In einem Karpatenstädtchen wird in den Ruinen einer römischen Festung ein Massengrab entdeckt. Alles scheint auf ein Verbrechen aus kommunistischer Zeit hinzudeuten. Da die Bevölkerung den Ermittlungen der zuständigen Militärstaatsanwälte nicht traut, werden argentinische Experten nach Rumänien geholt, die mit der Suche und Identifizierung der "Verschwundenen", den Opfern der Junta, befaßt waren.Die Suche nach der Wahrheit, die nur zersplittert, perspektivisch, als Wahrheit einzelner Menschen zu haben ist, bestimmt auch die Dramaturgie des Romans. Im Zentrum steht der Archäologe Petrus, der sich der allgemeinen Hysterie entzieht und eigene Forschungen anstellt. Morgens sitzt er in der Gemeindebibliothek, die Nachmittage verbringt er bei Tante Paulina, die ihm aus dem Kaffeesatz liest, bei Lady Embury, der Witwe eines britischen Erdölingenieurs, oder bei Dumitru M., einem früheren Unternehmer, der nach dem Krieg enteignet wurde. Die abenteuerlichen und wundersamen Lebensgeschichten, auf die Petrus stößt und die Filip Florian mit großer Sprach- und Imaginationskraft erzählt, lassen Epochen des 20. Jahrhunderts in Europa und Lateinamerika wiederauferstehen. Sein Roman schildert eine von Diktaturen malträtierte Welt, die sich nach Gerechtigkeit sehnt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2008Die Knochen und der Kaffeesatz
Ein Archäologen-Krimi, ein politischer Roman und ein erstaunliches Erzähldebüt: Der Rumäne Florian Filip will die Literatur von der historischen Beweispflicht befreien Von Lothar Müller
Ein junger Archäologe studiert alte Papiere in der Gemeindebibliothek eines Kurortes in den Karpaten. Auf Anordnung des örtlichen Polizeichefs sind die Grabungsarbeiten in der Ruine einer Festungsanlage aus römischer Zeit eingestellt worden, weil sie Skelette und Knochen unbekannter Herkunft zu Tage gefördert haben. Nun sucht der junge Archäologe in den vergilbten Manuskripten so entusiastischer wie dilettantischer Lokalhistoriker nach Spuren, die Aufschluss über die Herkunft der Knochen geben könnten. Denn er hegt Misstrauen gegenüber der Unbedenklichkeit, mit welcher der Polizeichef, die aus Bukarest angereisten Journalisten, die Vertreter der Opferverbände ehemaliger politischer Häftlinge und die „verspäteten Antikommunisten” unisono die Knochen zur „Hinterlassenschaft einer Massenhinrichtung am Rande einer Gemeinschaftsgrube in den fünfziger Jahren” erklären.
In der Ausgangskonstellation dieses erstaunlichen Debütromans aus Rumänien scheint sich wieder einmal die Literatur der Zeitgeschichte anzuschmiegen: Der Held, ein Archäologe und also Spezialist für verschüttete Schichten der Vergangenheit, wird vom Autor in ein Archiv geschickt, um herauszufinden, wer die anonymen Toten gewesen sind. Aber dieser Held und Ich-Erzähler mit Namen Petrus verweigert von Beginn an die Konzentration auf die Frage, wie es denn eigentlich gewesen ist. Allzu sehr ist er mit seiner Gegenwart beschäftigt: mit der Krise seines Magengeschwürs, mit dem muffigen Pulver, das aus den Stapeln vergilbter Papiere aufsteigt und die Karos seines Hemdes einfärbt, mit der säuerlichen Bitternis in den Zügen der Bibliothekarin.
Außerdem wohnt er bei seiner Tante, die allerlei Zukünftiges aus dem Kaffeesatz herauszulesen pflegt und deren Lebensträume es zu berichten gilt. Und dann ist da noch deren Freundin, die alte Kartenlegerin und Witwe eines englischen Lords, der im Zweiten Weltkrieg fiel, die unbedingt besucht werden will. Und deren Enkelin, der sich die Hauptrolle in einem kleinen, beiseite berichteten Liebesroman unmöglich verweigern lässt.
