Produktdetails
  • Verlag: Insel Verlag
  • Seitenzahl: 188
  • Deutsch
  • Abmessung: 23mm x 133mm x 220mm
  • Gewicht: 370g
  • ISBN-13: 9783458171096
  • ISBN-10: 3458171096
  • Artikelnr.: 10285728
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2002

Werdet erwachsen, Romantiker!

Haben Sie heute schon Sinn gestiftet? Dem Ganzen des Seins ein Licht aufgesteckt, dessen weithin strahlendes Leuchten Zusammenschau und Orientierung ermöglicht? Oder haben Sie sich doch nur wieder in Arbeit und Ablenkung verströmt, sich an die Dinge der Welt und die Welt der Dinge vergessen, an immer neue und interessante Sachen, Einfälle, Menschen? Das wäre schlecht. Denn dann droht Ihnen der geistige Schnupfen, mit dem wir halt- und weglosen Kontingenzbewältiger immer wieder zu kämpfen haben: das Gefühl der Leere in der ausweglosen Fülle, eine plötzliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Überangebot der Welt. Also, nach einer soeben vorgelegten Diagnose, die Langeweile (Lars Fr. H. Svendsen: "Kleine Philosophie der Langeweile". Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2002. 189 S., geb., 16,90 ). "Langeweile bedeutet Sinnverlust", lautet bündig die These des Autors, der man nicht vorwerfen kann, mit dem frivolen Reiz des Neuen zu blenden. Endlos haben Philosophen, Dichter und Literaturwissenschaftler es uns ja vorgebetet: In der religiösen, durch Gott verbürgten Ordnung erfuhr der Mensch die Welt noch als ein sinnüberwölbtes Ganzes. Mit der Aufklärung aber wurde das Individuum auf sich gestellt, um dann erschrocken festzustellen, daß ihm die Vision eines größeren, über die Daseinsbewältigung hinausreichenden Lebenszusammenhangs immer noch unentbehrlich war - nur daß es diese Vision nunmehr aus sich selbst schöpfen mußte. Glaube nur an den Sinnzusammenhang, den du selber gestiftet hast: Die Romantik hat vorgeführt, daß auf diese Weise kein sicherer Grund unter die Füße zu bekommen ist. Seitdem, so führt Svendsens Essay aus, häufen sich die Thematisierungen der Langeweile in Literatur und Philosophie. Nichtig erscheinen nun immer wieder die weltlichen Passionen, in die das Individuum verstrickt ist, und mit Byrons Don Juan läßt sich konstatieren: "There's nothing left but to be bored or bore." In der tiefen Langeweile ergreifen wir keine Initiative mehr, weil alle zur Wahl stehenden Möglichkeiten gleich bedeutend erscheinen und damit gleich unbedeutend, so daß das Gefühl der Leere die Kategorien des Wählens und der Initiative selbst erfaßt. Nicht nur die Welt entleert sich, auch das Ich. "Die Seele schrumpft zusammen wie eine Zwetschge", heißt es in Tiecks klassischem und leider "furchtbar langweiligem" Langeweile-Roman "William Lovell". Svendsens Stippvisiten bei philosophischen Behandlungen der Langeweile von Pascal bis Nietzsche und Heidegger machen wenig Hoffnung auf Besserung. Daß uns weder Pascals Gott noch Nietzsches übermenschliche Daseinsbejahung zu Gebote stehen, ist ja gerade die Grunderfahrung des mit der Sinnstiftung überforderten modernen Menschen. In der Langeweile, wie sie in zeitgenössischen Romanen und Filmen begegnet, in Bret Easton Ellis' "American Psycho" und David Cronenbergs Film "Crash", findet der Autor in der Logik der permanenten Überschreitung allenthalben das romantische Sinnstreben wieder. Ob Beckett oder Andy Warhol, stets geht es um Sinn, Sinn, Sinn, und stets ist er unmöglich. Gerade macht sich die Seele des Lesers resigniert daran, wie eine Zwetschge zu schrumpfen, als Svendsen einen neuen Lichtstrahl auf die Szenerie fallen läßt: Betrauern wir nicht eigentlich, wenn wir am metaphysischen Sinnverlust leiden, eine verlorene Kindheit, jene gleichfalls in der Epoche der Romantik zum Ideal erhobene magische Zeit der frühen, freien, spielerischen Weltaneignung? Dann hieße die Moral der Langeweile, endlich aus der "ewigen Pubertät" dieser unerfüllbaren Sehnsucht herauszutreten, vollends erwachsen zu werden und die Langeweile als ein zwar unlösbares, aber auch nicht so dramatisches Problem zu akzeptieren. So abrupt tritt diese Überlegung auf, daß man fast meinen möchte, dem Verfasser sei selbst etwas langweilig geworden mit seiner Ausgangsthese. Doch ist für Svendsen die Langeweile auch positiv aufzufassen, als eine Art Schonraum, eine von festgefahrenen Wertungen freie Stimmung, in der frische Ideen heranwachsen, in der sich Windwechsel vorbereiten können. Am Ende gewinnt sein Buch einigen Charme aus seinen zwei Gesichtern: Es wirkt wie das letzte, das die selbstkritische Großerzählung der Moderne vom dramatischen Verlust des Sinnganzen noch ernst nimmt, und wie das erste, das ihr probehalber einmal den Rücken kehrt.

MICHAEL ADRIAN

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Cornelia Vismann hat vor allem die "leichthändige" Art gefallen, mit der der Autor seine Thesen darlegt. Lars Svendsen macht "individuelle Angst" zum Ausgangspunkt seiner Reflexionen und beruft sich dabei auf Heidegger, teilt die Rezensentin mit. Doch er beziehe auch Hollywoodfilme und Erzählungen der Romantik in seine Überlegungen ein. Nicht nur lobt Vismann den Autor als belesen, sie freut sich zudem, dass er so gar nicht prinzipienreiterisch daherkommt.

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