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Vögel haben zwei Eigenschaften, die jeden halbwegs sensiblen Menschen bewegen müssen: Sie können fliegen und viele auch noch wunderbar singen. Conradis Leidenschaft, Vögel zu beobachten, verführt ihn zu bestechend genauen Erkundungen, die auch den Leser beflügeln.

Produktbeschreibung
Vögel haben zwei Eigenschaften, die jeden halbwegs sensiblen Menschen bewegen müssen: Sie können fliegen und viele auch noch wunderbar singen. Conradis Leidenschaft, Vögel zu beobachten, verführt ihn zu bestechend genauen Erkundungen, die auch den Leser beflügeln.

Autorenporträt
Arnulf Conradi, geboren in Kiel, an der Ostsee zum "Birdwatcher" erzogen, ist Verleger in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2000

Wenn die Vogelmenschen kommen, denkt das Publikum beklommen
Tierisches in eigener Sache: Vom Streit zwischen Spötter und Kuckuck um Gesang und Nestwärme kann auch der Dichter etwas lernen

Wer in Zungen redet, steht, sofern er Dichter und nicht Apostel ist, unter Rechtfertigungsdruck. Seit die Stürmer und Dränger im achtzehnten Jahrhundert das Originalgenie auf den Schild hoben, verlangen Kritik und Leserschaft bereits vom dichtenden Anfänger die unverwechselbare Stimme. Was wäre solchen Forderungen entgegenzuhalten? Vielleicht dies hier: ein vielfach abgetönter Blütenstrauß aus Feld, Wald und Buch, richtiger: aus Natur, Naturkunde und Literatur zum Thema "Die Spötter und der Kuckuck".

"Der Spötter" - wir zitieren Hermann Pauls "Deutsches Wörterbuch" - wird auch "Spottvogel" genannt, und das ist einer, "der andere Tierlaute nachahmen kann". Als Beleg wird eine Textstelle von Sebastian Brant aus dem Jahr 1494 angeführt: "der häher eyn spottvogel ist." Ausgerechnet der Häher? Seiner rätschenden Warnschreie wegen hat ihn der Volksmund zum "Polizisten des Waldes" ernannt, und sein Tatütata hat wenig mit dem zu tun, was den wahren Spötter ausmacht. Der nämlich ist laut "Brockhaus Enzyklopädie" eine "den Grasmücken zugeordnete Gattung kleiner Singvögel in sechs Arten", und die Fähigkeit, welcher sie ihren Namen verdanken, ist das "Spotten, ornithol. Bezeichnung für die völlige oder teilweise Übernahme artfremder Gesangs- oder Lautmotive aus der Umwelt durch die Vögel . . . Spotten kann im extremen Fall zum Nachsprechen von Sätzen des Menschen führen."

Bleiben wir beim Normalfall. Normalerweise singen Vögel. Warum? Hören wir das "Handbuch für Feldornithologie": "Die Strukturen des angeborenen Gesangs sind ein Isolierungsmechanismus zwischen verwandten Arten, die in demselben Lebensraum vorkommen. Die Nachkommen erwerben die Anlagen ihrer artspezifischen Gesangsform. Sie kann durch Lernen von Gesangselementen der eigenen Art vervollkommnet werden, oder die Bestandteile anderer, artfremder Gesänge werden hinzugefügt."

Nicht alle Sänger sind also Spötter, aber alle "Spötter" sind begnadete Sänger. Hans Wilhelm Smolik kann in dem von ihm verfassten "rororo-Tierlexikon" nicht vom Spötter reden, ohne zugleich einen weiteren Vogel zu nennen. Zum Stichwort "Gelbspötter, Orpheusspötter" sagt er: "hier drängt es mich, auf die wundersame Paarung des eindeutigen Urbilds aller Dichter und Sänger, Orpheus, mit dem so zweideutigen Begriff ,Spötter' hinzuweisen: Was will uns unsere Sprache damit nun schon wieder sagen? Aber weiter im Text!" "Baumbewohner und Sommervögel" seien die Orpheusspötter, schreibt Smolik, und er fährt fort: "Ihr Vermögen, andere Vogellieder nachzuahmen und mit eigenen zu verknüpfen, gab ihnen den endgültigen Namen. (Ähnlichkeit mit dem Gesang der Rohrsänger.) Doch sind ihre Lieder zweifellos wohltönender und abwechslungsreicher, obwohl sie von einigen Spöttern etwas leiernd vorgetragen werden."