Filip Florian, 1968 in Bukarest geboren, ist alt genug, um das Rumänien Ceaucescus noch bewusst erlebt zu haben. Nach der Wende war er Redakteur der Kulturzeitschrift Cuvîntul sowie Korrespondent für Radio Free Europe und die deutsche Welle. Sein Debütroman, im Original 2005 erschienen, lebt vom Misstrauen gegen die Hohlformen, die für das Erzählen von der Vergangenheit bereitliegen. Ironisch setzt er die Figur eines aus der Hauptstadt herbeigeeilten Schriftstellers, der emphatisch die Lehre des Massengrabs beschwört, gegen die Geschichte des Polizeichefs, der im begründeten Verdacht steht, den Knochenfund vor allem deshalb so spektakulär zu inszenieren, um seine Karriere zu sichern.
Aber in diesem Misstrauen erschöpft sich der Roman nicht. Sein Ideal ist nicht die Aufdeckung der verborgenen Wahrheit hinter den zirkulierenden Teilwahrheiten. Sein Ideal ist die Befreiung der Literatur von der historischen Beweispflicht. Er will nicht erzählen, was der Wahrheitsfindung dient, sondern was er selbst für erzählenswert hält: zum Beispiel das Abenteuer einer Spinne, die „mit dem Wagemut der alten iberischen Seefahrer” die Decke eines Hotelzimmers überquert.
Der Weg des jungen Archäologen heraus aus dem Archiv und hinein in die Welt der Kaffeesatzleserei und Mythenbildung ist programmatisch. Entschlossen und unbekümmert um die Leser, die es dadurch womöglich verliert, lässt dieses Debüt die Regionen des landläufigen Realismus hinter sich und bevölkert den aufgeschreckten Kurort in den Karpaten mit Figuren, wie sie einst Bohumil Hrabal durch das sozialistische Prag hat geistern lassen: seltsame Heilige, Virtuosen des provisorischen Glücks und Unglücks, ungeschickte Liebende, moderne Wiedergänger aus alten Märchen und lokalen Legenden, die Anekdoten und Fragmente ihrer Lebensgeschichten hinter sich herziehen wie poröse, ausgebleichte, aber immer noch bunte Schleppen.
Dem Mönch Onufrie, der am Ende die Knochen segnet, schreibt der Roman die Travestie einer Heiligenlegende auf den Leib, samt moseshafter Geburt, Marienerscheinung, verborgenem Höhlenleben und selbstverfasster, auf Birkenrinde geschriebener Fortsetzung des Evangeliums. Onufrie ist zwar nur halb von dieser Welt, und doch ein leibhaftiger Zeuge der Geschichte: langjähriger Insasse eines Arbeitslagers, Beichtvater eines versprengten anti-kommunistischen Partisanen.
Denn zwar verliert sich Filip Florian gelegentlich allzu kleinteilig im Dickicht der Episoden, Abschweifungen und Andeutungen. Aber nie geht ihm die Ausgangsfrage verloren: warum es unmöglich ist, im Rumänien des frühen 21. Jahrhunderts in einem römische Castrum Knochen zu finden, ohne dass sich sogleich wie ein Flächenbrand der Verdacht ausbreitet, es handele sich um ein Massengrab von Opfern des Geheimdienstes Securitate.
Die kleinen Finger, die dem Buch den Titel geben, sind die Obsession des Militärstaatsanwaltes, der die amtliche Untersuchung leitet. Sie sind keine Chimäre, auch wenn das Massengrab womöglich Pesttote aus längst vergangener Zeit birgt.
Mit den argentinischen Experten, die von den Behörden gerufen werden, um die Skelette und Knochen zu begutachten, kommen die Verschwundenen und Folteropfer aus den Jahren der argentinischen Militärdiktatur ins Spiel. Den Bericht der von Ernesto Sabato geleiteten „Comisión Nacional para los Desaparecidos” hat Florian in seinen Roman eingeschmolzen. Dieser interkontinentale Spiegel macht die rumänischen Machthaber zu einer europäischen „Junta”. Und er ist eine Hommage an die südamerikanische Literatur. Sie ist mit ihren Macondo-Welten wie mit ihren Diktatorenromanen die zweite Inspirationsquelle dieses Debüts, neben den souverän über die Stränge des allzu gesunden Menschenverstandes schlagenden europäischen Erzählern vom Schlage Hrabals.
