Drei Brüder bei einer Beerdigung, einer von ihnen liegt im Sarg, betrauert von seinen Geschwistern. Aber welcher? Und warum? Nur jeweils ein Jahr sind die Drumm-Brüder William, Brian und Luke auseinander und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. William hat als Filmproduzent Karriere gemacht und glaubt, ihm stehe einfach alles zu, Brian, der mittlere Bruder, Lehrer und Künstleragent betätigt sich als wenig selbstloser Friedensstifter, Luke, psychisch instabiles Nesthäkchen, ist ein international gefeierter, sehr einsamer Popstar. Aber keiner von ihnen ist der, der er zu sein scheint. Vom Tag ihrer Geburt an hat ihre narzisstische, ziemlich abgefeimte Mutter die Brüder darauf abgerichtet, um ihre Aufmerksamkeit zu buhlen. Sie spielen Spielchen, doch im Laufe der Jahre werden diese Spiele - die kleinen Grausamkeiten - immer unheimlicher, gnadenloser und gefährlicher. Toxisch geradezu, denn nur zwei der Brüder werden überleben.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Maria Wiesner ist hellauf begeistert von Liz Nugents Roman, den sie durchaus als Krimi versteht. Was Nugent da zaubert scheint Wiesner nicht nur mit allen Wassern des Whodunit gewaschen, sondern auch mit denen der englischsprachigen Erzählmoderne von Faulkner bis Joyce. Dass Wiesner lange Zeit nicht mal weiß, wer von den drei Brüdern im Text nun im Sarg liegt, wer als Mörder infrage kommt und welche Rolle die Mutter eigentlich in dieser dysfunktionalen Familie spielt, gehört für die Rezensentin ebenso zu den reizvollen Aspekten des Romans wie die munteren Zeitsprünge, Perspektivwechsel, Gedankenströme und die sich ungebremst ansammelnden Details und Handlungsmotive der Figuren. Herrlich, findet Wiesner.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2022Mutters Vorstellungen von Ehe und Treue
Liz Nugent seziert eine dysfunktionale irische Familie aus der Sicht der drei Söhne - von denen einer tot und einer Mörder ist.
Genrekonventionen können findigen Autoren einen Rahmen bieten, der überbordenden Ideen Halt gibt. Die irische Schriftstellerin Liz Nugent ist so eine findige Autorin, und würde auf dem Umschlag ihres Buches "Kleine Grausamkeiten" nicht das Wörtchen "Kriminalroman" stehen, man vergäße glatt beim Lesen, dass es hier eigentlich um einen Mord geht, so klug seziert die Autorin dysfunktionale Familienstrukturen.
Dabei beginnt sie direkt mit einer Beerdigung. Die drei Brüder der Familie Drumm sind anwesend, einer liegt im Sarg, zwei zeigen Trauer. Doch wer tot ist und wer lebt, das gilt es auf den folgenden rund 400 Seiten zu enträtseln.
Nugent ist eine Meisterin von Form und Sprache. In ihrer Einleitung gibt sich ein namenloser Icherzähler als einer der Brüder und potentieller Mordverdächtiger zu erkennen, man findet jedoch kein Anzeichen dafür, um wen es sich handeln könnte. Dann beginnt die Spurensuche in zwei Teilen. Im ersten erzählt jeder Bruder separat seine Erinnerungen in Ichform. Ganz im Gedankenstrom verloren, wechseln Orte und Zeiten, von der Kindheit im irischen Elternhaus, den Bruderkämpfen beim Heranwachsen bis zu Karrierewegen, die schließlich durch Europa und Amerika führen.
William, der Älteste, war der Liebling der Mutter und setzte sich als Filmproduzent durch. Luke, der Jüngste, ist erfolgreicher Popstar, der mit Mitte zwanzig den Zenit des Erfolgs überschritten hat und versucht, mit schwindendem Ruhm und Geld klarzukommen. Und dann ist da noch Brian, der selbst bei den Erzählungen der Geschwister immer irgendwie am Rande steht und gern als Sündenbock verhaftet wird, wie William in Erinnerung an ein grauenhaft eskaliertes Weihnachtsfest erzählt: "Denn bei uns in der Familie, so war das nun mal, musste immer jemand als Zielscheibe des Spotts herhalten, und an diesem Weihnachtsfeiertag war das Brian."