Smolik hat sich als Vogelgesangskritiker geoutet, der dem Orpheusspötter die Palme reicht und den Rohrsänger ins zweite Glied verweist. Eine Meinung, in welche beileibe nicht alle Vogelkenner mit einstimmen: "Sein Gesang besteht fast nur aus Nachahmungen anderer Vogellaute", schreibt Einhard Bezzel in seinem "Bestimmungsbuch Vögel". Er ist nicht der Einzige, den der Gesang der Teich-, Sumpf- und Schilfrohrsänger beeindruckt hat. In dem Buch "Vögel", erschienen in der dtv-Reihe "Kleine Philosophie der Passionen", rühmt Arnulf Conradi die äußerlich so unscheinbaren Vögel, ja, er besingt sie geradezu: "Wenn man sie das erste Mal hört, will man einfach nicht glauben, daß ein einzelner Vogel solche Kaskaden von sich geben kann. Man ertappt sich dabei, wie man mit dem Oberkörper oder Kopf ,mitgeht'." Doch Conradi weiß nicht nur seine eigene Bezauberung in schöne Worte zu fassen, er zitiert auch Rohrsänger-Sänger älterer Zeiten, zum Beispiel Hermann Löns, der in einem gesagt hat: "Urlehrmeister der Rohrsänger sind Rohr und Welle, Frosch und Wasserhuhn."

Wenn wir die Urteile über den Gesang der Rohrsänger in aller Eile Revue passieren lassen, so fällt auf, dass kein Kritiker an der unleugbaren Tatsache der Stimmenimitation Anstoß nimmt. Statt die Stimmenklauer des Plagiats zu zeihen, verzeihen ihnen die bezauberten Zuhörer offenbar alles: "Talentiert" wird ihr Gesang genannt und "daß man nicht satt wird, ihm zuzuhören". Bewahren wir diese Worte im Herzen, aber schalten wir rasch noch einmal unseren Verstand ein: Warum spotten die Spötter eigentlich? Conradi wagt keine eindeutige Antwort: "Wie so vieles in der Ornithologie ist auch dieses Kapitel der Forschung keineswegs abgeschlossen. Eines scheint klar: die Männchen singen, um ein Weibchen anzulocken, und dann, um die Herrschaft über ein Revier anzumelden. Aber braucht es dazu dieses sängerischen Überschwangs?"

Zurückhaltend äußert sich auch "Herders Lexikon der Biologie": "Es wird vermutet, das Spotten täusche generell fremden und eigenen Artgenossen eine höhere Besiedlungsdichte vor und vermindere so die Konkurrenz, oder es diene lediglich der Vergrößerung des eigenen Lautrepertoires ohne allzu großen Aufwand an Informationsverarbeitung. Letztere Annahme scheint zur Zeit am wahrscheinlichsten zu sein, aber angesichts der differenzierten Informationleistung von Papageien oder Beos erscheint die Erklärung noch nicht befriedigend."

Setzen wir hinzu: auch die artistische Rolle. Zumal dann, wenn die Kunst des Sängers nicht so sehr darin besteht, sein Publikum durch Variation und Imitation zu unterhalten, sondern sich darin beweist, dem Zuhörer die eigene Botschaft unauslöschlich einzuprägen. Und welchem gefiederten Sänger wäre das besser gelungen als dem Kuckuck? Er ist nicht der einzige Vogel unserer Breiten, der es fertig gebracht hat, nach seinem Ruf benannt zu werden. Jedoch vom Zilpzalp ist höchst selten die Rede, indes der im Vergleich zum Ersteren geradezu einsilbige Kuckuck zum Gegenstand volkstümlicher Lieder - "Kuckuck, Kuckuck, ruft's aus dem Wald" - und kunstvoller Gedichte geworden ist.

Zwei Dichter sollen hier zu Wort kommen, zwei Stimmen, die zweierlei eint: Beide bedienen sich kunstreich verschränkter Reime, und beide üben unverstellte Kritik am Gegenstand ihres Gedichts. Den Anfang macht Christian Fürchtegott Gellert, der populärste Dichter deutscher Zunge in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Sein Gedicht "Der Kuckuck" lautet: "Der Kuckuck sprach mit einem Star, / Der aus der Stadt geflohen war. / Was spricht man, fing er an zu schreien, / Was spricht man in der Stadt von unsern Melodeien ? / Was spricht man von der Nachtigall? / ,Die ganze Stadt lobt ihre Lieder.' / Und von der Lerche? rief er wieder. / ,Die halbe Stadt lobt ihrer Stimme Schall.' / Und von der Amsel ? fuhr er fort. / ,Auch diese lobt man hier und dort.' / Ich muß dich doch noch etwas fragen; / Was, rief er, spricht man denn von mir? / Das, sprach der Star, das weiß ich nicht zu sagen; / Denn keine Seele redt von dir. / So will ich, fuhr er fort, mich an dem Undank rächen, / Und ewig von mir selber sprechen."

Ewig von sich selber zu sprechen - ist das lediglich die Rache des nicht wahrgenommenen Sängers? Nicht auch das Erfolgsrezept all jener Schriftsteller und Dichter, die so lange ihr "Ich Ich Ich" in den Wald hineinrufen, bis es endlich "Du Du Du" echot?

