Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2003Mit fünfzig fängt man sich wieder
Die Edition Suhrkamp wird dieser Tage vierzig Jahre alt. Als kleines Jubiläumsprogramm legt der Verlag in schmucker Ausfertigung fünfzehn Klassiker der Edition noch einmal vor, "eine mögliche Quintessenz aus 2311 Bänden", wie es in der Ankündigung tatsächlich heißt, Titel von Benjamin bis Butler, sowie eine von Raimund Fellinger zusammengestellte "Kleine Geschichte der edition suhrkamp" (Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003. 102 S., br., 4,- [Euro]). In ihr wird ein Rückblick auf die vier Jahrzehnte jener Reihe versucht, welche neben literarischen Neuausgaben vor allem mit theoretischen Texten aufwartet. Dokumentiert ist in dieser "Kleinen Geschichte" manches vom Presseecho auf die Edition, vor allem wird der Leser aber mit aufschlußreichen Zeugnissen aus dem Verlagsarchiv bekannt gemacht, mit Zuspruch und Kritik, soweit sie sich auf die inhaltliche und kaufmännische Entwicklung der Edition beziehen.
Nun gehört es mit zum Charme dieser ehrwürdigen Taschenbuchreihe, daß sie stets ein geradezu manisches Verhältnis zu Jubiläen ihrer Gründung oder anderweitigen Zäsuren ihrer Geschichte unterhielt. Schon im dritten Jahr ihres Bestehens, 1966, verfaßte Siegfried Unseld die erste "Kleine Geschichte der edition suhrkamp". Man beging den fünften, den zehnten, den fünfzehnten, den zwanzigsten, den fünfundzwanzigsten Jubiläumstag der Edition, nutzte jede aus ihr hervorgegangene Subreihe - ob Bohrers "Aesthetica" oder Wehlers "Neue Historische Bibliothek" - zu einem Glas Sekt. Sind das nicht sympathische Signale einer labilen Selbstvergewisserung, als lebe man im liturgischen Rhythmus eines säkularisierten Kirchenkalenders? 1979 wurde der Band 1000 der Reihe mit einer Aufmerksamkeit begleitet, daß sich die Balken der Nation bogen, Jürgen Habermas hatte ihn unter dem Titel "Stichworte zur ,Geistigen Situation unserer Zeit'" herausgegeben und darin einen völligen Bedeutungsverlust dieser einst tonangebenden, ja, wie es schien: den Geist der Republik justierenden Reihe zu Protokoll gegeben.
Und was war erst der Rauswurf von Günther Busch als Lektor der Edition im selben Jahr für ein Event der Kulturszene! Ein landesweites Raunen setzte ein: Wird die Edition ihre "Linie" verändern, jene Linie, die sich KD Wolff 1968 noch als das "epochale Zusammentreffen eines kritischen Verlagsprogramms mit einer Jugendrevolte" vorstellte, als "spezifische Mischung von Kritischer Theorie, Psychoanalyse und Literatur, mit der wir uns bewaffnen wollten"? Wird die Neue Folge der Edition, die mit dem neuen Lektor Raimund Fellinger 1979 eingerichtet wurde, das halten, was Siegfried Unseld versprach: "Die Titel der Neuen Folge werden Suchbewegungen darstellen", sie werden "Avantgarde" und "Speerspitze" des gesamten Verlagsprogramms sein? Fragen, an denen man sich einst die Finger wundschrieb.
Es gab da in der Tat eine lange Zeit - die "Kleine Geschichte" zeigt's sehr schön -, als jedes Husten im Verlag der Edition noch eine Heer von Exegeten auf den Plan rief, Feuilletonisten, Soziologieprofessoren, Schriftsteller und andere Fahrensleute des Verlagswesens, die sich gegenseitig darin übertrafen, der Republik auszulegen, wo ihr Geist nach der allerletzten Suchbewegung im Hause Suhrkamp nun erst einmal zu stehen gekommen ist. "Damit ist es nun vorbei", möchte man heuer sagen, einen Satz von Habermas aus dem Band 1000 zitierend. Warum? Zunächst natürlich: Weil die Zeiten andere sind. Jeder, der schon mal vierzig geworden ist, weiß, daß danach nur noch wenig so ist wie zuvor. Weswegen dieser Geburtstag eigentlich auch mit Diskretion behandelt werden will. Die Aufgabe, zuinnerst ein suchbewegtes Kind zu bleiben, nötigt einem nach dem Vierzigsten ganz neue Masken auf.