Wann werden diese kleinen Spötteleien und Grausamkeiten zu viel? Was gab den Ausschlag für den Brudermord? Nugent spielt mit dem klassischen "Whodunit"-Konzept, das allein nach dem Täter sucht, und erweitert es um die Frage: Wer liegt eigentlich im Sarg? Die Autorin hat ihr Handwerk bei den großen englischsprachigen Literaten der Moderne und Postmoderne gelernt. Das multiperspektivische Erzählen und das Eintauchen in den Gedankenstrom der Figuren sind dem Werk ihres irischen Landsmannes James Joyce entlehnt.
Aufbau und Form erinnern an William Faulkners Novelle "Als ich im Sterben lag". Auch darin erzählen abwechselnd Geschwister ihre Sicht auf die Familiengeschichte und ergänzen bereits von einer anderen Person Berichtetes um neue Details, stellen so Sichtweisen und Motive für Handlungen infrage. Zudem verbindet eine zweite Idee Nugent mit Faulkner: Die Figur der Mutter stellen beide Autoren in den Mittelpunkt, lassen sie jedoch fast ausschließlich aus der Sicht der Kinder entstehen. Doch im Gegensatz zu Faulkners Mutterfigur, die von romantischen Jungmädchenträumen und deren Scheitern an der harten Realität des Ehe- und Farmlebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts erzählte, ist die Mutter der Drumm-Brüder deutlich komplexer.
Die Erzählungen der drei Söhne kreisen um sie wie Planeten um eine Sonne, die kurz vor der Explosion steht. Am unterschiedlichen Maß von Aufmerksamkeit und Zuneigung der Mutter entzünden sich die Bruderkämpfe, hier liegt die Wurzel für ihre bis ins Erwachsenenalter andauernde Rivalität. Aus der Sicht der drei Söhne entsteht das Bild einer Frau, die als Waise der Dubliner Arbeiterklasse entstammte, sich von der Heirat mit einem sanfteren, älteren Mann finanzielle Absicherung versprach und feststellen musste, dass ihre Vorstellungen von Ehe und Treue nicht denen des Mannes entsprachen.
Je mehr die Söhne von ihren Leben erzählen, desto vielschichtiger wird die Gestalt der Mutter, die mal als süchtig nach Ruhm und Anerkennung, mal als divenhafte Schauspielerin und mal als psychisches Wrack wahrgenommen wird. Immer deutlicher treten auch die Traumata zutage, die diese Frau durchlebte und am Ende an ihre Söhne vererbte. Nugent gelingt es, aufzuzeigen, wie Missbrauch, Manipulation und Misstrauen sich übertragen, wie jeder der drei Söhne auf unterschiedliche Art die Qualen der Mutter verinnerlicht hat und in seinem eigenen Leben weitergibt.
Während der egomanische William die Stärke der Mutter und die Schwäche des Vaters in einem misogynen Frauenbild kompensiert, reagiert der verschlossene Brian mit Rückzug und Unterdrückung seiner Gefühle, und im sensiblen Luke blüht das Trauma der Mutter zur vollen Neurose auf. Besonders in der Erzählung Lukes wird Nugents handwerkliche Brillanz deutlich. Hier ändern sich Ton und Sprachduktus ins Manische, wenn Lukes Psyche die Qualen im Schlaf zu verarbeiten sucht. Dann entwickelt der Junge panische Angst vor einer alten Frau im Wald und träumt von einer Hexe, die seiner Mutter immer ähnlicher sieht.
Die Autorin spielt mit solchen Märchentropen, ruft damit das Repertoire der Literatur über grässliche Frauen ab, schafft es aber, nicht in Klischees zu verfallen, sondern selbst für die ambivalente Mutterfigur Verständnis aufzubringen, indem sie irgendwann die Ursachen für deren Verhalten präsentiert. Außerdem gelingt ihr über die Perspektive der Söhne ein kluger Dreh, um sexuelle Übergriffe und Gewalt zu thematisieren, und wie diese nicht nur Frauen, sondern auch die Männer erschüttern. So handelt "Kleine Grausamkeiten" auch von Machtmissbrauch, von MeToo-Diskussionen und vom Umgang mit sexueller Gewalt.
