Die erste Geschichte des Abiturs von den Anfängen bis heute Auch Karl Marx hat Abitur gemacht, 1835. Seine »sittliche Aufführung war gut«. Und Bismarck wäre auf dem Gymnasium fast zum Republikaner geworden. Wie das kam, erfährt man in diesem Buch, und vieles mehr über die Geschichte des Abiturs. Gut und lebendig geschrieben, führt es vom ersten Abiturreglement in Preußen 1788 über die Oberstufenreform der 1970er Jahre bis zu den aktuellen Neuerungen Zentralabitur und G8. Auch der Weg der Mädchen von der »Höheren Töchterschule« bis zum vollwertigen Abitur wird anschaulich nachgezeichnet. Ein ebenso informatives wie amüsantes Buch über die Wandlungen des Zeitgeistes im Spiegel des Abiturs.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2010Bildung des Verstandes und der Phantasie
Fürs Abi 2010 werden gerade die Klausuren geschrieben – ein neues Buch erzählt die Geschichte der Reifeprüfung
Im Reich der Natur ist die Reifezeit im Herbst. Im Reich der höheren Bildung aber ist die Reifezeit im Frühjahr: Es ist gerade wieder Abitur-Saison. Die schriftlichen Prüfungen an den Gymnasien sind in einigen Bundesländern vor kurzem absolviert, in anderen werden sie in dieser Woche geschrieben, und in manchen Bundesländern wird noch gebüffelt, bis die Schüler im Mai oder Anfang Juni ihre Maturität unter Beweis stellen können.
Wenige Ereignisse im Leben werden als so einmalig erfahren wie das eigene Abitur. In einer Anstrengung kulminiert die Schulzeit, mit allem Schönen und allem Verschwitzten, was daran hängt – und dann ist plötzlich alles vorbei. Zur Relativierung des einschneidenden Geschehens jedoch kann nicht nur die Tatsache dienen, dass man die Abiturerfahrung mit immer mehr Menschen teilt, heute mit beinahe der Hälfte eines Jahrgangs. Es hilft auch zu wissen, dass das Abitur eine Geschichte hat. Im Prüfungsstress mag es tröstlich sein zu hören: „Die Abiturienten früherer Generationen mussten in einem kurzen Zeitraum in weit mehr Fächern prüfungsrelevantes Wissen präsent haben als heutige.” Dies und manches andere erfährt man in einem neu erschienenen Buch mit dem Titel „Kleine Geschichte des Abiturs”.
So schreibt man heute nicht mehr mehrere Klausuren am selben Tag. Es wird auch nicht mehr die „freie lateinische Bearbeitung eines dem Examinanden durch den Unterricht hinreichend bekannten Gegenstandes” verlangt – der freie Aufsatz in lateinischer Sprache wurde Ende des 19. Jahrhunderts abgeschafft. Das war die Folge eines Machtwortes des Kaisers. Wilhelm II. fand, dass es im preußisch-neuhumanistischen Gymnasium, wo die Fächer Griechisch und Latein fast die Hälfte aller Unterrichtsstunden einnahmen, an nützlichem Realitätsbezug fehlte und „vor allem an der nationalen Basis”. Der 17-jährige Karl Marx hatte sich 1835 am Gymnasium zu Trier noch mit folgender Abituraufgabe konfrontiert gesehen: „An principatus Augusti merito inter feliciores rei publicae Romanae aetates numeretur”.
Nach dem freien Lateinaufsatz fiel dann auch die Übersetzung eines vorgegebenen Textes aus dem Deutschen ins Lateinische als Abituranforderung weg, 1927 in Preußen, 1935 in Bayern. Solche sogenannten Stilübungen betreibt man heute nur noch an Universitäten. Dafür sah die preußische Reifeprüfungsordnung von 1927 erstmals verbindliche Abiturprüfungen in den Leibesübungen vor – eine Idee, die irgendwo zwischen neuer Körperkultur und Wehrertüchtigung anzusiedeln ist, nach schlechten Fitness-Erfahrungen mit jungen Männern im Ersten Weltkrieg.
Vom Sport als Abi-Pflichtfach wollte man später nichts mehr wissen. Woran das Gymnasium aber lange festhielt, über anderthalb Jahrhunderte bis zur Oberstufenreform von 1972, das war der deutsche Abituraufsatz. Diese Erörterung in der Muttersprache – der teils historische, teils literarische Themen, teils allgemeine Lebensweisheiten vorgegeben wurden – war zentraler Bestandteil der Prüfung, neben den Sprachen und der Mathematik. Der Besinnungsaufsatz war keine Prüfung im „Fach” Deutsch, er war eine allgemeine, fächerübergreifende Anforderung. Eine nicht genügende Leistung im Deutschaufsatz konnte schwer ausgeglichen werden.
