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Produktdetails
  • Verlag: C.H.Beck
  • ISBN-13: 9783406374388
  • ISBN-10: 3406374387
  • Artikelnr.: 05485183
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.1995

Neigung zum Selbstmord
Eine sehr kleine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur

Eine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur zu schreiben heißt, sich dem Chaos auszusetzen. Länder mit disparatester Kultur und einer kaum irgendwo übereinstimmenden Geschichte sind zu betrachten, eine verworrene, niemals sinnvoll katalogisierte Buchproduktion muß berücksichtigt werden, um einen flüchtigen Lesemarkt ohne Kontinuitäten geht es, wo Bücher, oftmals in einmaliger Auflage, rasch unauffindbar werden, um eine fluktuierende Verlagslandschaft ohne große Bibliotheken, um eine bedrängende Fülle von Namen und publizistischen Aktivitäten, um eine Literatur ohne Kanon und Gedächtnis: Mit alledem muß sich der sichtende und wertende Historiker auf dem amerikanischen Subkontinent herumschlagen.

Zudem droht übermächtige Konkurrenz aus den eigenen Reihen: Der deutsche Buchmarkt verfügt mit dem von Dieter Reichardt besorgten "Autorenlexikon Lateinamerika" über ein monumentales Standardwerk von fast unendlicher Materialfülle, das jedem den Atem zu nehmen droht, der auf diesem Felde eine resümierende und zugleich lesbare Übersicht zustande bringen möchte. Die Ausgangsposition des in Münster lehrenden Romanisten Christoph Strosetzki ist also denkbar schlecht, und seine kurzgefaßte Geschichte der Literatur Lateinamerikas im 20. Jahrhundert darf von vornherein als abenteuerliche Mutprobe gelten.

Der Band wendet sich erklärtermaßen an eine allgemein interessierte Leserschaft. Die Gliederung geschieht nach Ländern und dann wieder nach Autoren, deren Hauptwerke inhaltlich und der Problemstellung nach vorgeführt werden. Jedem Kapitel schickt Strosetzki eine knappe historische Einleitung voraus, und hier häufen sich bereits Ungeschicklichkeiten und Irrtümer: Ein von den Vereinigten Staaten in Guatemala inszenierter Putsch findet bei Strosetzki einmal 1953 und einmal 1954 statt; Perus Unabhängigkeit wird 1921 (statt 1821) proklamiert; der chilenische Lyriker Vicente Huidobro nimmt 1944 am Kampf um Berlin teil, obgleich dieser doch erst 1945 ablief; die Unabhängigkeit Brasiliens wird bei Strosetzki 1824 (in Wirklichkeit 1822) ausgerufen. Ebenso strotzen die literarhistorischen und ästhetischen Anmerkungen dieses Buches von Platitüden: Im Kapitel über Rubén Darío aus Nicaragua heißt es: "Erstes Charakteristikum des Modernismo war die Rebellion gegen die Gesellschaft durch Gebrauch von Drogen, durch Neigung zum Selbstmord, zum äußeren und inneren Exil." Zum Guatemalteken Miguel Angel Asturias erfahren wir: "Die verkürzten europäischen Mythen vom edlen Wilden bzw. Wilden Westen will er korrigieren durch seine Texte." Und José María Arguedas aus Peru hatte Schweres durchzumachen: "Seine Lehrtätigkeit und intensive Studien führten 1943 zu einem physischen Zusammenbruch."

Den einzelnen Autoren Lateinamerikas sind Kurzbiographien beigegeben, die fast durchweg hinter den Informationen aus Reichardts Lexikon zurückbleiben - manchmal sind einzelne Passagen einfach aus Reichardt übernommen, so im Falle der Mexikaner Alfonso Reyes und Gregorio López y Fuentes.

Was also nützt diese mit zahlreichen Mängeln behaftete Übersicht dem deutschen Leser? Immerhin arbeitet Strosetzki einige Abschnitte seines kleinen Vademecums so weit aus, daß man sie mit Gewinn durchsehen kann. Dem Mexikaner Carlos Fuentes gelten mehr als zehn Seiten Inhaltswiedergaben, leider fehlt der letzte Roman "Christóbal Nonato" ebenso wie Alejo Carpentiers "Consagración de la primavera". José Donoso und Isabel Allende kommen mit Hauptwerken schlüssig zur Sprache, der Literatur des kleinen Landes Uruguay gilt offenbar Strosetzkis Zuneigung, so daß man hier gut informiert wird. Bei den argentinischen Autoren sind es, neben einem fragwürdigen Borges-Kapitel, Autoren wie Ezequiel Martínez Estrada, Eduardo Mallea und Ernesto Sábato, deren OEuvre brauchbar referiert ist.

Der abschließende Brasilienteil dieser Literaturgeschichte ist dann wieder gänzlich verfehlt. Strosetzki kennt sich dort überhaupt nicht aus, hält Jorge Amado für einen Schriftsteller im Anschluß an die Modernismo-Bewegung, bezeichnet Gilberto Freyres "Casa Grande" als "Roman", wo es sich in Wirklichkeit um ein sozialhistorisches Kompendium mit fast tausend gelehrten Anmerkungen handelt, und der Leser erfährt auch nicht, welcher "Fluß" in Cabral de Melo Netos gleichnamigem Gedichtzyklus gemeint ist.

Fazit: Ein über weite Strecken ziemlich einfallslos kompiliertes, in seinen historischen und literargeschichtlichen Partien fragwürdiges Handbuch, das man allenfalls selektiv lesen sollte. HANSPETER BRODE Christoph Strosetzki: "Kleine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im 20. Jahrhundert". C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1994. 368 S., br., 24,- DM.

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