Während sich dies alles über Zeitsprünge, die mehr als vier Jahrzehnte umfassen, zu einem großen Gesellschaftsbild zusammenfügt, erinnert der zweite Teil des Buches daran, dass auf dem Leineneinband das Wörtchen "Kriminalroman" steht. Wer schuldig, wer unschuldig und wer tot ist, enthüllt der rasante zweite Erzählteil, in dem sich die Brüder immer schneller abwechseln, ergänzen, erklären. Wenn man die Lösung weiß, beginnt man wieder am Anfang zu blättern. MARIA WIESNER
Liz Nugent: "Kleine Grausamkeiten". Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Kathrin Razum.
Steidl Verlag, Göttingen 2021. 400 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Liz Nugent seziert eine dysfunktionale irische Familie aus der Sicht der drei Söhne - von denen einer tot und einer Mörder ist.
Genrekonventionen können findigen Autoren einen Rahmen bieten, der überbordenden Ideen Halt gibt. Die irische Schriftstellerin Liz Nugent ist so eine findige Autorin, und würde auf dem Umschlag ihres Buches "Kleine Grausamkeiten" nicht das Wörtchen "Kriminalroman" stehen, man vergäße glatt beim Lesen, dass es hier eigentlich um einen Mord geht, so klug seziert die Autorin dysfunktionale Familienstrukturen.
Dabei beginnt sie direkt mit einer Beerdigung. Die drei Brüder der Familie Drumm sind anwesend, einer liegt im Sarg, zwei zeigen Trauer. Doch wer tot ist und wer lebt, das gilt es auf den folgenden rund 400 Seiten zu enträtseln.
Nugent ist eine Meisterin von Form und Sprache. In ihrer Einleitung gibt sich ein namenloser Icherzähler als einer der Brüder und potentieller Mordverdächtiger zu erkennen, man findet jedoch kein Anzeichen dafür, um wen es sich handeln könnte. Dann beginnt die Spurensuche in zwei Teilen. Im ersten erzählt jeder Bruder separat seine Erinnerungen in Ichform. Ganz im Gedankenstrom verloren, wechseln Orte und Zeiten, von der Kindheit im irischen Elternhaus, den Bruderkämpfen beim Heranwachsen bis zu Karrierewegen, die schließlich durch Europa und Amerika führen.
William, der Älteste, war der Liebling der Mutter und setzte sich als Filmproduzent durch. Luke, der Jüngste, ist erfolgreicher Popstar, der mit Mitte zwanzig den Zenit des Erfolgs überschritten hat und versucht, mit schwindendem Ruhm und Geld klarzukommen. Und dann ist da noch Brian, der selbst bei den Erzählungen der Geschwister immer irgendwie am Rande steht und gern als Sündenbock verhaftet wird, wie William in Erinnerung an ein grauenhaft eskaliertes Weihnachtsfest erzählt: "Denn bei uns in der Familie, so war das nun mal, musste immer jemand als Zielscheibe des Spotts herhalten, und an diesem Weihnachtsfeiertag war das Brian."
Wann werden diese kleinen Spötteleien und Grausamkeiten zu viel? Was gab den Ausschlag für den Brudermord? Nugent spielt mit dem klassischen "Whodunit"-Konzept, das allein nach dem Täter sucht, und erweitert es um die Frage: Wer liegt eigentlich im Sarg? Die Autorin hat ihr Handwerk bei den großen englischsprachigen Literaten der Moderne und Postmoderne gelernt. Das multiperspektivische Erzählen und das Eintauchen in den Gedankenstrom der Figuren sind dem Werk ihres irischen Landsmannes James Joyce entlehnt.
