Mehr als dreißig Jahre haben Hanno Holtz und Susanne Dreyer sich nicht gesehen, obwohl sie direkt nebeneinander aufgewachsen sind. Nun ist Hanno in die Kleinstadt seiner Kindheit zurückgekehrt und kümmert sich nach dem Tod seiner Mutter um den Vater. Unsicher streift er durch die kleine Welt, aus der er als Jugendlicher vor Jahrzehnten ausgebrochen ist. Susanne sieht ihm dabei zu. Sie hat ihr Elternhaus und besonders den Platz am Fenster im Obergeschoss mit Blick auf das Haus der Familie Holtz nie verlassen. Als sie sich entschließt, Hanno ihre Hilfe anzubieten, wird die Ruhe des Ortes gestört. Denn plötzlich treffen alte Erinnerungen aufeinander, in deren verschleiertem Zentrum eine Geburtstagsfeier im Sommer 1986 steht. Niemand ist davon unversehrt geblieben und niemand kann den Blick abwenden, als nach fast dreißig Jahren nun Licht durch die Risse der kleinen Paläste dringt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jan Wiele kann sich die Geschichte über alte, verlogene Träume und einen Neuanfang, über verborgene Traumata und Abgründe, wie sie Andreas Moster in seinem Roman anhand einer bundesrepublikanischen Familie erzählt, auch in England oder anderswo vorstellen. Unheimlich scheint ihm die Stimmung im Text, der kriminalistisch auf eine Entdeckung hinausläuft. Das liegt laut Rezensent nicht zuletzt an der Erzählerin, die aus dem Jenseits heraus retrospektiv berichtet, erklärt Wiele.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2021Unterm Hammer
Unheimelig: Andreas Mosters "Kleine Paläste"
Ab und zu muss man aufräumen in seinem Leben: Der ganze alte Schrott muss raus, wie es in dem Motivations-Schlager "Bring den Vorschlaghammer mit" von Element of Crime heißt. Er könnte auch das Motto für Andreas Mosters Roman "Kleine Paläste" liefern. In einer Schlüsselszene entschließt sich eine Frau namens Sylvia darin, das Haus zu entkernen, das ihre Schwiegereltern in den sechziger Jahren gebaut haben. Nun ist 1986, und die Maxime lautet: Nur die tragenden Wände dürfen bleiben, auch wenn Sylvia den schweren Hammer zunächst kaum über Schulterhöhe heben kann. Dann aber geht es los: "Es war, als schlüge sie die ganze Zeit weg. Helga weg, Carl senior weg, die Geringschätzung weg, das Kleinmachen, Mundhalten, Kopfeinziehen, weg, weg, weg. Fast zehn Jahre hatte sie so gelebt. Geduldet im Obergeschoss, in einem Bett aus der Weimarer Republik, zwischen Helgas Galafigürchen im Regal und einem Kreuz über der Tür."
Nun aber heißt es euphorisch: "Nicht Renovierung: Metamorphose, Transformation"! Also weicht das dunkle Nussbaumholz, der Couchtisch mit Kurbel, der Setzkasten - und damit eine vielleicht stereotype, aber eben auch wirklich typische deutsche Inneneinrichtung diesem Hammer, die in ihrer Massivität für die Ewigkeit gemacht schien und doch kaum dreißig Jahre überdauert hat.
Das eindrückliche Bild kann man auch auf die Menschen in diesem Roman, auf ihre Interieurs und Beziehungen übertragen. Die Zeit des Vorschlaghammers ist eine Rückblende, in der Erzählgegenwart von 2018 ist Sylvia bereits verunglückt und Carl ein Pflegefall, den zu übernehmen sein Sohn Hanno zurückkehrt in die Provinz. Das heißt auch, dass er seine Nachbarin Susanne wiedertrifft, die er jahrzehntelang nicht gesehen hat und in die er offenbar als Jugendlicher verliebt war.
Wird also mit großer Verspätung hier für zwei alles gut, die sich früher nur verpasst haben? Susanne hilft nun Hanno, sich um den Vater zu kümmern, sie "spielen Familie", heißt es einmal, und dass mit ihr wieder Ordnung einkehre - aber bald wird immer deutlicher, dass etwas nicht stimmt. Es schlummert noch etwas anderes aus dem Vorschlaghammerjahr 1986 unter der Decke des Alltags von 2018, etwas, das zum Beispiel dazu führt, dass Susanne Carl beim Rasieren schneidet, wohl unbeabsichtigt.