Filip Florian
Kleine Finger
Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 269 Seiten, 22,80 Euro.
Figuren, wie Bohumil Hrabal sie durch Prag geistern ließ
In den Karpaten ist mancherorts die Zeit stehen geblieben, und zuweilen kommt auch noch die Vergangenheit ans Licht. Foto: Hauswald / Ostkreuz
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Ein Archäologen-Krimi, ein politischer Roman und ein erstaunliches Erzähldebüt: Der Rumäne Florian Filip will die Literatur von der historischen Beweispflicht befreien Von Lothar Müller
Ein junger Archäologe studiert alte Papiere in der Gemeindebibliothek eines Kurortes in den Karpaten. Auf Anordnung des örtlichen Polizeichefs sind die Grabungsarbeiten in der Ruine einer Festungsanlage aus römischer Zeit eingestellt worden, weil sie Skelette und Knochen unbekannter Herkunft zu Tage gefördert haben. Nun sucht der junge Archäologe in den vergilbten Manuskripten so entusiastischer wie dilettantischer Lokalhistoriker nach Spuren, die Aufschluss über die Herkunft der Knochen geben könnten. Denn er hegt Misstrauen gegenüber der Unbedenklichkeit, mit welcher der Polizeichef, die aus Bukarest angereisten Journalisten, die Vertreter der Opferverbände ehemaliger politischer Häftlinge und die „verspäteten Antikommunisten” unisono die Knochen zur „Hinterlassenschaft einer Massenhinrichtung am Rande einer Gemeinschaftsgrube in den fünfziger Jahren” erklären.
In der Ausgangskonstellation dieses erstaunlichen Debütromans aus Rumänien scheint sich wieder einmal die Literatur der Zeitgeschichte anzuschmiegen: Der Held, ein Archäologe und also Spezialist für verschüttete Schichten der Vergangenheit, wird vom Autor in ein Archiv geschickt, um herauszufinden, wer die anonymen Toten gewesen sind. Aber dieser Held und Ich-Erzähler mit Namen Petrus verweigert von Beginn an die Konzentration auf die Frage, wie es denn eigentlich gewesen ist. Allzu sehr ist er mit seiner Gegenwart beschäftigt: mit der Krise seines Magengeschwürs, mit dem muffigen Pulver, das aus den Stapeln vergilbter Papiere aufsteigt und die Karos seines Hemdes einfärbt, mit der säuerlichen Bitternis in den Zügen der Bibliothekarin.
Außerdem wohnt er bei seiner Tante, die allerlei Zukünftiges aus dem Kaffeesatz herauszulesen pflegt und deren Lebensträume es zu berichten gilt. Und dann ist da noch deren Freundin, die alte Kartenlegerin und Witwe eines englischen Lords, der im Zweiten Weltkrieg fiel, die unbedingt besucht werden will. Und deren Enkelin, der sich die Hauptrolle in einem kleinen, beiseite berichteten Liebesroman unmöglich verweigern lässt.
Filip Florian, 1968 in Bukarest geboren, ist alt genug, um das Rumänien Ceaucescus noch bewusst erlebt zu haben. Nach der Wende war er Redakteur der Kulturzeitschrift Cuvîntul sowie Korrespondent für Radio Free Europe und die deutsche Welle. Sein Debütroman, im Original 2005 erschienen, lebt vom Misstrauen gegen die Hohlformen, die für das Erzählen von der Vergangenheit bereitliegen. Ironisch setzt er die Figur eines aus der Hauptstadt herbeigeeilten Schriftstellers, der emphatisch die Lehre des Massengrabs beschwört, gegen die Geschichte des Polizeichefs, der im begründeten Verdacht steht, den Knochenfund vor allem deshalb so spektakulär zu inszenieren, um seine Karriere zu sichern.
