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Ein Handbuch zur Literatur in der DDR. Der Autor informiert ausführlich und übersichtlich über Schriftsteller, für deren Biographie die Erfahrung DDR eine Rolle spielt, über ihre Werke und über kulturpolitische Entwicklungen von 1945-1995. Er nimmt die Gründung des Staates nicht als "Nullpunkt", das Datum der deutschen Einheit nicht als Endpunkt.

Produktbeschreibung
Ein Handbuch zur Literatur in der DDR. Der Autor informiert ausführlich und übersichtlich über Schriftsteller, für deren Biographie die Erfahrung DDR eine Rolle spielt, über ihre Werke und über kulturpolitische Entwicklungen von 1945-1995. Er nimmt die Gründung des Staates nicht als "Nullpunkt", das Datum der deutschen Einheit nicht als Endpunkt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.1996

Überbau, östlich der Elbe
Am Ende froh: Wolfgang Emmerichs Geschichte der DDR-Literatur

Ein Buch wie dieses mag manchen denken lassen, daß eine Geschichte der DDR-Literatur im sechsten Jahr nach dem Hinscheiden der DDR nur mit fachbezogenem Eigensinn neu geschrieben werden könne. Der Autor selbst, der Bremer Germanist Wolfgang Emmerich, schildert in seiner Einleitung, wie gründlich im Osten mit der staatlichen Basis der literarische Überbau dahinstarb, während im Westen das Wohlwollen für den Exoten erst politisch-moralischer Distanzierung und dann allgemeinem Desinteresse wich. Daß dem Niedergangsprotokoll eine umfangreiche und detailfreudige Darstellung des Phänomens DDR-Literatur folgt - eine Gelehrtengrille? Doch wohl nicht. Denn die rund fünfundvierzig Jahre sind Teil des allgemeinen deutschen Nationalschicksals gewesen.

Die Leute vom Fach finden bei Emmerich eine umfassende Werkegeschichte samt Sprach- und Stilanalysen und ideengeschichtlichen Ableitungen. Aber Emmerich ist zu bodenständig, um es dabei zu belassen. Er ordnet die DDR-Literatur in ihr zeitgeschichtliches Geflecht, schildert und untersucht Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen, Menschen in ihrer Fügsamkeit bis hin zum Kotau vor der Staatssicherheit oder im Aufbegehren mit dem Risiko der Verfolgung. Der Wissenschaftler Emmerich besitzt ein zuverlässiges Gespür für die Wirklichkeit, aus der die Objekte seiner Untersuchung stammen, was vielleicht damit zusammenhängt, daß er siebzehn DDR-Jahre durchlebte.

Da am Entstehungsort der DDR-Literatur ein staatlicher Kanon jede öffentliche Äußerung vorschrieb und die Staatsgewalt Abweichungen ahndete, folgten Politik- und Literaturgeschichte demselben Ordnungssystem. Emmerichs Blick fällt zuerst auf jene Phase zwischen Kriegsende 1945 und Gründung der DDR 1949, die im Vokabular der SED als "antifaschistisch-demokratische Erneuerung" figurierte. Damals sammelte Ulbrichts Poeta laureatus, Johannes R. Becher, möglichst viele namhafte Schriftsteller des äußeren wie des inneren Exils in Ost-Berlin, Persönlichkeiten wie etwa Anna Seghers, Arnold Zweig, Ricarda Huch, Bernhard Kellermann, Bertolt Brecht. Doch während die großen Alten noch für die Einheit zu wirken glaubten, annoncierte die nächste politische Etappe schon die kommende Spaltung: Der junge Staat DDR wurde umfassend sowjetisiert, über den Kunstbereich brach der "Kampf gegen den Formalismus" herein. "Formalistisch" war alles, was von der jeweiligen Parteilinie nicht verwertet werden konnte. Das verbindliche Schaffensprinzip hieß fortan "Sozialistischer Realismus".

Auf den Juni-Aufstand von 1953 hatte, von Stefan Heym und Stephan Hermlin abgesehen, kaum jemand reagiert. Auf Chruschtschows Entstalinisierung 1956 und die danach folgenden Revolten in Polen und Ungarn antwortete eine ganze Bewegung junger Lyriker, und die DDR-Intelligenz grübelte, wie bei grundsätzlicher Treue zum Sozialismus die Gesellschaft menschenwürdiger zu gestalten sei. Ihre Wortführer - Erich Loest, Wolfgang Harich, Walter Janka und andere - büßten dafür im Zuchthaus. In diesem Zusammenhang verblüfft immer wieder, daß viele der Gemaßregelten aus ihren Erfahrungen mit dem Sozialismus nicht schlossen, sie seien einer Schimäre aufgesessen, sondern darauf beharrten, eine gute Idee sei schlecht realisiert worden. Dieses Phänomen läßt sich in allen DDR-Jahrzehnten nachweisen. Emmerich verfolgt seine Manifestationen bis hin zur Nach-Wende-Kundgebung vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz - und darüber hinaus.