Was aber sollte eine gute Leistung im Deutschaufsatz beurkunden? Laut der preußischen Prüfungsordnung von 1834 dies: „die Gesammtbildung des Examinanden, vorzüglich die Bildung des Verstandes und der Phantasie, wie auch den Grad der stilistischen Reife in Hinsicht auf Bestimmtheit und Folgerichtigkeit der Gedanken, so wie die planmäßige Anordnung und Ausführung des Ganzen in einer natürlichen, fehlerfreien, dem Gegenstande angemessenen Schreibart”, zudem „einige Bekanntschaft mit den Hauptepochen der Litteratur seiner Muttersprache”.
Für jeden, der über seine eigenen Fähigkeiten nachdenkt, muss das nach einem geradezu zerknirschend hohen Anspruch klingen. Aber die Ziele sind keine schlechten, und immer wieder wurden sie erreicht. Oft indes erachtete das Gymnasium auch Aufsätze für genügend, die, makellos formuliert, aus vielen hohlen Phrasen zusammengesetzt waren, mit Dichterzitaten aus der Gedächtnisschublade. Doch immerhin: Die Bemühung um übergreifendes Wissen, guten Stil und geordnete Argumentation ist nicht altmodisch, sondern immer zeitgemäß. Was sich natürlich stark wandelt, ob zum Guten oder zum Schlechten, das sind die inhaltlichen Prioritäten. So wären heutige Abiturienten wohl recht ratlos, wenn ihnen für eine fünfstündige Klausur folgende Aufgabe gestellt würde: „Warum weckt das Zeitalter der Staufen unsere besondere Teilnahme?” Aus den Lehrplänen der Oberstufe ist die mittelalterliche Geschichte fast ganz verbannt, so dass die meisten Schüler zurückfrügen: Welche Teilnahme? Und welche Staufen?
Die Stauferfrage wurde 1899 am Friedrichs-Gymnasium im ostwestfälischen Herford gestellt. In einem Anhang des Buches zur Entwicklung des Deutschaufsatzes findet man dieses und weitere Beispiele, einige davon sind oben rechts auf dieser Seite aufgeführt. Trotz individueller Vorlieben der Lehrer (denn von Bayern abgesehen wurden die Aufgaben lange Zeit nicht zentral vom Ministerium gestellt, sondern mussten nur vorab von diesem genehmigt werden) haben die Abiturthemen sich zeittypisch verändert: Im Zuge der mit dem Namen Humboldts verbundenen Schulreform ab 1810, die die Reifeprüfung als ausschließlichen Zugang zum Studium etablierte, im Zuge also von antikebegeistertem Neuhumanismus und Historismus dominierten im 19. Jahrhundert zunächst geschichtliche Themen. Nach der Jahrhundertmitte nahmen literarische Aufgaben zu (bevorzugt Lessing, Schiller, Goethe), im Wilhelminismus wurden patriotische und deutschnationale Themen beliebter. Und im Nationalsozialismus wurden auch offen rassistische Fragen gestellt; allerdings erlaubte es die zur Zeit der Weimarer Republik neu eingeführte Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Themen, auch bei massiver ideologischer Mobilisierung in die Nische literarischer Spezialthemen auszuweichen. Was nicht heißt, dass nicht auch die Literatur nationalistisch gelesen werden konnte.
Frauen wurden in Baden im Jahr 1900 erstmals zum Universitätsstudium zugelassen, in Preußen 1908. Die Koedukation an den Schulen setzte sich nur langsam durch. Ebenfalls zur Jahrhundertwende entschied sich der „Schulkrieg” zwischen Gymnasien und Realgymnasien, indem die drei höheren Schultypen – Gymnasien, Realgymnasien, Lateinlose höhere Schulen – bei der Hochschulberechtigung grundsätzlich gleichgestellt wurden. Der Neuhumanist Friedrich Thiersch hatte noch gewettert, wenn man zu viele „Realien” lehre, dann produziere man mit dem Abitur „wahre Kinder der Zeit, Umwälzungsmenschen, die alles bessern wollen, nur nicht sich selbst”.