Aber in diesem Misstrauen erschöpft sich der Roman nicht. Sein Ideal ist nicht die Aufdeckung der verborgenen Wahrheit hinter den zirkulierenden Teilwahrheiten. Sein Ideal ist die Befreiung der Literatur von der historischen Beweispflicht. Er will nicht erzählen, was der Wahrheitsfindung dient, sondern was er selbst für erzählenswert hält: zum Beispiel das Abenteuer einer Spinne, die „mit dem Wagemut der alten iberischen Seefahrer” die Decke eines Hotelzimmers überquert.
Der Weg des jungen Archäologen heraus aus dem Archiv und hinein in die Welt der Kaffeesatzleserei und Mythenbildung ist programmatisch. Entschlossen und unbekümmert um die Leser, die es dadurch womöglich verliert, lässt dieses Debüt die Regionen des landläufigen Realismus hinter sich und bevölkert den aufgeschreckten Kurort in den Karpaten mit Figuren, wie sie einst Bohumil Hrabal durch das sozialistische Prag hat geistern lassen: seltsame Heilige, Virtuosen des provisorischen Glücks und Unglücks, ungeschickte Liebende, moderne Wiedergänger aus alten Märchen und lokalen Legenden, die Anekdoten und Fragmente ihrer Lebensgeschichten hinter sich herziehen wie poröse, ausgebleichte, aber immer noch bunte Schleppen.
Dem Mönch Onufrie, der am Ende die Knochen segnet, schreibt der Roman die Travestie einer Heiligenlegende auf den Leib, samt moseshafter Geburt, Marienerscheinung, verborgenem Höhlenleben und selbstverfasster, auf Birkenrinde geschriebener Fortsetzung des Evangeliums. Onufrie ist zwar nur halb von dieser Welt, und doch ein leibhaftiger Zeuge der Geschichte: langjähriger Insasse eines Arbeitslagers, Beichtvater eines versprengten anti-kommunistischen Partisanen.
Denn zwar verliert sich Filip Florian gelegentlich allzu kleinteilig im Dickicht der Episoden, Abschweifungen und Andeutungen. Aber nie geht ihm die Ausgangsfrage verloren: warum es unmöglich ist, im Rumänien des frühen 21. Jahrhunderts in einem römische Castrum Knochen zu finden, ohne dass sich sogleich wie ein Flächenbrand der Verdacht ausbreitet, es handele sich um ein Massengrab von Opfern des Geheimdienstes Securitate.
Die kleinen Finger, die dem Buch den Titel geben, sind die Obsession des Militärstaatsanwaltes, der die amtliche Untersuchung leitet. Sie sind keine Chimäre, auch wenn das Massengrab womöglich Pesttote aus längst vergangener Zeit birgt.
Mit den argentinischen Experten, die von den Behörden gerufen werden, um die Skelette und Knochen zu begutachten, kommen die Verschwundenen und Folteropfer aus den Jahren der argentinischen Militärdiktatur ins Spiel. Den Bericht der von Ernesto Sabato geleiteten „Comisión Nacional para los Desaparecidos” hat Florian in seinen Roman eingeschmolzen. Dieser interkontinentale Spiegel macht die rumänischen Machthaber zu einer europäischen „Junta”. Und er ist eine Hommage an die südamerikanische Literatur. Sie ist mit ihren Macondo-Welten wie mit ihren Diktatorenromanen die zweite Inspirationsquelle dieses Debüts, neben den souverän über die Stränge des allzu gesunden Menschenverstandes schlagenden europäischen Erzählern vom Schlage Hrabals.
Filip Florian
Kleine Finger
Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 269 Seiten, 22,80 Euro.