In teils kriminalistischer Manier kreist der Roman dann langsam jenen Vorfall von früher ein, der, wie sich herausstellt, Susannes und Hannos Leben schicksalhaft verändert hat. Andreas Moster gelingt es, die Kluft zwischen der Verantwortung für den hilflosen Carl und einer schweren Schuld, die dieser damals auf sich genommen hat, schmerzhaft auszuloten, bis der Leser vollends begreift, wie ausgerechnet bei der Einweihungsfeier des neuen, freieren Lebens der Eltern das ihrer Kinder für immer geprägt und eingehegt wurde. Es beginnt mit einem Kleid, das Susanne damals trug, das sie seither nie wieder getragen hat, und läuft dann auf die Frage des Sohnes an seinen Vater zu: "Was wollte Susanne damals nicht?"
Die Ästhetik, mit der Moster sich dem Trauma nähert, erinnert an das Konzept "BRD noir", das vor einigen Jahren in der Soziologie und im Journalismus eine gewisse Konjunktur erlebte, der Vorstellung also, dass sich hinter den Fassaden der scheinbar gefestigten, scheinbar heimeligen Bundesrepublik Abgründe auftun. Solche wie in Mosters Roman sind allerdings wohl in jedem Land und zu jeder Zeit denkbar, auch wenn sie sich hier mit den ästhetischen, besonders den (innen-)architektonischen Gegebenheiten verbinden.
Sie zu entlarven, wendet Moster auch noch den erzählerischen Kniff an, eine bereits verstorbene Figur über die anderen sprechen zu lassen, sie und das Geschehen aus dem Geister-Off kommentierend. Das trägt zur unheimlichen Atmosphäre des Romans bei, der nicht zuletzt durch seinen Titel noch an ein anderes Lied erinnert: Elvis Costellos "Little Palaces". Der beschrieb seinerzeit, ebenfalls 1986, die "sedated homes of England", "filled with plasterboard and hope" - und drückte also auch die Kulissenhaftigkeit falscher Hoffnungen aus, über denen schon die unheilvolle Zeile "And they'll soon be pulling down the little palaces" schwebte: Bald schon werden sie die kleinen Paläste abreißen. Für die Figur der Susanne, die das alles am meisten betrifft, stellt der Roman neben dem Abbruch zumindest die Perspektive eines Ausbruchs bereit: an den Atlantik, wo sie, zwischen Wind und Wasser, länger laufen wird als jemals in ihrem Leben. JAN WIELE
Andreas Moster: "Kleine Paläste". Roman.
Arche Verlag, Zürich 2021. 302 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unheimelig: Andreas Mosters "Kleine Paläste"
Ab und zu muss man aufräumen in seinem Leben: Der ganze alte Schrott muss raus, wie es in dem Motivations-Schlager "Bring den Vorschlaghammer mit" von Element of Crime heißt. Er könnte auch das Motto für Andreas Mosters Roman "Kleine Paläste" liefern. In einer Schlüsselszene entschließt sich eine Frau namens Sylvia darin, das Haus zu entkernen, das ihre Schwiegereltern in den sechziger Jahren gebaut haben. Nun ist 1986, und die Maxime lautet: Nur die tragenden Wände dürfen bleiben, auch wenn Sylvia den schweren Hammer zunächst kaum über Schulterhöhe heben kann. Dann aber geht es los: "Es war, als schlüge sie die ganze Zeit weg. Helga weg, Carl senior weg, die Geringschätzung weg, das Kleinmachen, Mundhalten, Kopfeinziehen, weg, weg, weg. Fast zehn Jahre hatte sie so gelebt. Geduldet im Obergeschoss, in einem Bett aus der Weimarer Republik, zwischen Helgas Galafigürchen im Regal und einem Kreuz über der Tür."