Die Geschichte des Abiturs summiert sich somit zu einer bürgerlichen Bildungs- und Mentalitätsgeschichte. Dazu liefert die „kleine Geschichte des Abiturs” allerdings eher den äußeren Rahmen. Der Autor, Rainer Bölling, war jahrzehntelang im höheren Schuldienst in Nordrhein-Westfalen tätig, auch als Didaktiker und Bildungsforscher an der Universität; er hat hier keine Kulturgeschichte des Abiturs vorgelegt, sondern einen nützlichen Abriss der institutionellen und organisatorischen Entwicklung.
Das Buch reicht vom königlichen Edikt über die Reifeprüfung, das in Preußen 1788 erlassen wurde, bis heute. Informiert wird über das preußische Vorbild und die föderalen Differenzen ebenso wie über den historischen Einschnitt der Reform von 1972, mit der das Kurssystem eingeführt und der eigentlichen Abiturprüfung nur noch ein Drittel der Gesamtqualifikation zugewiesen wurde. Die Wahlmöglichkeit, Hauptfächern wie Deutsch, Mathematik und Fremdsprache im Abitur auszuweichen und etwa Geschichte oder Naturwissenschaften in der Oberstufe komplett abzuwählen, wurde seitdem in ganz Deutschland wieder zurückgeschraubt.
Die großen Veränderungen der letzten Jahre sind das Zentralabitur und die Verkürzung auf das „G 8” (wozu auch die Abschaffung der Leistungskurse gehört). Zu beidem bringt der Autor nüchterne Bilanzen: „Die Ansicht, das Zentralabitur sei besonders anspruchsvoll und ein Garant für Qualität, lässt sich empirisch nicht belegen.” Zum G 8 heißt es, die Arbeitsbelastung der Schüler sei, wenn man den Umfang der Hausaufgaben in früherer Zeit mit einrechne, nicht höher als diejenige preußischer Gymnasiasten vor hundert Jahren. Die Verkürzung sei aber „überhastet vorgenommen” worden. Insgesamt, so Bölling, habe trotz aller Post-Pisa-Reformen „eine spürbare Erleichterung der Abiturprüfung stattgefunden”. Im letzten Satz des Buches schreibt der Bildungsforscher: „Die Frage der Zukunft wird sein, ob es gelingt, das Niveau des Abiturs im achtjährigen Gymnasium bei einer politisch gewollten Steigerung der Abiturientenquote zu halten oder gar anzuheben.”
Wie dem nun sei – allen, die unter den gegenwärtigen Bedingungen gerade ihr Abitur schreiben, ist viel Glück zu wünschen. JOHAN SCHLOEMANN
RAINER BÖLLING: Kleine Geschichte des Abiturs. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn/München/Wien/Zürich 2010. 211 Seiten, 19,90 Euro.
In einer besonderen Anstrengung kulminiert die Schulzeit – und dann ist plötzlich alles vorbei
Abitur-Aufgaben
Themen der deutschen Abitur-Aufsätze am Friedrichs-Gymnasium in Herford:
1861 Wie erklärt sich die rasche Verbreitung des Islams im 7. und 8. Jahrhundert?
1868 Heinrich I. und Alfred der Große
1870 Mit welchem Rechte setzt man den Beginn der neueren Zeit in den Anfang des 16. Jahrhunderts?
1873 Weshalb hat die Ermordung Caesars nicht die davon erwarteten Folgen gehabt?
1875 Die Natur, eine Demüthigung und eine Erhebung für den Menschen
1887 Ein harter Boden erzieht sein Volk
1888 Was mag Göthe meinen, wenn er von einer Höflichkeit des Herzens spricht?
1890 Was verstanden die Alten unter einem Helden, was verstehen wir darunter?
1899 Warum weckt das Zeitalter der Staufen unsere besondere Teilnahme?
1907 Welches von den beiden klassischen Völkern habe ich auf dem Gymnasium lieber gewonnen und warum?
1908 Schwert und Feder in ihrer Bedeutung für den Neubau des preußischen Staates in den Jahren 1806-1814
1911 Inwiefern ist Herders Wahlspruch „Licht, Liebe, Leben” der eines jeden tüchtigen Menschen?
Themen der deutschen Abituraufsätze am der Oberrealschule Remscheid:
1923 Welche ästhetischen Empfindungen ruft in uns ein großgewerblicher Betrieb hervor?
1927 Das Virtuosentum in der Musik des 19. Jahrhunderts
1928 Entwicklung und Bedeutung des Rundfunks
1931 An Gerhard Hauptmanns „Die Weber” und Georg Kaisers „Mississippi” soll die Wesensverschiedenheit zweier Kunstrichtungen nachgewiesen werden