Figuren, wie Bohumil Hrabal sie durch Prag geistern ließ
In den Karpaten ist mancherorts die Zeit stehen geblieben, und zuweilen kommt auch noch die Vergangenheit ans Licht. Foto: Hauswald / Ostkreuz
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2009Vergangenheitsbewältigung ist ein Knochenjob
Botschaften der Baumrinde: Filip Florians magisch-realistischer Roman über ein mysteriöses Massengrab in Rumänien
Archäologie kann ein Politikum sein. In Rumänien pflegt man bis heute die umstrittene "Kontinuitätstheorie", der zufolge es dort seit der alten römischen Provinz Dakien durchgängig eine rumänische Besiedlung gegeben haben soll. Unter Ceausescu waren solche Behauptungen, die vor allem auf territoriale Ansprüche zielen, Staatsdoktrin. 1980 ließ der "Conducator" sogar den zweitausendfünfhundertsten Jahrestag der dakischen Staatsgründung feiern. Während die Historiker Ceausescu als Erfüller der rumänischen Geschichte priesen, mühten sich die Archäologen, im Erdboden schlagkräftige Beweise für die Kontinuitätstheorie zu finden.
Um die Instrumentalisierung der Geschichte - unter etwas anderen Vorzeichen - geht es auch in "Kleine Finger", dem Debüt des 1968 geborenen Rumänen Filip Florian. Den Stoff für seinen Nachwenderoman entdeckte Florian 1992 als Korrespondent von Radio Free Europe: Im Hof eines alten Gutshauses bei Bukarest wurden bei Bauarbeiten menschliche Knochen gefunden. Schnell glaubte die Öffentlichkeit an ein kommunistisches Verbrechen. Die Staatsanwaltschaft trat auf den Plan - bis sich die rund dreihundert Skelette als Überreste von Pesttoten erwiesen. "Die damalige Aufregung", so Filip Florian im Gespräch, sei in ihm "zu einem Keim geschrumpft, aus dem später das Buch gewachsen ist".
Auch in "Kleine Finger" entdecken Archäologen bei Grabungen an einem römischen Castrum in den Karpaten ein Massengrab. Sofort behauptet der örtliche Polizeichef, dass es sich dabei um Terroropfer der fünfziger Jahre handele. Journalisten und ein Vertreter der ehemaligen Politischen Häftlinge reisen an, um den vermeintlichen Tatort zu inspizieren. Nur wenige, wie der Archäologe Petrus, zweifeln an der Terrortheorie. Während des Grabungsstopps forscht er im Gemeindearchiv und spricht mit den Bewohnern des kleinen Kurortes.
Wie in einem Panoptikum werden nun die Schicksale aufgefächert. Da ist der Vorkriegs-Industrielle Dumitru, der nach seiner Enteignung zum Kranführer degradiert wurde. Der alte Mann lebt in einer Dachkammer, fängt Tauben und bereitet daraus Festmahle. Und da sind die betagten Damen Tante Paulina und Lady Embury. Erstere prophezeit sich selbst erst ein "schönes Sümmchen" aus dem Kaffeesatz und findet dann einen Goldschatz in der Küchenwand. Letztere ist die Witwe eines britischen Lords, der in der Zwischenkriegszeit bei einer Ölgesellschaft in Rumänien beschäftigt war. Über Petrus' Unterhaltungen gerät die Geschichte vom Massengrab vorerst aus dem Blick. Dafür entsteht aus den Erinnerungen eine Vorstellung vom Leben im Kommunismus, aber auch von der fernen k. u. k. Vergangenheit, vom Rumänien der Vorkriegszeit, von Faschismus und Krieg.
Neben der Handlung um den Archäologen, der eine Liebschaft mit der Nichte der Lady beginnt, rankt sich ein zweiter Erzählstrang um den Mönch Onufrie. Als politisch Verfolgter hatte der sich viele Jahre in einer Berghöhle versteckt und dort mit einer Bussardfeder und Heidelbeersud sein "Evangelium" auf Baumrinden geschrieben. Onufrie ist eine von Monstrositäten wie von Wundern umflorte Gestalt. Seine mit ihm schwangere Mutter schlitzte Dutzende von Enten auf, um ihre Leber roh zu verschlingen. Onufries Haar wächst rasend schnell, mehrfach will er die Madonna gesehen haben, einmal folgt ihm ein Bär wie ein Hündchen. Als er von seiner Einöde herabsteigt und das Massengrab segnet - wodurch die beiden Handlungsstränge des Romans zusammenfinden -, stürzt sich die Presse auf den Mann.
