Brasilien ist das größte Land Lateinamerikas und mittlerweile eine der größten Volkswirtschaften der Erde. Brasilien wird 2013 Ehrengast der Buchmesse Frankfurt sein, 2014 die Fußballweltmeisterschaft ausrichten und ist 2016 das Land, in dem die Olympischen Sommerspiele stattfinden werden. BR BR
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2014Stadt, Land, Strand oder Fußball auf dem Pulverfass
Brasilien 2014: Alle Welt schaut wegen der Fußball-Weltmeisterschaft im Juni und Juli auf das größte und bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas. Und viele werden nach Brasilien reisen, um das wichtigste Sportereignis des Universums mitzuerleben. Das brasilianische Fremdenverkehrsamt rechnet mit bis zu sechshunderttausend Besuchern aus dem Ausland während der WM, aus Deutschland werden immerhin zwanzigtausend Fans erwartet. Diese Schätzungen könnten sich freilich als zu optimistisch erweisen, weil mancher potentielle Besucher von den gewaltsamen Protesten gegen die milliardenteure WM sowie von der Kriminalität in den zwölf WM-Städten abgeschreckt werden könnte. Vor Monaten noch warnte die Regierung in Brasília, sie werde gegen Wucher vorgehen; inzwischen sinken die Preise für Flüge und Hotels wieder.
Rechtzeitig zum WM-Jahr sind allerlei Ein- und Hinführungen erschienen. Jens Glüsing ist seit 1991 für den "Spiegel" in Rio de Janeiro und bietet mit seinem "Länderporträt" einen fundierten und flüssig geschriebenen Überblick über Geschichte und Gegenwart Brasiliens. Glüsing kann wie kaum ein anderer deutscher Korrespondent aus seinen persönlichen Erfahrungen im Brasilien der neunziger Jahre schöpfen - mit Hyperinflation, grotesker Bürokratie und Mangelwirtschaft. "Brasilien kam mir vor wie eine Sowjetunion unter Palmen", schreibt er und zeigt, was davon noch ins vermeintliche Wirtschaftswunderland von heute hineinwirkt. "Brasilien hat in den vergangenen Jahren einen riesigen Sprung gemacht, über zwanzig Millionen Menschen sind in die Mittelschicht aufgestiegen, der Abstand zwischen Arm und Reich hat sich erstmals seit Jahrzehnten verringert", weiß Glüsing: "Doch unter der glänzenden Oberfläche lauern die alten Probleme: Gewalt, Ungleichheit, Korruption." Mit Sachkenntnis und Liebe zu Land und Leuten gibt Glüsing einen historischen Abriss von der "Entdeckung" Brasiliens durch die Portugiesen im Jahre 1500 bis zur Gegenwart. Vor allem aber beschreibt er die heutige Lebenswirklichkeit des Riesenlandes - von den Metropolen mit Favelas und Verkehrschaos über den Raubbau im Regenwald und den Überlebenskampf der Indios bis zur Musikszene und natürlich zum Fußball. Man kann Glüsing verzeihen, dass er für sein Buch Reportagen von früher wiederverwendet hat.
Das tut auch Peter Burghardt, seit 2006 Lateinamerika-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" mit Sitz in Buenos Aires, in seiner "Gebrauchsanweisung" für Brasilien. Doch leider etwas zu ausgiebig: Sein Buch bleibt rhapsodisch, will sich nicht recht zu einem Ganzen fügen. Auch Burghardt erzählt viel von eigenen Erlebnissen, nur sind die oft als jene eines gelegentlichen Besuchers erkennbar und dringen zu selten tief in die Lebenswirklichkeit Brasiliens und der Brasilianer ein. Burghardts Stück zum Boom ums Zuckerrohr, aus dem in Brasilien der Kraftstoff Äthanol gewonnen wird, ist schon veraltet: Heute steckt die brasilianische Äthanol-Industrie in ihrer tiefsten Krise, weil die linke Arbeiterregierung unter Präsidentin Dilma Rousseff die Preise für alle Kraftstoffe an den Zapfsäulen kontrolliert und die Gewinnmargen für Äthanol so niedrig sind, dass Dutzende von Destillen stillgelegt werden mussten.