Im Jahr 1959 verordnete Ulbricht in Bitterfeld neue Traumrezepte: Schriftsteller in die Betriebe, Arbeiter dagegen an den Schreibtisch. Während dieses Drillprogramm ablief, wurde in Berlin die Mauer gebaut. Scheinbar geborgen in ihrem Schatten, glaubten manche Schriftsteller, sich nun mit ihrem Staat auseinandersetzen zu dürfen. Am Rande des "Bitterfelder Weges" erblühte eine prinzipiell loyale, im einzelnen aber kritische Literatur, darunter Erwin Strittmatters "Ole Bienkopp", Christa Wolfs "Der geteilte Himmel", Erik Neutschs "Spur der Steine". Aber schon im Dezember 1965, auf dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED, wurden Bücher sowie Film- und Theaterwerke der Neutöner vermessert und verdammt.

Bis dahin hatte es Literatur in der DDR gegeben. Nach dem Autodafé von 1965 jedoch - Emmerich widmet diesem Paradox gehörigen Raum - bildete sich erstmals eine spezielle, autochthone DDR-Literatur außerhalb der allgemeinen Ostblock-Usancen heraus. Zu ihren Vertretern wurden Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Günter Kunert; Wolf Biermann, Karl Mickel; Volker Braun, Heiner Müller; Christa Wolf, Stefan Heym, Erwin Strittmatter; Hans Joachim Schädlich, Günter de Bruyn. Parallel dazu registriert Emmerich eine "Ankunft" der Dichter nicht mehr, wie gehabt, im "sozialistischen Alltag", sondern in der Realität eigener Ideen und Bedürfnisse. Er führt das auf eine Kurswendung aus dem Jahr 1964 zurück. Damals, auf der zweiten Bitterfelder Konferenz, forderte Ulbricht von den Schriftstellern, fortan als Planer und Leiter zu wirken. Zugrunde lag dieser Weisung eine wirtschaftspolitische Umorientierung, das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung, kurz NÖSPL genannt, später NÖS. Es zielte darauf, die Wirtschaft künftig mehr mit ökonomischen Hebeln zu steuern und weniger administrativ vorzugehen - ein Versuch, Anschluß an das wirtschaftliche Weltniveau zu finden. NÖSPL rückte zum ersten Mal das technisch Machbare als erstrebenswerte Größe in den Gesichtskreis auch der Schriftsteller.

Und hielt es darin fest, meint Emmerich, der von nun an jede Distanz zur Ideologie von jenem System herleitet. Aber kann man das so generell? Der Schwung des NÖSPL nämlich wurde schnell wieder abgebremst. Moskau interpretierte das Programm, das verstärkten Austausch mit dem Westen angestrebt hatte, als einen Versuch, die sowjetische Handelsvormacht zurückzustutzen. Es gab nie einen offiziellen Widerruf, doch Ulbricht gehorchte dem großen Bruder. Es fällt schwer, zu denken, daß der Vorstoß ins Leere langwährende kulturpolitische Leitlinien gezeitigt haben soll. Wohl aber ist es möglich, daß die Schriftsteller das einmal Erfahrene auf eigene Faust weiter anwandten. Das würde zu den vielen Zeugnissen wachsenden Selbstbewußtseins passen, vor allem zum Aufbegehren gegen die Ausweisung Biermanns 1976 und gegen den Hinauswurf von neun Kollegen aus dem Schriftstellerverband 1979.

Der Rest der DDR-Zeit war geprägt vom großen Exodus der Berühmten und von der Staatsferne des noch unberühmten Nachwuchses. Emmerich porträtiert detailliert den Zerfall des Staates im Abbild der Literaturszene, inklusive eines informativen Rundblicks über den Sonderbereich Prenzlauer Berg. Und schließlich führt er uns über die Zeitgrenzen der DDR hinaus in die Gegenwart, in der die östlich der Elbe wohnenden Schriftsteller ihren aus besonderer Erfahrung gespeisten Beitrag zur deutschsprachigen Literatur leisten, ohne durch einschränkende Buchstabenkombinationen gesondert werden zu müssen. Nach der streckenweise beklemmenden Besichtigung deutscher Schriftstellerei ist das ein ermutigendes Ende. SABINE BRANDT

Wolfgang Emmerich: "Kleine Literaturgeschichte der DDR". Erweiterte Neuausgabe. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1996. 640 S., br., 45,- DM.

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