Zum magisch-realistischen Timbre des Romans passt, dass ausgerechnet argentinische Junta-Experten das Rätsel des Massengrabs lösen. Filip Florians Buch bringt stumme Dinge - eine verblasste Fotografie, einen alten Prägestempel - zum Sprechen und macht den Leser zum Gräber und Archäologen. Es zeigt sich, dass ausgerechnet der Urheber der Massakerthese zu den alten Seilschaften gehört. Und die verschwundenen Knochen von einem kleinen Finger aus dem Grab hat der Staatsanwalt, dem ein Gefangener einst den kleinen Finger abgebissen hat, wie Fetische gehortet. Weil die Verstrickungen tief sind, ist eine kritische Untersuchung nicht erwünscht.
Filip Florian weiß, dass die Vergangenheit eine Gesellschaft im Griff haben kann wie eine lange, hartnäckige Krankheit. Sein kleiner, dichter Roman setzt ein Bild der Geschichte aus verschiedenen Stimmen, eben aus vielen kleinen Knochen zusammen - und nur nach einer solchen Verarbeitung ist Heilung denkbar.
JUDITH LEISTER
Filip Florian: "Kleine Finger". Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 269 S., geb., 22,80 [Euro].
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Botschaften der Baumrinde: Filip Florians magisch-realistischer Roman über ein mysteriöses Massengrab in Rumänien
Archäologie kann ein Politikum sein. In Rumänien pflegt man bis heute die umstrittene "Kontinuitätstheorie", der zufolge es dort seit der alten römischen Provinz Dakien durchgängig eine rumänische Besiedlung gegeben haben soll. Unter Ceausescu waren solche Behauptungen, die vor allem auf territoriale Ansprüche zielen, Staatsdoktrin. 1980 ließ der "Conducator" sogar den zweitausendfünfhundertsten Jahrestag der dakischen Staatsgründung feiern. Während die Historiker Ceausescu als Erfüller der rumänischen Geschichte priesen, mühten sich die Archäologen, im Erdboden schlagkräftige Beweise für die Kontinuitätstheorie zu finden.
Um die Instrumentalisierung der Geschichte - unter etwas anderen Vorzeichen - geht es auch in "Kleine Finger", dem Debüt des 1968 geborenen Rumänen Filip Florian. Den Stoff für seinen Nachwenderoman entdeckte Florian 1992 als Korrespondent von Radio Free Europe: Im Hof eines alten Gutshauses bei Bukarest wurden bei Bauarbeiten menschliche Knochen gefunden. Schnell glaubte die Öffentlichkeit an ein kommunistisches Verbrechen. Die Staatsanwaltschaft trat auf den Plan - bis sich die rund dreihundert Skelette als Überreste von Pesttoten erwiesen. "Die damalige Aufregung", so Filip Florian im Gespräch, sei in ihm "zu einem Keim geschrumpft, aus dem später das Buch gewachsen ist".
Auch in "Kleine Finger" entdecken Archäologen bei Grabungen an einem römischen Castrum in den Karpaten ein Massengrab. Sofort behauptet der örtliche Polizeichef, dass es sich dabei um Terroropfer der fünfziger Jahre handele. Journalisten und ein Vertreter der ehemaligen Politischen Häftlinge reisen an, um den vermeintlichen Tatort zu inspizieren. Nur wenige, wie der Archäologe Petrus, zweifeln an der Terrortheorie. Während des Grabungsstopps forscht er im Gemeindearchiv und spricht mit den Bewohnern des kleinen Kurortes.