Dawid Danilo Bartelt, der seit 2010 das Brasilien-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung (der Partei Bündnis 90/Die Grünen) in Rio de Janeiro leitet, hat sich mit seinem Buch über die Copacabana zu viel vorgenommen. Er versucht, die historische Entwicklung und heutige Lebenswirklichkeit Brasiliens im Prisma der Copacabana zu bündeln - und zwar des früheren Dorfes und des heutigen Stadtviertels im Süden von Rio de Janeiro sowie des gleichnamigen Sandstrands. Damit die von ihm aufgestellte Gleichung "Copacabana ist Rio, und Rio ist Brasilien" aufgeht, stopft er allzu viele Zitate von historischen Reiseberichten sowie teilweise arg banale Beobachtungen in sein Buch, das deshalb Längen hat. Ein sorgfältiges Lektorat hätte den Erstlingsautor zudem vor mancher Stilblüte bewahren können.
Dass die poetische Beschreibung die Wirklichkeit oft exakter widerspiegelt als überdrehte Sachbuchprosa, kann der Leser in fast allen Stücken der "Literarischen Einladung" nach Rio erfahren, die von den Bochumer Literaturwissenschaftlern Marco Thomas Bosshard und Marcos Machado Nunes herausgegeben wurde. Es finden sich Preziosen - viele in deutscher Erstübersetzung - wie die Gedichte von Carlos Drummond de Andrade (1902 - 1987) und Caetano Veloso (geboren 1942), aber auch nachtschwarze Miniaturen von Clarice Lispector (1920 - 1977), Luiz Ruffato (geboren 1961) oder Miguel Sanches Neto (geboren 1965). Aus ihnen scheint die tiefere Wahrheit von Gewalt, enttäuschter Liebessehnsucht und nahendem Tod schmerzhaft durch den Oberflächenglanz von Lebensfreude, Karnevals-erotik und Körperkult, in dem sich die Cariocas - so heißen die Einwohner Rios - von heute so gerne sonnen.
Wem der Sinn nach grundsachlichen Informationen über Entstehung und historische Entwicklung des Landes mit heute gut zweihundert Millionen Einwohnern steht, der ist mit der "Kleinen Geschichte Brasiliens" der Berliner Historiker Stefan Rinke und Frederik Schulze bestens bedient. In gut lesbarer Wissenschaftsprosa wird der Bogen gespannt von der Zeit vor der Ankunft der Europäer, der portugiesischen Kolonialzeit nach 1500 und der Unabhängigkeit von 1822 unter Kaiser Dom Pedro über die Ausrufung der Republik von 1889, den Aufstieg zur globalen Handelsmacht nach dem Ersten Weltkrieg und die prägenden Präsidentschaften des Modernisierers Getúlio Vargas (1882 - 1954) bis hin zur Militärdiktatur nach 1964, der Rückkehr zur Demokratie von 1985 und schließlich zum bis historischen Sieg des einstigen Gewerkschaftsführers Luiz Inácio Lula da Silva bei den Präsidentenwahlen im Jahr 2002. Selbst über die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen für das Land unter Lulas Nachfolgerin Rousseff und über Brasilien in der kulturellen Globalisierung wird der Leser konzis unterrichtet. Keineswegs nur für Wissenschaftler ist die vom Berliner Politologen Peter Birle herausgegebene "Einführung" zu Brasilien geeignet, sondern für alle, die Politik und Wirtschaft, Sozial- und Bildungswesen, Kultur- und Musikszene sowie die Medienlandschaft und den Fußballmythos Brasiliens wirklich verstehen wollen. Wie aktuell eine überwiegend von Wissenschaftlern verfasste Textsammlung sein kann, zeigt der Umstand, dass sogar die im vergangenen Jahr begonnenen und bis heute fortdauernden Proteste gegen die sozialen Missstände in mehreren Beiträgen erwähnt und erklärt werden.
MATTHIAS RÜB
"Brasilien. Ein Länderporträt" von Jens Glüsing. Ch. Links Verlag, Berlin 2013. 208 Seiten. Broschiert, 16,90 Euro.
"Gebrauchsanweisung für Brasilien" von Peter Burghardt. Piper Verlag, München 2013. 240 Seiten. Gebunden, 14,99 Euro.
"Copacabana. Biographie eines Sehnsuchtsortes" von Dawid Danilo Bartelt. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013. 208 Seiten. Broschiert, 10,90 Euro.
"Rio de Janeiro. Eine literarische Einladung", herausgegeben von Marco Thomas Bosshard und Marcos Machado Nunes. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013. 144 Seiten. Gebunden, 15,90 Euro.
"Kleine Geschichte Brasiliens" von Stefan Rinke und Frederik Schulze. C.H. Beck Verlag, München 2013. 232 Seiten. Broschiert, 12,95 Euro.