Aufbau und Form erinnern an William Faulkners Novelle "Als ich im Sterben lag". Auch darin erzählen abwechselnd Geschwister ihre Sicht auf die Familiengeschichte und ergänzen bereits von einer anderen Person Berichtetes um neue Details, stellen so Sichtweisen und Motive für Handlungen infrage. Zudem verbindet eine zweite Idee Nugent mit Faulkner: Die Figur der Mutter stellen beide Autoren in den Mittelpunkt, lassen sie jedoch fast ausschließlich aus der Sicht der Kinder entstehen. Doch im Gegensatz zu Faulkners Mutterfigur, die von romantischen Jungmädchenträumen und deren Scheitern an der harten Realität des Ehe- und Farmlebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts erzählte, ist die Mutter der Drumm-Brüder deutlich komplexer.
Die Erzählungen der drei Söhne kreisen um sie wie Planeten um eine Sonne, die kurz vor der Explosion steht. Am unterschiedlichen Maß von Aufmerksamkeit und Zuneigung der Mutter entzünden sich die Bruderkämpfe, hier liegt die Wurzel für ihre bis ins Erwachsenenalter andauernde Rivalität. Aus der Sicht der drei Söhne entsteht das Bild einer Frau, die als Waise der Dubliner Arbeiterklasse entstammte, sich von der Heirat mit einem sanfteren, älteren Mann finanzielle Absicherung versprach und feststellen musste, dass ihre Vorstellungen von Ehe und Treue nicht denen des Mannes entsprachen.
Je mehr die Söhne von ihren Leben erzählen, desto vielschichtiger wird die Gestalt der Mutter, die mal als süchtig nach Ruhm und Anerkennung, mal als divenhafte Schauspielerin und mal als psychisches Wrack wahrgenommen wird. Immer deutlicher treten auch die Traumata zutage, die diese Frau durchlebte und am Ende an ihre Söhne vererbte. Nugent gelingt es, aufzuzeigen, wie Missbrauch, Manipulation und Misstrauen sich übertragen, wie jeder der drei Söhne auf unterschiedliche Art die Qualen der Mutter verinnerlicht hat und in seinem eigenen Leben weitergibt.
Während der egomanische William die Stärke der Mutter und die Schwäche des Vaters in einem misogynen Frauenbild kompensiert, reagiert der verschlossene Brian mit Rückzug und Unterdrückung seiner Gefühle, und im sensiblen Luke blüht das Trauma der Mutter zur vollen Neurose auf. Besonders in der Erzählung Lukes wird Nugents handwerkliche Brillanz deutlich. Hier ändern sich Ton und Sprachduktus ins Manische, wenn Lukes Psyche die Qualen im Schlaf zu verarbeiten sucht. Dann entwickelt der Junge panische Angst vor einer alten Frau im Wald und träumt von einer Hexe, die seiner Mutter immer ähnlicher sieht.
Die Autorin spielt mit solchen Märchentropen, ruft damit das Repertoire der Literatur über grässliche Frauen ab, schafft es aber, nicht in Klischees zu verfallen, sondern selbst für die ambivalente Mutterfigur Verständnis aufzubringen, indem sie irgendwann die Ursachen für deren Verhalten präsentiert. Außerdem gelingt ihr über die Perspektive der Söhne ein kluger Dreh, um sexuelle Übergriffe und Gewalt zu thematisieren, und wie diese nicht nur Frauen, sondern auch die Männer erschüttern. So handelt "Kleine Grausamkeiten" auch von Machtmissbrauch, von MeToo-Diskussionen und vom Umgang mit sexueller Gewalt.
Während sich dies alles über Zeitsprünge, die mehr als vier Jahrzehnte umfassen, zu einem großen Gesellschaftsbild zusammenfügt, erinnert der zweite Teil des Buches daran, dass auf dem Leineneinband das Wörtchen "Kriminalroman" steht. Wer schuldig, wer unschuldig und wer tot ist, enthüllt der rasante zweite Erzählteil, in dem sich die Brüder immer schneller abwechseln, ergänzen, erklären. Wenn man die Lösung weiß, beginnt man wieder am Anfang zu blättern. MARIA WIESNER
Liz Nugent: "Kleine Grausamkeiten". Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Kathrin Razum.
Steidl Verlag, Göttingen 2021. 400 S., geb., 24,- Euro.
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