Wie Christian Fürchtegott Gellert sieht auch Rainer Maria Rilke im Kuckuck einen fragwürdigen, ja aufdringlichen Künstler: "O erster Ruf wagrecht ins Jahr hinein, / die Vogel-Stimmen stehn. / Du aber treibst schon in die Zeit dein Schrein, / o Kukuk, ins Vergehn." So distanziert beginnt Rilkes "Kukuk"-Gedicht, doch in der zweiten Strophe wandelt sich der Dichter dem Gegenstand seiner Kritik spöttergleich an: "Da: wie du rufst und rufst und rufst und rufst, / wie einer setzt ins Spiel" - ganz unbekümmert versucht sich der Dichter in kukukhaften, wenn auch jambisch betonten U-Paarungen, um dem Vogel sodann von Sänger zu Sänger, richtiger: von Spötter zu Kukuk, fachmännisch seine Kunstlosigkeit unter den Schnabel zu reiben: "und gar nicht baust, mein Freund, und gar nicht stufst / zum Lied, das uns gefiel." Eine Vorhaltung, die wir trotz des fehlenden Apostrophs getrost als "zum Lied, das uns gefiele" lesen dürfen, also als "Lied, das uns gefallen könnte".

Dabei ist Rilke keineswegs unempfänglich für die eigenartige Kraft des weder gebauten noch gestuften, sondern schlicht eintönigen Kukuk-Schreis. Der waagrechte Schrei des Kukuks durchstreicht nicht nur die anderen, vertikal in die Luft geschmetterten Vogelstimmen, sondern auch den Dichter derart bedrängend, dass ihn nach vergeblichem Warten und Hoffen der kalte Hauch des Vergehens streift, ja durchstreift: "Wir warten erst und hoffen . . . Seltsam quer / durchstreift uns dieser Schrei: / als wär in diesem Schon ein Nimmermehr, / ein frühestes Vorbei -"

"Seltsam" nennt Rilke den Kukuk-Schrei. "Merkwürdig" nannte schon Goethe den Schreier. Am Montag, dem 8. Oktober 1827, notiert sein getreuer Eckermann die folgenden Worte: "Alles, was ich über den Kuckuck gehört habe, gibt mir für diesen merkwürdigen Vogel ein großes Interesse. Er ist eine höchst problematische Natur, ein offenbares Geheimnis; das aber nichtsdestoweniger schwer zu lösen, weil es offenbar ist."

Kein Dichter, ein Wissenschaftler öffnete mir die Augen für die ganze Abgründigkeit der problematischen Kuckucksnatur. Dass der seine Eier in fremde Nester lege, war schon dem Kind erzählt worden; dass der Jungkuckuck die Wirtseier und Stiefgeschwister aus dem Nest werfe, hatte der Heranwachsende mit schauderndem Widerwillen gehört; doch erst der Erwachsene erfuhr vom Schulfreund und Mitabiturienten, dem Literatur-, Kuckuck- und Kuckucksliteratur-Kenner Helmut Henne, wen der unverhältnismäßig große Kuckuck gern auf- und heimsuchte: die Nester ausgesprochen kleiner Vögel wie Bachstelze, Baumpieper und Rotkehlchen. Seine bevorzugten Wirte jedoch seien Sumpfrohrsänger und Teichrohrsänger.

Aber das bedeute ja, dass der eintönigste Schreier der heimischen Vogelwelt ausgerechnet den phantasievollsten aus dem Nest werfe, um sich an seiner Stelle durchfüttern zu lassen, rief ich aus. Ob Mutter Natur uns damit eine nach Fabelart im Tierschicksal verkleidete Lehre erteilen wolle? Wen ich mit "uns" meine, wollte der Freund wissen. Nun, uns Literaturfreunden, gab ich zurück, vor allem aber uns Dichtern. Auch das Nest der Literatur biete ja nicht Platz für alle, auch in diesem Lebensraum tobe der Überlebenskampf um Atzung und Beachtung. Sei es da nicht hoch bedeutsam, dass ausgerechnet derjenige, der so täuschend in anderen Stimmen zu singen vermöge, auf die plumpe Täuschung ausgerechnet dessen hereinfalle, der gesanglich zu keiner Imitation fähig sei?

Mutter Natur ist keine Schwarzweißmalerin, versetzte der Freund. Daher warne er vor der platten Konfrontation hie Spötter, hie Kuckuck. Schließlich seien bei etwa 90 von 130 in Deutschland heimischen Singvogelarten Kuckuckseier gefunden worden - der Gauch habe es also keineswegs nur auf die Nester der talentiertesten Sänger abgesehen. Der Gauch?, rief ich aus. So wurde der Vogel einst in Deutschland genannt, entgegnete der Freund. "Bedeutet das Wort nicht auch ,Betrüger'?", fragte ich, mich des Fratzensteins an der Bergener Oberpforte erinnernd und seiner rüden Aufforderung, Zigeuner, fahrendes Volk, Gaukler und andere Künstler betreffend: "Far du Gauch!"