Wie in einem Panoptikum werden nun die Schicksale aufgefächert. Da ist der Vorkriegs-Industrielle Dumitru, der nach seiner Enteignung zum Kranführer degradiert wurde. Der alte Mann lebt in einer Dachkammer, fängt Tauben und bereitet daraus Festmahle. Und da sind die betagten Damen Tante Paulina und Lady Embury. Erstere prophezeit sich selbst erst ein "schönes Sümmchen" aus dem Kaffeesatz und findet dann einen Goldschatz in der Küchenwand. Letztere ist die Witwe eines britischen Lords, der in der Zwischenkriegszeit bei einer Ölgesellschaft in Rumänien beschäftigt war. Über Petrus' Unterhaltungen gerät die Geschichte vom Massengrab vorerst aus dem Blick. Dafür entsteht aus den Erinnerungen eine Vorstellung vom Leben im Kommunismus, aber auch von der fernen k. u. k. Vergangenheit, vom Rumänien der Vorkriegszeit, von Faschismus und Krieg.
Neben der Handlung um den Archäologen, der eine Liebschaft mit der Nichte der Lady beginnt, rankt sich ein zweiter Erzählstrang um den Mönch Onufrie. Als politisch Verfolgter hatte der sich viele Jahre in einer Berghöhle versteckt und dort mit einer Bussardfeder und Heidelbeersud sein "Evangelium" auf Baumrinden geschrieben. Onufrie ist eine von Monstrositäten wie von Wundern umflorte Gestalt. Seine mit ihm schwangere Mutter schlitzte Dutzende von Enten auf, um ihre Leber roh zu verschlingen. Onufries Haar wächst rasend schnell, mehrfach will er die Madonna gesehen haben, einmal folgt ihm ein Bär wie ein Hündchen. Als er von seiner Einöde herabsteigt und das Massengrab segnet - wodurch die beiden Handlungsstränge des Romans zusammenfinden -, stürzt sich die Presse auf den Mann.
Zum magisch-realistischen Timbre des Romans passt, dass ausgerechnet argentinische Junta-Experten das Rätsel des Massengrabs lösen. Filip Florians Buch bringt stumme Dinge - eine verblasste Fotografie, einen alten Prägestempel - zum Sprechen und macht den Leser zum Gräber und Archäologen. Es zeigt sich, dass ausgerechnet der Urheber der Massakerthese zu den alten Seilschaften gehört. Und die verschwundenen Knochen von einem kleinen Finger aus dem Grab hat der Staatsanwalt, dem ein Gefangener einst den kleinen Finger abgebissen hat, wie Fetische gehortet. Weil die Verstrickungen tief sind, ist eine kritische Untersuchung nicht erwünscht.
Filip Florian weiß, dass die Vergangenheit eine Gesellschaft im Griff haben kann wie eine lange, hartnäckige Krankheit. Sein kleiner, dichter Roman setzt ein Bild der Geschichte aus verschiedenen Stimmen, eben aus vielen kleinen Knochen zusammen - und nur nach einer solchen Verarbeitung ist Heilung denkbar.
JUDITH LEISTER
Filip Florian: "Kleine Finger". Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 269 S., geb., 22,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Uwe Stolzmann hat die erzählerische Souveränität dieses Debütromans, den der 1968 geborene rumänische Autor Filip Florian vorgelegt hat, ziemlich imponiert, wie er in seiner wohlwollenden Kritik deutlich macht. Bei Ausgrabungen in einer Kurstadt in den Karpaten wird ein Massengrab entdeckt, das man für eine mörderische Hinterlassenschaft des Ceausescu-Regimes hält; Bukarest fordert Hilfe für die Aufklärung aus Argentinien an, wo man Erfahrungen mit Staatsterror hat, die argentinischen Anthropologen allerdings finden heraus, dass es sich bei den Toten um bei einer Pestepidemie vor 200 Jahren Umgekommene handelt. Soweit die "bizarre und beklemmende" Handlung des schmalen Romans, der laut Rezensent nach den Bauprinzipien einer klassischen Novelle funktioniert. Stolzmann findet es beeindruckend, wie Florian dieses zwischen Groteske und Grauen changierende Spiel mit dem Thema "verdrängte Schuld" und "allgemeines Misstrauen", die in Hysterie eines ganzen Ortes mündet, inszeniert, auch wenn er leise anmerkt, dass der Text mitunter "arg ambitioniert" daherkommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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