Aber, liebe Lektoren der Edition: Seit wann ist die Midlife-Crisis ein Grund, sich kapitulierend in die Erwachsenenwelt fallen zu lassen? Jedenfalls was den theoretischen Teil der Reihe angeht, scheint die Suchbewegung ins Stocken geraten zu sein. Ist die sozialwissenschaftliche Großproduktion der Edition, statt für Speerspitze und Selbstirritation einzustehen, nicht längst dazu übergegangen, pünktlich die Beobachtungen der Neuen Übersichtlichkeit abzuliefern? Also das "(Sammel-)Buch zum Thema" anzubieten - zum Medienkanzler, zum Pop (2002!), zur Zukunft der Bildung und immer wieder: zur Globalisierung. Sollte das Avantgardistische der Kleinen Geschichte Haitis, der Schweiz oder Polens darin liegen, daß man sie eher in Becks Wissen-Reihe als in der Edition vermutet? Und wenn schon so viel Medientheorie: Warum werden so schrecklich brav ihre schrecklich schiefen Axiome übernommen, statt mit scharfer Speerspitze aufgespießt? Warum wird mit Hondrich und Bude Verschmocktes als Zeitdiagnostik ausgegeben? Warum wird die Flanke der Naturalismusdebatte, das wichtige Thema der Wechselwirkung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften mit Wolf Singer abgedeckt, einem naturwissenschaftlichen Monisten und philosophischen Autodidakten?
Und umgekehrt: Warum werden tragende, die Debatte aufmischende Bücher des Hauses erst gar nicht in die Edition eingegliedert, auch wenn sie vorbildlich die Funktion der Suchbewegung erfüllen? Zwei Beispiele nur: "Die Zukunft der menschlichen Natur" von Habermas, ein Schrittmacher-Buch für die Diskussion um die Biopolitik; oder "Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung im vergleichenden Fanatismus" von Ulla Berkéwicz, ein interessantes, schwer faßbares Genre zwischen phänomenologischem Essay und autobiographischer Rahmung. Beide Bände hätte man sofort in der Edition vermutet. Sie sind aber, ohne daß mit ihnen eine neue Subreihe begründet werden sollte, in noblem Grau außerhalb der Edition erschienen. Das wirkt ein wenig, als traue da ein Vierziger seinem Lebensprogramm nicht mehr recht über den Weg. Aber gemach: Mit fünfzig, heißt es, hat man sich meist wieder gefangen.
CHRISTIAN GEYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Edition Suhrkamp wird dieser Tage vierzig Jahre alt. Als kleines Jubiläumsprogramm legt der Verlag in schmucker Ausfertigung fünfzehn Klassiker der Edition noch einmal vor, "eine mögliche Quintessenz aus 2311 Bänden", wie es in der Ankündigung tatsächlich heißt, Titel von Benjamin bis Butler, sowie eine von Raimund Fellinger zusammengestellte "Kleine Geschichte der edition suhrkamp" (Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003. 102 S., br., 4,- [Euro]). In ihr wird ein Rückblick auf die vier Jahrzehnte jener Reihe versucht, welche neben literarischen Neuausgaben vor allem mit theoretischen Texten aufwartet. Dokumentiert ist in dieser "Kleinen Geschichte" manches vom Presseecho auf die Edition, vor allem wird der Leser aber mit aufschlußreichen Zeugnissen aus dem Verlagsarchiv bekannt gemacht, mit Zuspruch und Kritik, soweit sie sich auf die inhaltliche und kaufmännische Entwicklung der Edition beziehen.
Nun gehört es mit zum Charme dieser ehrwürdigen Taschenbuchreihe, daß sie stets ein geradezu manisches Verhältnis zu Jubiläen ihrer Gründung oder anderweitigen Zäsuren ihrer Geschichte unterhielt. Schon im dritten Jahr ihres Bestehens, 1966, verfaßte Siegfried Unseld die erste "Kleine Geschichte der edition suhrkamp". Man beging den fünften, den zehnten, den fünfzehnten, den zwanzigsten, den fünfundzwanzigsten Jubiläumstag der Edition, nutzte jede aus ihr hervorgegangene Subreihe - ob Bohrers "Aesthetica" oder Wehlers "Neue Historische Bibliothek" - zu einem Glas Sekt. Sind das nicht sympathische Signale einer labilen Selbstvergewisserung, als lebe man im liturgischen Rhythmus eines säkularisierten Kirchenkalenders? 1979 wurde der Band 1000 der Reihe mit einer Aufmerksamkeit begleitet, daß sich die Balken der Nation bogen, Jürgen Habermas hatte ihn unter dem Titel "Stichworte zur ,Geistigen Situation unserer Zeit'" herausgegeben und darin einen völligen Bedeutungsverlust dieser einst tonangebenden, ja, wie es schien: den Geist der Republik justierenden Reihe zu Protokoll gegeben.
Und was war erst der Rauswurf von Günther Busch als Lektor der Edition im selben Jahr für ein Event der Kulturszene! Ein landesweites Raunen setzte ein: Wird die Edition ihre "Linie" verändern, jene Linie, die sich KD Wolff 1968 noch als das "epochale Zusammentreffen eines kritischen Verlagsprogramms mit einer Jugendrevolte" vorstellte, als "spezifische Mischung von Kritischer Theorie, Psychoanalyse und Literatur, mit der wir uns bewaffnen wollten"? Wird die Neue Folge der Edition, die mit dem neuen Lektor Raimund Fellinger 1979 eingerichtet wurde, das halten, was Siegfried Unseld versprach: "Die Titel der Neuen Folge werden Suchbewegungen darstellen", sie werden "Avantgarde" und "Speerspitze" des gesamten Verlagsprogramms sein? Fragen, an denen man sich einst die Finger wundschrieb.