Nun aber heißt es euphorisch: "Nicht Renovierung: Metamorphose, Transformation"! Also weicht das dunkle Nussbaumholz, der Couchtisch mit Kurbel, der Setzkasten - und damit eine vielleicht stereotype, aber eben auch wirklich typische deutsche Inneneinrichtung diesem Hammer, die in ihrer Massivität für die Ewigkeit gemacht schien und doch kaum dreißig Jahre überdauert hat.
Das eindrückliche Bild kann man auch auf die Menschen in diesem Roman, auf ihre Interieurs und Beziehungen übertragen. Die Zeit des Vorschlaghammers ist eine Rückblende, in der Erzählgegenwart von 2018 ist Sylvia bereits verunglückt und Carl ein Pflegefall, den zu übernehmen sein Sohn Hanno zurückkehrt in die Provinz. Das heißt auch, dass er seine Nachbarin Susanne wiedertrifft, die er jahrzehntelang nicht gesehen hat und in die er offenbar als Jugendlicher verliebt war.
Wird also mit großer Verspätung hier für zwei alles gut, die sich früher nur verpasst haben? Susanne hilft nun Hanno, sich um den Vater zu kümmern, sie "spielen Familie", heißt es einmal, und dass mit ihr wieder Ordnung einkehre - aber bald wird immer deutlicher, dass etwas nicht stimmt. Es schlummert noch etwas anderes aus dem Vorschlaghammerjahr 1986 unter der Decke des Alltags von 2018, etwas, das zum Beispiel dazu führt, dass Susanne Carl beim Rasieren schneidet, wohl unbeabsichtigt.
In teils kriminalistischer Manier kreist der Roman dann langsam jenen Vorfall von früher ein, der, wie sich herausstellt, Susannes und Hannos Leben schicksalhaft verändert hat. Andreas Moster gelingt es, die Kluft zwischen der Verantwortung für den hilflosen Carl und einer schweren Schuld, die dieser damals auf sich genommen hat, schmerzhaft auszuloten, bis der Leser vollends begreift, wie ausgerechnet bei der Einweihungsfeier des neuen, freieren Lebens der Eltern das ihrer Kinder für immer geprägt und eingehegt wurde. Es beginnt mit einem Kleid, das Susanne damals trug, das sie seither nie wieder getragen hat, und läuft dann auf die Frage des Sohnes an seinen Vater zu: "Was wollte Susanne damals nicht?"
Die Ästhetik, mit der Moster sich dem Trauma nähert, erinnert an das Konzept "BRD noir", das vor einigen Jahren in der Soziologie und im Journalismus eine gewisse Konjunktur erlebte, der Vorstellung also, dass sich hinter den Fassaden der scheinbar gefestigten, scheinbar heimeligen Bundesrepublik Abgründe auftun. Solche wie in Mosters Roman sind allerdings wohl in jedem Land und zu jeder Zeit denkbar, auch wenn sie sich hier mit den ästhetischen, besonders den (innen-)architektonischen Gegebenheiten verbinden.
Sie zu entlarven, wendet Moster auch noch den erzählerischen Kniff an, eine bereits verstorbene Figur über die anderen sprechen zu lassen, sie und das Geschehen aus dem Geister-Off kommentierend. Das trägt zur unheimlichen Atmosphäre des Romans bei, der nicht zuletzt durch seinen Titel noch an ein anderes Lied erinnert: Elvis Costellos "Little Palaces". Der beschrieb seinerzeit, ebenfalls 1986, die "sedated homes of England", "filled with plasterboard and hope" - und drückte also auch die Kulissenhaftigkeit falscher Hoffnungen aus, über denen schon die unheilvolle Zeile "And they'll soon be pulling down the little palaces" schwebte: Bald schon werden sie die kleinen Paläste abreißen. Für die Figur der Susanne, die das alles am meisten betrifft, stellt der Roman neben dem Abbruch zumindest die Perspektive eines Ausbruchs bereit: an den Atlantik, wo sie, zwischen Wind und Wasser, länger laufen wird als jemals in ihrem Leben. JAN WIELE
Andreas Moster: "Kleine Paläste". Roman.
Arche Verlag, Zürich 2021. 302 S., geb., 22,- Euro.
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Andreas Moster beweist, was für ein gewitzter Erzähler er ist: virtuos, klug und zutiefst menschlich. Mareike Fallwickl