1932 Wie leidet unsere Heimatstadt unter der Weltwirtschaftskrise?
1935 Die Bedeutung des Bauerntums im Dritten Reich
1936 Welche Aufgaben hat der zivile Luftschutz?
1940 Hindenburg als Vorbild eines deutschen Mannes
1941 „Philotas”, das Drama Lessings, ist inhaltlich wiederzugeben und der Held zu würdigen
Das obere Bild zeigt die Abiturienten des Steinbart-Gymnasiums in Duisburg im Jahre 1905 (in der oberen Reihe als zweiter von rechts stehend der spätere Admiral Wilhelm Canaris). Das untere Bild zeigt Abiturienten des Humboldt-Gymnasiums in Köln, fotografiert 2006 bei der Feier ihrer bestandenen Reifeprüfung. Fotos: Ullstein, Juergen Christ
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Fürs Abi 2010 werden gerade die Klausuren geschrieben – ein neues Buch erzählt die Geschichte der Reifeprüfung
Im Reich der Natur ist die Reifezeit im Herbst. Im Reich der höheren Bildung aber ist die Reifezeit im Frühjahr: Es ist gerade wieder Abitur-Saison. Die schriftlichen Prüfungen an den Gymnasien sind in einigen Bundesländern vor kurzem absolviert, in anderen werden sie in dieser Woche geschrieben, und in manchen Bundesländern wird noch gebüffelt, bis die Schüler im Mai oder Anfang Juni ihre Maturität unter Beweis stellen können.
Wenige Ereignisse im Leben werden als so einmalig erfahren wie das eigene Abitur. In einer Anstrengung kulminiert die Schulzeit, mit allem Schönen und allem Verschwitzten, was daran hängt – und dann ist plötzlich alles vorbei. Zur Relativierung des einschneidenden Geschehens jedoch kann nicht nur die Tatsache dienen, dass man die Abiturerfahrung mit immer mehr Menschen teilt, heute mit beinahe der Hälfte eines Jahrgangs. Es hilft auch zu wissen, dass das Abitur eine Geschichte hat. Im Prüfungsstress mag es tröstlich sein zu hören: „Die Abiturienten früherer Generationen mussten in einem kurzen Zeitraum in weit mehr Fächern prüfungsrelevantes Wissen präsent haben als heutige.” Dies und manches andere erfährt man in einem neu erschienenen Buch mit dem Titel „Kleine Geschichte des Abiturs”.
So schreibt man heute nicht mehr mehrere Klausuren am selben Tag. Es wird auch nicht mehr die „freie lateinische Bearbeitung eines dem Examinanden durch den Unterricht hinreichend bekannten Gegenstandes” verlangt – der freie Aufsatz in lateinischer Sprache wurde Ende des 19. Jahrhunderts abgeschafft. Das war die Folge eines Machtwortes des Kaisers. Wilhelm II. fand, dass es im preußisch-neuhumanistischen Gymnasium, wo die Fächer Griechisch und Latein fast die Hälfte aller Unterrichtsstunden einnahmen, an nützlichem Realitätsbezug fehlte und „vor allem an der nationalen Basis”. Der 17-jährige Karl Marx hatte sich 1835 am Gymnasium zu Trier noch mit folgender Abituraufgabe konfrontiert gesehen: „An principatus Augusti merito inter feliciores rei publicae Romanae aetates numeretur”.
Nach dem freien Lateinaufsatz fiel dann auch die Übersetzung eines vorgegebenen Textes aus dem Deutschen ins Lateinische als Abituranforderung weg, 1927 in Preußen, 1935 in Bayern. Solche sogenannten Stilübungen betreibt man heute nur noch an Universitäten. Dafür sah die preußische Reifeprüfungsordnung von 1927 erstmals verbindliche Abiturprüfungen in den Leibesübungen vor – eine Idee, die irgendwo zwischen neuer Körperkultur und Wehrertüchtigung anzusiedeln ist, nach schlechten Fitness-Erfahrungen mit jungen Männern im Ersten Weltkrieg.
Vom Sport als Abi-Pflichtfach wollte man später nichts mehr wissen. Woran das Gymnasium aber lange festhielt, über anderthalb Jahrhunderte bis zur Oberstufenreform von 1972, das war der deutsche Abituraufsatz. Diese Erörterung in der Muttersprache – der teils historische, teils literarische Themen, teils allgemeine Lebensweisheiten vorgegeben wurden – war zentraler Bestandteil der Prüfung, neben den Sprachen und der Mathematik. Der Besinnungsaufsatz war keine Prüfung im „Fach” Deutsch, er war eine allgemeine, fächerübergreifende Anforderung. Eine nicht genügende Leistung im Deutschaufsatz konnte schwer ausgeglichen werden.