Es gab da in der Tat eine lange Zeit - die "Kleine Geschichte" zeigt's sehr schön -, als jedes Husten im Verlag der Edition noch eine Heer von Exegeten auf den Plan rief, Feuilletonisten, Soziologieprofessoren, Schriftsteller und andere Fahrensleute des Verlagswesens, die sich gegenseitig darin übertrafen, der Republik auszulegen, wo ihr Geist nach der allerletzten Suchbewegung im Hause Suhrkamp nun erst einmal zu stehen gekommen ist. "Damit ist es nun vorbei", möchte man heuer sagen, einen Satz von Habermas aus dem Band 1000 zitierend. Warum? Zunächst natürlich: Weil die Zeiten andere sind. Jeder, der schon mal vierzig geworden ist, weiß, daß danach nur noch wenig so ist wie zuvor. Weswegen dieser Geburtstag eigentlich auch mit Diskretion behandelt werden will. Die Aufgabe, zuinnerst ein suchbewegtes Kind zu bleiben, nötigt einem nach dem Vierzigsten ganz neue Masken auf.
Aber, liebe Lektoren der Edition: Seit wann ist die Midlife-Crisis ein Grund, sich kapitulierend in die Erwachsenenwelt fallen zu lassen? Jedenfalls was den theoretischen Teil der Reihe angeht, scheint die Suchbewegung ins Stocken geraten zu sein. Ist die sozialwissenschaftliche Großproduktion der Edition, statt für Speerspitze und Selbstirritation einzustehen, nicht längst dazu übergegangen, pünktlich die Beobachtungen der Neuen Übersichtlichkeit abzuliefern? Also das "(Sammel-)Buch zum Thema" anzubieten - zum Medienkanzler, zum Pop (2002!), zur Zukunft der Bildung und immer wieder: zur Globalisierung. Sollte das Avantgardistische der Kleinen Geschichte Haitis, der Schweiz oder Polens darin liegen, daß man sie eher in Becks Wissen-Reihe als in der Edition vermutet? Und wenn schon so viel Medientheorie: Warum werden so schrecklich brav ihre schrecklich schiefen Axiome übernommen, statt mit scharfer Speerspitze aufgespießt? Warum wird mit Hondrich und Bude Verschmocktes als Zeitdiagnostik ausgegeben? Warum wird die Flanke der Naturalismusdebatte, das wichtige Thema der Wechselwirkung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften mit Wolf Singer abgedeckt, einem naturwissenschaftlichen Monisten und philosophischen Autodidakten?
Und umgekehrt: Warum werden tragende, die Debatte aufmischende Bücher des Hauses erst gar nicht in die Edition eingegliedert, auch wenn sie vorbildlich die Funktion der Suchbewegung erfüllen? Zwei Beispiele nur: "Die Zukunft der menschlichen Natur" von Habermas, ein Schrittmacher-Buch für die Diskussion um die Biopolitik; oder "Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung im vergleichenden Fanatismus" von Ulla Berkéwicz, ein interessantes, schwer faßbares Genre zwischen phänomenologischem Essay und autobiographischer Rahmung. Beide Bände hätte man sofort in der Edition vermutet. Sie sind aber, ohne daß mit ihnen eine neue Subreihe begründet werden sollte, in noblem Grau außerhalb der Edition erschienen. Das wirkt ein wenig, als traue da ein Vierziger seinem Lebensprogramm nicht mehr recht über den Weg. Aber gemach: Mit fünfzig, heißt es, hat man sich meist wieder gefangen.
CHRISTIAN GEYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Pünktlich zum vierzigsten Geburtstag der Edition Suhrkamp liegt nun eine von Raimund Fellinger zusammengestellte "Kleine Geschichte der edition suhrkamp" vor. Ein, so Rezensent Christian Geyer, Rückblick auf die vier Jahrzehnte jener Reihe, die neben literarischen Neuausgaben vor allem mit theoretischen Texten aufwartet. Der Band dokumentiere manches vom Presseecho auf die Edition und mache den Leser mit aufschlussreichen Zeugnissen aus dem Verlagsarchiv bekannt, berichtet Geyer. Allerdings scheint aus der Edition heute ein wenig die Luft raus zu sein: die Zeiten, in denen jedes Husten im Verlag der Edition noch eine Heer von Exegeten auf den Plan rief, sind nach Ansicht Geyers erst mal vorbei. Was am Alter liegen mag und an den Zeiten. Kritisch registriert Geyer, dass die "Suchbewegung" der Edition ins Stocken geraten sei. Fragwürdig erscheint ihm beispielsweise, dass die Naturalismusdebatte mit Wolf Singer abgedeckt wird, während "tragende, die Debatte aufmischende Bücher" des Hauses erst gar nicht in die Edition eingegliedert würden, etwa Habermas' "Die Zukunft der menschlichen Natur". Das wirke ein wenig, als traue da ein Vierziger seinem Lebensprogramm nicht mehr recht über den Weg, findet der Rezensent, "Aber gemach: Mit fünfzig, heißt es, hat man sich meist wieder gefangen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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