"Brasilien. Eine Einführung", herausgegeben von Peter Birle. Vervuert Verlag, Frankfurt 2013. 300 Seiten. Broschiert, 19,80 Euro.
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Brasilien 2014: Alle Welt schaut wegen der Fußball-Weltmeisterschaft im Juni und Juli auf das größte und bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas. Und viele werden nach Brasilien reisen, um das wichtigste Sportereignis des Universums mitzuerleben. Das brasilianische Fremdenverkehrsamt rechnet mit bis zu sechshunderttausend Besuchern aus dem Ausland während der WM, aus Deutschland werden immerhin zwanzigtausend Fans erwartet. Diese Schätzungen könnten sich freilich als zu optimistisch erweisen, weil mancher potentielle Besucher von den gewaltsamen Protesten gegen die milliardenteure WM sowie von der Kriminalität in den zwölf WM-Städten abgeschreckt werden könnte. Vor Monaten noch warnte die Regierung in Brasília, sie werde gegen Wucher vorgehen; inzwischen sinken die Preise für Flüge und Hotels wieder.
Rechtzeitig zum WM-Jahr sind allerlei Ein- und Hinführungen erschienen. Jens Glüsing ist seit 1991 für den "Spiegel" in Rio de Janeiro und bietet mit seinem "Länderporträt" einen fundierten und flüssig geschriebenen Überblick über Geschichte und Gegenwart Brasiliens. Glüsing kann wie kaum ein anderer deutscher Korrespondent aus seinen persönlichen Erfahrungen im Brasilien der neunziger Jahre schöpfen - mit Hyperinflation, grotesker Bürokratie und Mangelwirtschaft. "Brasilien kam mir vor wie eine Sowjetunion unter Palmen", schreibt er und zeigt, was davon noch ins vermeintliche Wirtschaftswunderland von heute hineinwirkt. "Brasilien hat in den vergangenen Jahren einen riesigen Sprung gemacht, über zwanzig Millionen Menschen sind in die Mittelschicht aufgestiegen, der Abstand zwischen Arm und Reich hat sich erstmals seit Jahrzehnten verringert", weiß Glüsing: "Doch unter der glänzenden Oberfläche lauern die alten Probleme: Gewalt, Ungleichheit, Korruption." Mit Sachkenntnis und Liebe zu Land und Leuten gibt Glüsing einen historischen Abriss von der "Entdeckung" Brasiliens durch die Portugiesen im Jahre 1500 bis zur Gegenwart. Vor allem aber beschreibt er die heutige Lebenswirklichkeit des Riesenlandes - von den Metropolen mit Favelas und Verkehrschaos über den Raubbau im Regenwald und den Überlebenskampf der Indios bis zur Musikszene und natürlich zum Fußball. Man kann Glüsing verzeihen, dass er für sein Buch Reportagen von früher wiederverwendet hat.
Das tut auch Peter Burghardt, seit 2006 Lateinamerika-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" mit Sitz in Buenos Aires, in seiner "Gebrauchsanweisung" für Brasilien. Doch leider etwas zu ausgiebig: Sein Buch bleibt rhapsodisch, will sich nicht recht zu einem Ganzen fügen. Auch Burghardt erzählt viel von eigenen Erlebnissen, nur sind die oft als jene eines gelegentlichen Besuchers erkennbar und dringen zu selten tief in die Lebenswirklichkeit Brasiliens und der Brasilianer ein. Burghardts Stück zum Boom ums Zuckerrohr, aus dem in Brasilien der Kraftstoff Äthanol gewonnen wird, ist schon veraltet: Heute steckt die brasilianische Äthanol-Industrie in ihrer tiefsten Krise, weil die linke Arbeiterregierung unter Präsidentin Dilma Rousseff die Preise für alle Kraftstoffe an den Zapfsäulen kontrolliert und die Gewinnmargen für Äthanol so niedrig sind, dass Dutzende von Destillen stillgelegt werden mussten.
Dawid Danilo Bartelt, der seit 2010 das Brasilien-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung (der Partei Bündnis 90/Die Grünen) in Rio de Janeiro leitet, hat sich mit seinem Buch über die Copacabana zu viel vorgenommen. Er versucht, die historische Entwicklung und heutige Lebenswirklichkeit Brasiliens im Prisma der Copacabana zu bündeln - und zwar des früheren Dorfes und des heutigen Stadtviertels im Süden von Rio de Janeiro sowie des gleichnamigen Sandstrands. Damit die von ihm aufgestellte Gleichung "Copacabana ist Rio, und Rio ist Brasilien" aufgeht, stopft er allzu viele Zitate von historischen Reiseberichten sowie teilweise arg banale Beobachtungen in sein Buch, das deshalb Längen hat. Ein sorgfältiges Lektorat hätte den Erstlingsautor zudem vor mancher Stilblüte bewahren können.