Was aber sollte eine gute Leistung im Deutschaufsatz beurkunden? Laut der preußischen Prüfungsordnung von 1834 dies: „die Gesammtbildung des Examinanden, vorzüglich die Bildung des Verstandes und der Phantasie, wie auch den Grad der stilistischen Reife in Hinsicht auf Bestimmtheit und Folgerichtigkeit der Gedanken, so wie die planmäßige Anordnung und Ausführung des Ganzen in einer natürlichen, fehlerfreien, dem Gegenstande angemessenen Schreibart”, zudem „einige Bekanntschaft mit den Hauptepochen der Litteratur seiner Muttersprache”.
Für jeden, der über seine eigenen Fähigkeiten nachdenkt, muss das nach einem geradezu zerknirschend hohen Anspruch klingen. Aber die Ziele sind keine schlechten, und immer wieder wurden sie erreicht. Oft indes erachtete das Gymnasium auch Aufsätze für genügend, die, makellos formuliert, aus vielen hohlen Phrasen zusammengesetzt waren, mit Dichterzitaten aus der Gedächtnisschublade. Doch immerhin: Die Bemühung um übergreifendes Wissen, guten Stil und geordnete Argumentation ist nicht altmodisch, sondern immer zeitgemäß. Was sich natürlich stark wandelt, ob zum Guten oder zum Schlechten, das sind die inhaltlichen Prioritäten. So wären heutige Abiturienten wohl recht ratlos, wenn ihnen für eine fünfstündige Klausur folgende Aufgabe gestellt würde: „Warum weckt das Zeitalter der Staufen unsere besondere Teilnahme?” Aus den Lehrplänen der Oberstufe ist die mittelalterliche Geschichte fast ganz verbannt, so dass die meisten Schüler zurückfrügen: Welche Teilnahme? Und welche Staufen?
Die Stauferfrage wurde 1899 am Friedrichs-Gymnasium im ostwestfälischen Herford gestellt. In einem Anhang des Buches zur Entwicklung des Deutschaufsatzes findet man dieses und weitere Beispiele, einige davon sind oben rechts auf dieser Seite aufgeführt. Trotz individueller Vorlieben der Lehrer (denn von Bayern abgesehen wurden die Aufgaben lange Zeit nicht zentral vom Ministerium gestellt, sondern mussten nur vorab von diesem genehmigt werden) haben die Abiturthemen sich zeittypisch verändert: Im Zuge der mit dem Namen Humboldts verbundenen Schulreform ab 1810, die die Reifeprüfung als ausschließlichen Zugang zum Studium etablierte, im Zuge also von antikebegeistertem Neuhumanismus und Historismus dominierten im 19. Jahrhundert zunächst geschichtliche Themen. Nach der Jahrhundertmitte nahmen literarische Aufgaben zu (bevorzugt Lessing, Schiller, Goethe), im Wilhelminismus wurden patriotische und deutschnationale Themen beliebter. Und im Nationalsozialismus wurden auch offen rassistische Fragen gestellt; allerdings erlaubte es die zur Zeit der Weimarer Republik neu eingeführte Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Themen, auch bei massiver ideologischer Mobilisierung in die Nische literarischer Spezialthemen auszuweichen. Was nicht heißt, dass nicht auch die Literatur nationalistisch gelesen werden konnte.
Frauen wurden in Baden im Jahr 1900 erstmals zum Universitätsstudium zugelassen, in Preußen 1908. Die Koedukation an den Schulen setzte sich nur langsam durch. Ebenfalls zur Jahrhundertwende entschied sich der „Schulkrieg” zwischen Gymnasien und Realgymnasien, indem die drei höheren Schultypen – Gymnasien, Realgymnasien, Lateinlose höhere Schulen – bei der Hochschulberechtigung grundsätzlich gleichgestellt wurden. Der Neuhumanist Friedrich Thiersch hatte noch gewettert, wenn man zu viele „Realien” lehre, dann produziere man mit dem Abitur „wahre Kinder der Zeit, Umwälzungsmenschen, die alles bessern wollen, nur nicht sich selbst”.
Die Geschichte des Abiturs summiert sich somit zu einer bürgerlichen Bildungs- und Mentalitätsgeschichte. Dazu liefert die „kleine Geschichte des Abiturs” allerdings eher den äußeren Rahmen. Der Autor, Rainer Bölling, war jahrzehntelang im höheren Schuldienst in Nordrhein-Westfalen tätig, auch als Didaktiker und Bildungsforscher an der Universität; er hat hier keine Kulturgeschichte des Abiturs vorgelegt, sondern einen nützlichen Abriss der institutionellen und organisatorischen Entwicklung.
