Die erste Geschichte des Abiturs von den Anfängen bis heute Auch Karl Marx hat Abitur gemacht, 1835. Seine »sittliche Aufführung war gut«. Und Bismarck wäre auf dem Gymnasium fast zum Republikaner geworden. Wie das kam, erfährt man in diesem Buch, und vieles mehr über die Geschichte des Abiturs. Gut und lebendig geschrieben, führt es vom ersten Abiturreglement in Preußen 1788 über die Oberstufenreform der 1970er Jahre bis zu den aktuellen Neuerungen Zentralabitur und G8. Auch der Weg der Mädchen von der »Höheren Töchterschule« bis zum vollwertigen Abitur wird anschaulich nachgezeichnet. Ein ebenso informatives wie amüsantes Buch über die Wandlungen des Zeitgeistes im Spiegel des Abiturs.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2010Die Leidensgeschichte des Abiturs
Nach bestandenem Abitur werden neben Führerscheinen, Kraftfahrzeugen und Reisen mitunter auch immer noch Bücher verschenkt. Dies hier eignet sich allerdings mehr dazu, vor bestandenem Abitur gelesen zu werden. Denn geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid, und die Geschichte des Abiturs ist naturgemäß eine Leidensgeschichte (Rainer Bölling, "Kleine Geschichte des Abiturs". Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010. 211 S., br., 19,90 [Euro]).
Zuerst litt, ab 1834 in Preußen, der Adel, der - dafür wurde das Abitur schließlich erfunden - nicht mehr ohne Leistungsnachweis einfach so in die Universität hineinreiten konnte. Die Ämter, hieß es schon 1788, sollten nicht mehr mit "seichten und unzweckmäßigen Subjecten" besetzt werden. Dann litten die Prüflinge, zumal unter alten Sprachen. Ganze Aufsätze waren auf Latein zu liefern, und sowohl vom als auch ins Lateinische und Griechische war zu übersetzen. "Wir sollen junge nationale Deutsche erziehen", schimpfte Wilhelm II., "und nicht junge Griechen und Römer." Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen Französisch und die Naturwissenschaft stärker auf. Außerdem litten die Abiturienten an Prüfungen, von denen zwei an jedem Prüfungstag stattfanden.
Und sie dürften auch an manchen Themen für den "deutschen Aufsatz", den es leider als Prüfung allgemeiner Denk- und Mitteilungsfähigkeit seit 1972 nicht mehr gibt, gelitten haben. Gemeint sind Themen - neben viel Schiller, Ibsen, Hauptmann und Kleist - wie diese: "Weshalb hat die Ermordung Caesars nicht die davon erwarteten Folgen gehabt?" (1873); "Welche ästhetischen Empfindungen ruft in uns ein großgewerblicher Betrieb hervor?" (1923); "Kommst du zu mir, kommst du zu dir! Welchen Sinn hat diese Überschrift einer Bücherei für Sie?" (1930). "Gehn wir zu dir oder gehn wir zu mir?" ist auch eine wichtige Frage, weshalb Buben und Mädchen vielleicht auch daran litten, dass Letztere lange nur über spezielle Schulen zur allgemeinen Reife geführt wurden.
Rainer Bölling erzählt die Geschichte des Abiturs kompakt, trocken, vor allem an den Regularien und der Schulorganisation interessiert sowie mit vielen informativen Belegen: zu den Lateinaufsätzen, zum Aufkommen des Prüfungsfachs Geschichte im Nationalsozialismus, zum Fächerspektrum - Sport als Prüfungsfach! - überhaupt. Die Debatten übers Abitur bleiben sich dabei seit seinen Anfängen gleich. Stets geht es um die Unterscheidung von Bildung und Ausbildung, um die Vermutung einer nachlassenden Schwierigkeit der Anforderungen, um die politischen Wünsche nach mehr oder weniger Hochschulzugang, um die Frage nach dem Zentralabitur. Selbst der Streit um acht oder neun Jahre Gymnasium ist nicht neu.
Insofern wird am Abitur auch leiden, wer sich von der Bildungsgeschichte Lernerfolge erhofft. Nein, hier muss alles noch einmal diskutiert werden. Und soll es offenbar auch. Dass nicht einmal Untersuchungen vorliegen, die erlauben würden, die Niveau-Frage zu beantworten, die sich stellt, wenn die Abiturientenquote seit den sechziger Jahren vervierfacht wurde, zeigt, dass man in der Bildungspolitik gar nicht lernen will. Irgendwann wird darum die Situation eintreten, in der das Abiturszeugnis so etwas wie ein Adelstitel ist: etwas, das nicht ausreichen wird, um auf eine Universität zu kommen.