Dass die poetische Beschreibung die Wirklichkeit oft exakter widerspiegelt als überdrehte Sachbuchprosa, kann der Leser in fast allen Stücken der "Literarischen Einladung" nach Rio erfahren, die von den Bochumer Literaturwissenschaftlern Marco Thomas Bosshard und Marcos Machado Nunes herausgegeben wurde. Es finden sich Preziosen - viele in deutscher Erstübersetzung - wie die Gedichte von Carlos Drummond de Andrade (1902 - 1987) und Caetano Veloso (geboren 1942), aber auch nachtschwarze Miniaturen von Clarice Lispector (1920 - 1977), Luiz Ruffato (geboren 1961) oder Miguel Sanches Neto (geboren 1965). Aus ihnen scheint die tiefere Wahrheit von Gewalt, enttäuschter Liebessehnsucht und nahendem Tod schmerzhaft durch den Oberflächenglanz von Lebensfreude, Karnevals-erotik und Körperkult, in dem sich die Cariocas - so heißen die Einwohner Rios - von heute so gerne sonnen.
Wem der Sinn nach grundsachlichen Informationen über Entstehung und historische Entwicklung des Landes mit heute gut zweihundert Millionen Einwohnern steht, der ist mit der "Kleinen Geschichte Brasiliens" der Berliner Historiker Stefan Rinke und Frederik Schulze bestens bedient. In gut lesbarer Wissenschaftsprosa wird der Bogen gespannt von der Zeit vor der Ankunft der Europäer, der portugiesischen Kolonialzeit nach 1500 und der Unabhängigkeit von 1822 unter Kaiser Dom Pedro über die Ausrufung der Republik von 1889, den Aufstieg zur globalen Handelsmacht nach dem Ersten Weltkrieg und die prägenden Präsidentschaften des Modernisierers Getúlio Vargas (1882 - 1954) bis hin zur Militärdiktatur nach 1964, der Rückkehr zur Demokratie von 1985 und schließlich zum bis historischen Sieg des einstigen Gewerkschaftsführers Luiz Inácio Lula da Silva bei den Präsidentenwahlen im Jahr 2002. Selbst über die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen für das Land unter Lulas Nachfolgerin Rousseff und über Brasilien in der kulturellen Globalisierung wird der Leser konzis unterrichtet. Keineswegs nur für Wissenschaftler ist die vom Berliner Politologen Peter Birle herausgegebene "Einführung" zu Brasilien geeignet, sondern für alle, die Politik und Wirtschaft, Sozial- und Bildungswesen, Kultur- und Musikszene sowie die Medienlandschaft und den Fußballmythos Brasiliens wirklich verstehen wollen. Wie aktuell eine überwiegend von Wissenschaftlern verfasste Textsammlung sein kann, zeigt der Umstand, dass sogar die im vergangenen Jahr begonnenen und bis heute fortdauernden Proteste gegen die sozialen Missstände in mehreren Beiträgen erwähnt und erklärt werden.
MATTHIAS RÜB
"Brasilien. Ein Länderporträt" von Jens Glüsing. Ch. Links Verlag, Berlin 2013. 208 Seiten. Broschiert, 16,90 Euro.
"Gebrauchsanweisung für Brasilien" von Peter Burghardt. Piper Verlag, München 2013. 240 Seiten. Gebunden, 14,99 Euro.
"Copacabana. Biographie eines Sehnsuchtsortes" von Dawid Danilo Bartelt. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013. 208 Seiten. Broschiert, 10,90 Euro.
"Rio de Janeiro. Eine literarische Einladung", herausgegeben von Marco Thomas Bosshard und Marcos Machado Nunes. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013. 144 Seiten. Gebunden, 15,90 Euro.
"Kleine Geschichte Brasiliens" von Stefan Rinke und Frederik Schulze. C.H. Beck Verlag, München 2013. 232 Seiten. Broschiert, 12,95 Euro.
"Brasilien. Eine Einführung", herausgegeben von Peter Birle. Vervuert Verlag, Frankfurt 2013. 300 Seiten. Broschiert, 19,80 Euro.
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