Das Buch reicht vom königlichen Edikt über die Reifeprüfung, das in Preußen 1788 erlassen wurde, bis heute. Informiert wird über das preußische Vorbild und die föderalen Differenzen ebenso wie über den historischen Einschnitt der Reform von 1972, mit der das Kurssystem eingeführt und der eigentlichen Abiturprüfung nur noch ein Drittel der Gesamtqualifikation zugewiesen wurde. Die Wahlmöglichkeit, Hauptfächern wie Deutsch, Mathematik und Fremdsprache im Abitur auszuweichen und etwa Geschichte oder Naturwissenschaften in der Oberstufe komplett abzuwählen, wurde seitdem in ganz Deutschland wieder zurückgeschraubt.
Die großen Veränderungen der letzten Jahre sind das Zentralabitur und die Verkürzung auf das „G 8” (wozu auch die Abschaffung der Leistungskurse gehört). Zu beidem bringt der Autor nüchterne Bilanzen: „Die Ansicht, das Zentralabitur sei besonders anspruchsvoll und ein Garant für Qualität, lässt sich empirisch nicht belegen.” Zum G 8 heißt es, die Arbeitsbelastung der Schüler sei, wenn man den Umfang der Hausaufgaben in früherer Zeit mit einrechne, nicht höher als diejenige preußischer Gymnasiasten vor hundert Jahren. Die Verkürzung sei aber „überhastet vorgenommen” worden. Insgesamt, so Bölling, habe trotz aller Post-Pisa-Reformen „eine spürbare Erleichterung der Abiturprüfung stattgefunden”. Im letzten Satz des Buches schreibt der Bildungsforscher: „Die Frage der Zukunft wird sein, ob es gelingt, das Niveau des Abiturs im achtjährigen Gymnasium bei einer politisch gewollten Steigerung der Abiturientenquote zu halten oder gar anzuheben.”
Wie dem nun sei – allen, die unter den gegenwärtigen Bedingungen gerade ihr Abitur schreiben, ist viel Glück zu wünschen. JOHAN SCHLOEMANN
RAINER BÖLLING: Kleine Geschichte des Abiturs. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn/München/Wien/Zürich 2010. 211 Seiten, 19,90 Euro.
In einer besonderen Anstrengung kulminiert die Schulzeit – und dann ist plötzlich alles vorbei
Abitur-Aufgaben
Themen der deutschen Abitur-Aufsätze am Friedrichs-Gymnasium in Herford:
1861 Wie erklärt sich die rasche Verbreitung des Islams im 7. und 8. Jahrhundert?
1868 Heinrich I. und Alfred der Große
1870 Mit welchem Rechte setzt man den Beginn der neueren Zeit in den Anfang des 16. Jahrhunderts?
1873 Weshalb hat die Ermordung Caesars nicht die davon erwarteten Folgen gehabt?
1875 Die Natur, eine Demüthigung und eine Erhebung für den Menschen
1887 Ein harter Boden erzieht sein Volk
1888 Was mag Göthe meinen, wenn er von einer Höflichkeit des Herzens spricht?
1890 Was verstanden die Alten unter einem Helden, was verstehen wir darunter?
1899 Warum weckt das Zeitalter der Staufen unsere besondere Teilnahme?
1907 Welches von den beiden klassischen Völkern habe ich auf dem Gymnasium lieber gewonnen und warum?
1908 Schwert und Feder in ihrer Bedeutung für den Neubau des preußischen Staates in den Jahren 1806-1814
1911 Inwiefern ist Herders Wahlspruch „Licht, Liebe, Leben” der eines jeden tüchtigen Menschen?
Themen der deutschen Abituraufsätze am der Oberrealschule Remscheid:
1923 Welche ästhetischen Empfindungen ruft in uns ein großgewerblicher Betrieb hervor?
1927 Das Virtuosentum in der Musik des 19. Jahrhunderts
1928 Entwicklung und Bedeutung des Rundfunks
1931 An Gerhard Hauptmanns „Die Weber” und Georg Kaisers „Mississippi” soll die Wesensverschiedenheit zweier Kunstrichtungen nachgewiesen werden