JÜRGEN KAUBE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach bestandenem Abitur werden neben Führerscheinen, Kraftfahrzeugen und Reisen mitunter auch immer noch Bücher verschenkt. Dies hier eignet sich allerdings mehr dazu, vor bestandenem Abitur gelesen zu werden. Denn geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid, und die Geschichte des Abiturs ist naturgemäß eine Leidensgeschichte (Rainer Bölling, "Kleine Geschichte des Abiturs". Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010. 211 S., br., 19,90 [Euro]).
Zuerst litt, ab 1834 in Preußen, der Adel, der - dafür wurde das Abitur schließlich erfunden - nicht mehr ohne Leistungsnachweis einfach so in die Universität hineinreiten konnte. Die Ämter, hieß es schon 1788, sollten nicht mehr mit "seichten und unzweckmäßigen Subjecten" besetzt werden. Dann litten die Prüflinge, zumal unter alten Sprachen. Ganze Aufsätze waren auf Latein zu liefern, und sowohl vom als auch ins Lateinische und Griechische war zu übersetzen. "Wir sollen junge nationale Deutsche erziehen", schimpfte Wilhelm II., "und nicht junge Griechen und Römer." Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen Französisch und die Naturwissenschaft stärker auf. Außerdem litten die Abiturienten an Prüfungen, von denen zwei an jedem Prüfungstag stattfanden.
Und sie dürften auch an manchen Themen für den "deutschen Aufsatz", den es leider als Prüfung allgemeiner Denk- und Mitteilungsfähigkeit seit 1972 nicht mehr gibt, gelitten haben. Gemeint sind Themen - neben viel Schiller, Ibsen, Hauptmann und Kleist - wie diese: "Weshalb hat die Ermordung Caesars nicht die davon erwarteten Folgen gehabt?" (1873); "Welche ästhetischen Empfindungen ruft in uns ein großgewerblicher Betrieb hervor?" (1923); "Kommst du zu mir, kommst du zu dir! Welchen Sinn hat diese Überschrift einer Bücherei für Sie?" (1930). "Gehn wir zu dir oder gehn wir zu mir?" ist auch eine wichtige Frage, weshalb Buben und Mädchen vielleicht auch daran litten, dass Letztere lange nur über spezielle Schulen zur allgemeinen Reife geführt wurden.
Rainer Bölling erzählt die Geschichte des Abiturs kompakt, trocken, vor allem an den Regularien und der Schulorganisation interessiert sowie mit vielen informativen Belegen: zu den Lateinaufsätzen, zum Aufkommen des Prüfungsfachs Geschichte im Nationalsozialismus, zum Fächerspektrum - Sport als Prüfungsfach! - überhaupt. Die Debatten übers Abitur bleiben sich dabei seit seinen Anfängen gleich. Stets geht es um die Unterscheidung von Bildung und Ausbildung, um die Vermutung einer nachlassenden Schwierigkeit der Anforderungen, um die politischen Wünsche nach mehr oder weniger Hochschulzugang, um die Frage nach dem Zentralabitur. Selbst der Streit um acht oder neun Jahre Gymnasium ist nicht neu.
Insofern wird am Abitur auch leiden, wer sich von der Bildungsgeschichte Lernerfolge erhofft. Nein, hier muss alles noch einmal diskutiert werden. Und soll es offenbar auch. Dass nicht einmal Untersuchungen vorliegen, die erlauben würden, die Niveau-Frage zu beantworten, die sich stellt, wenn die Abiturientenquote seit den sechziger Jahren vervierfacht wurde, zeigt, dass man in der Bildungspolitik gar nicht lernen will. Irgendwann wird darum die Situation eintreten, in der das Abiturszeugnis so etwas wie ein Adelstitel ist: etwas, das nicht ausreichen wird, um auf eine Universität zu kommen.
JÜRGEN KAUBE
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dieser historische Abriss über das Abitur, den Autor Rainer Bölling geschrieben hat, bringt Johan Schloemann ins Plaudern. Oder auch "das Abi", wie der Rezensent gern schreibt, wenn er nacherzählt, wann welche Fächer aus der prüfungsordnung genommen wurden und seit wann keine Aufsätze mehr in Latein geschrieben werden müssen. Für ihn summiert sich das, was Bölling zusammengetragen hat, "zu einer bürgerlichen Bildungs- und Mentalitätsgeschichte". Trotzdem ist das Buch seiner Einschätzung nach keineswegs als "Kulturgeschichte" angelegt. Bölling orientiert sich an den Fakten und gibt diese chronologisch wieder. Damit liefert er nach Meinung des Rezensenten allenfalls den "Rahmen" für den jeweiligen mentalitätsgeschichtlichen, politischen und sozialen Subtext, den sich der Leser durch die Lektüre selbst erschließen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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