kleiner und "zugleich sehr großer Szenen" umkreist der Schriftsteller in seinen Augen das Glück dieser Zeit, schildert Streiche und kleine Unfälle. Als wohltuend und charmant empfindet er es dabei, dass sich Saramago mit moralischen Bewertungen zurück hält. Schienen Knipp die letzten Romane des Autors gelegentlich auf fast schon "penetrante Weise" mit politischen Botschaften angereichert, "überlässt er sich hier der Lust am Erzählen, unbeschwerten Exkursionen, die kein anderes Ziel haben als das, zu unterhalten".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»"Saramagos Kleine Erinnerungen sind ein Buch der Weltzugewandtheit und Weltfreundlichkeit."« Die Welt