1932 Wie leidet unsere Heimatstadt unter der Weltwirtschaftskrise?
1935 Die Bedeutung des Bauerntums im Dritten Reich
1936 Welche Aufgaben hat der zivile Luftschutz?
1940 Hindenburg als Vorbild eines deutschen Mannes
1941 „Philotas”, das Drama Lessings, ist inhaltlich wiederzugeben und der Held zu würdigen
Das obere Bild zeigt die Abiturienten des Steinbart-Gymnasiums in Duisburg im Jahre 1905 (in der oberen Reihe als zweiter von rechts stehend der spätere Admiral Wilhelm Canaris). Das untere Bild zeigt Abiturienten des Humboldt-Gymnasiums in Köln, fotografiert 2006 bei der Feier ihrer bestandenen Reifeprüfung. Fotos: Ullstein, Juergen Christ
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2010Die Leidensgeschichte des Abiturs
Nach bestandenem Abitur werden neben Führerscheinen, Kraftfahrzeugen und Reisen mitunter auch immer noch Bücher verschenkt. Dies hier eignet sich allerdings mehr dazu, vor bestandenem Abitur gelesen zu werden. Denn geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid, und die Geschichte des Abiturs ist naturgemäß eine Leidensgeschichte (Rainer Bölling, "Kleine Geschichte des Abiturs". Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010. 211 S., br., 19,90 [Euro]).
Zuerst litt, ab 1834 in Preußen, der Adel, der - dafür wurde das Abitur schließlich erfunden - nicht mehr ohne Leistungsnachweis einfach so in die Universität hineinreiten konnte. Die Ämter, hieß es schon 1788, sollten nicht mehr mit "seichten und unzweckmäßigen Subjecten" besetzt werden. Dann litten die Prüflinge, zumal unter alten Sprachen. Ganze Aufsätze waren auf Latein zu liefern, und sowohl vom als auch ins Lateinische und Griechische war zu übersetzen. "Wir sollen junge nationale Deutsche erziehen", schimpfte Wilhelm II., "und nicht junge Griechen und Römer." Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen Französisch und die Naturwissenschaft stärker auf. Außerdem litten die Abiturienten an Prüfungen, von denen zwei an jedem Prüfungstag stattfanden.
Und sie dürften auch an manchen Themen für den "deutschen Aufsatz", den es leider als Prüfung allgemeiner Denk- und Mitteilungsfähigkeit seit 1972 nicht mehr gibt, gelitten haben. Gemeint sind Themen - neben viel Schiller, Ibsen, Hauptmann und Kleist - wie diese: "Weshalb hat die Ermordung Caesars nicht die davon erwarteten Folgen gehabt?" (1873); "Welche ästhetischen Empfindungen ruft in uns ein großgewerblicher Betrieb hervor?" (1923); "Kommst du zu mir, kommst du zu dir! Welchen Sinn hat diese Überschrift einer Bücherei für Sie?" (1930). "Gehn wir zu dir oder gehn wir zu mir?" ist auch eine wichtige Frage, weshalb Buben und Mädchen vielleicht auch daran litten, dass Letztere lange nur über spezielle Schulen zur allgemeinen Reife geführt wurden.
Rainer Bölling erzählt die Geschichte des Abiturs kompakt, trocken, vor allem an den Regularien und der Schulorganisation interessiert sowie mit vielen informativen Belegen: zu den Lateinaufsätzen, zum Aufkommen des Prüfungsfachs Geschichte im Nationalsozialismus, zum Fächerspektrum - Sport als Prüfungsfach! - überhaupt. Die Debatten übers Abitur bleiben sich dabei seit seinen Anfängen gleich. Stets geht es um die Unterscheidung von Bildung und Ausbildung, um die Vermutung einer nachlassenden Schwierigkeit der Anforderungen, um die politischen Wünsche nach mehr oder weniger Hochschulzugang, um die Frage nach dem Zentralabitur. Selbst der Streit um acht oder neun Jahre Gymnasium ist nicht neu.
Insofern wird am Abitur auch leiden, wer sich von der Bildungsgeschichte Lernerfolge erhofft. Nein, hier muss alles noch einmal diskutiert werden. Und soll es offenbar auch. Dass nicht einmal Untersuchungen vorliegen, die erlauben würden, die Niveau-Frage zu beantworten, die sich stellt, wenn die Abiturientenquote seit den sechziger Jahren vervierfacht wurde, zeigt, dass man in der Bildungspolitik gar nicht lernen will. Irgendwann wird darum die Situation eintreten, in der das Abiturszeugnis so etwas wie ein Adelstitel ist: etwas, das nicht ausreichen wird, um auf eine Universität zu kommen.
JÜRGEN KAUBE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach bestandenem Abitur werden neben Führerscheinen, Kraftfahrzeugen und Reisen mitunter auch immer noch Bücher verschenkt. Dies hier eignet sich allerdings mehr dazu, vor bestandenem Abitur gelesen zu werden. Denn geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid, und die Geschichte des Abiturs ist naturgemäß eine Leidensgeschichte (Rainer Bölling, "Kleine Geschichte des Abiturs". Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010. 211 S., br., 19,90 [Euro]).
Zuerst litt, ab 1834 in Preußen, der Adel, der - dafür wurde das Abitur schließlich erfunden - nicht mehr ohne Leistungsnachweis einfach so in die Universität hineinreiten konnte. Die Ämter, hieß es schon 1788, sollten nicht mehr mit "seichten und unzweckmäßigen Subjecten" besetzt werden. Dann litten die Prüflinge, zumal unter alten Sprachen. Ganze Aufsätze waren auf Latein zu liefern, und sowohl vom als auch ins Lateinische und Griechische war zu übersetzen. "Wir sollen junge nationale Deutsche erziehen", schimpfte Wilhelm II., "und nicht junge Griechen und Römer." Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen Französisch und die Naturwissenschaft stärker auf. Außerdem litten die Abiturienten an Prüfungen, von denen zwei an jedem Prüfungstag stattfanden.
Und sie dürften auch an manchen Themen für den "deutschen Aufsatz", den es leider als Prüfung allgemeiner Denk- und Mitteilungsfähigkeit seit 1972 nicht mehr gibt, gelitten haben. Gemeint sind Themen - neben viel Schiller, Ibsen, Hauptmann und Kleist - wie diese: "Weshalb hat die Ermordung Caesars nicht die davon erwarteten Folgen gehabt?" (1873); "Welche ästhetischen Empfindungen ruft in uns ein großgewerblicher Betrieb hervor?" (1923); "Kommst du zu mir, kommst du zu dir! Welchen Sinn hat diese Überschrift einer Bücherei für Sie?" (1930). "Gehn wir zu dir oder gehn wir zu mir?" ist auch eine wichtige Frage, weshalb Buben und Mädchen vielleicht auch daran litten, dass Letztere lange nur über spezielle Schulen zur allgemeinen Reife geführt wurden.
Rainer Bölling erzählt die Geschichte des Abiturs kompakt, trocken, vor allem an den Regularien und der Schulorganisation interessiert sowie mit vielen informativen Belegen: zu den Lateinaufsätzen, zum Aufkommen des Prüfungsfachs Geschichte im Nationalsozialismus, zum Fächerspektrum - Sport als Prüfungsfach! - überhaupt. Die Debatten übers Abitur bleiben sich dabei seit seinen Anfängen gleich. Stets geht es um die Unterscheidung von Bildung und Ausbildung, um die Vermutung einer nachlassenden Schwierigkeit der Anforderungen, um die politischen Wünsche nach mehr oder weniger Hochschulzugang, um die Frage nach dem Zentralabitur. Selbst der Streit um acht oder neun Jahre Gymnasium ist nicht neu.
Insofern wird am Abitur auch leiden, wer sich von der Bildungsgeschichte Lernerfolge erhofft. Nein, hier muss alles noch einmal diskutiert werden. Und soll es offenbar auch. Dass nicht einmal Untersuchungen vorliegen, die erlauben würden, die Niveau-Frage zu beantworten, die sich stellt, wenn die Abiturientenquote seit den sechziger Jahren vervierfacht wurde, zeigt, dass man in der Bildungspolitik gar nicht lernen will. Irgendwann wird darum die Situation eintreten, in der das Abiturszeugnis so etwas wie ein Adelstitel ist: etwas, das nicht ausreichen wird, um auf eine Universität zu kommen.
JÜRGEN KAUBE
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dieser historische Abriss über das Abitur, den Autor Rainer Bölling geschrieben hat, bringt Johan Schloemann ins Plaudern. Oder auch "das Abi", wie der Rezensent gern schreibt, wenn er nacherzählt, wann welche Fächer aus der prüfungsordnung genommen wurden und seit wann keine Aufsätze mehr in Latein geschrieben werden müssen. Für ihn summiert sich das, was Bölling zusammengetragen hat, "zu einer bürgerlichen Bildungs- und Mentalitätsgeschichte". Trotzdem ist das Buch seiner Einschätzung nach keineswegs als "Kulturgeschichte" angelegt. Bölling orientiert sich an den Fakten und gibt diese chronologisch wieder. Damit liefert er nach Meinung des Rezensenten allenfalls den "Rahmen" für den jeweiligen mentalitätsgeschichtlichen, politischen und sozialen Subtext, den sich der Leser durch die Lektüre selbst erschließen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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