"Das Wort hat laut Hermann Pauls ,Deutschem Wörterbuch'", setzte der Freund an, "ursprünglich Kuckuck bedeutet, und das ist eine lautmalerische Bildung", fuhr der Freund unbeirrt fort, "um erst in der Folgezeit auch auf menschliche Übeltäter, auf ,Narr' und ,Schelm', übertragen zu werden. Fest steht lediglich, dass der Kuckuck ein umwittertes Tier ist, dessen Spektrum vom Gottseibeiuns bis zum Schwindler schillert."

Es sei ganz und gar unstatthaft, die Verhaltensweisen von Spötter und Kuckuck in den einen mit "Täuschung" beschrifteten Topf zu werfen, rief ich aus. Schließlich diene der Gesang der Talentierten weitgehend der Unterhaltung anderer. Aber, so schloss ich mit erhobener Stimme, sei es nicht seit jeher das Los des echten Dichters gewesen, über dem Singen das eigene Fortkommen und das der ihm Anvertrauten aus den Augen zu verlieren? Indes diejenigen "Dichter", die weniger zu sagen und schon gar nichts zu singen hätten, um so mehr Zeit darauf verwenden könnten, an die Fleischtöpfe ranzukommen, an Stipendien, Preise und Posten?

Ob er fehl in der Annahme gehe, dass ich dabei sei, pro domo zu reden, fragte der Freund mit einem Lächeln, darin sich Spottlust und Amüsiertheit die Waage hielten. Könnte es sich nicht auch so verhalten, dass die Kuckucks die wahren Originalgenies in Natur und Literatur seien, denen daher auch aller bergende Platz und alles verfügbare Futter zuständen? Die Botschaft der Kuckucks sei simpel, zugegeben. Jedes Kind könne sie nachmachen - aber doch nur deswegen, weil der Kuckuck sie zuerst einmal vorgemacht habe. Dahingegen sei es ebenso unmöglich wie unsinnig, einen Spötter nachzuahmen. Warum jemanden imitieren, der seinerseits ein Imitator sei?

Und mit diesen Worten empfahl sich lachend der Freund und Kuckuckskenner, noch bevor ich ihm die Frage stellen konnte, wie dieser große "Gastvogel" es eigentlich schaffe, den kleinen Wirtsvögeln Futtermengen abzuluchsen, die doch jene weit übertreffen müssten, welche ein Teichrohrsänger zum Starkwerden braucht. "Der grellrote Sperrachen stellt einen überoptimalen Fütterungsauslöser dar", las ich wenig später in "Herders Lexikon der Biologie", verwirrt, dass selbst ein Superlativ wie "optimal" steigerungsfähig war. Doch mehr noch fesselten die Folgesätze mein Interesse: "Das Gewicht steigt von anfangs 3 g auf ca. 100 g an, bis der Jungkuckuck nach 21-23 Tagen das Nest verläßt. Auch danach bettelt er noch sehr auffällig und wird dann nicht nur von den Stiefeltern, sondern auch von anderen Vögeln gefüttert."

Genau wie im richtigen Leben, dachte ich grimmig. Weshalb einer Mitwelt, die ohnehin in Botschaften ertrinkt, mehr zumuten als lediglich eine bzw. deren tautologische Verdoppelung ? "Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose." Hatte sich Gertrud Steins monotoner Ruf nicht ungleich eindrücklicher in die Hirne eingenistet als jene kryptische Arabeske, welche der in vielen Stimmen bewanderte Rainer Maria Rilke erdacht und zu seinem Grabspruch erkoren hatte: "Rose, oh reiner Widerspruch, Lust Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern"? Aber hatte Rilke wirklich von "Lidern"gesprochen? Nicht eher von "Liedern"? Umso schlimmer für Rilke, dachte ich weiter. Was hat denn solche Zwei- beziehungsweise Vieldeutigkeit in unserer zunehmend schlichteren Kuckuckswelt verloren?

"Kuckuck als Stimmenimitator" - ich prallte geradezu zurück, als ich am 7. Oktober 1998, nichts Böses ahnend, die Seite zwei der "Natur und Wissenschaft" betitelten Beilage der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" aufschlug: Was ging denn hier vor?! Vorerst das bereits Vertraute: "Gerade aus dem Ei geschlüpft, entledigt sich ein junger Kuckuck sofort aller Konkurrenten." Doch dann folgte eine Frage, die auch in mir weitergeschwelt hatte, obwohl doch der "überoptimale Fütterungsauslöser" sie bereits beantwortet zu haben schien: "Wie aber gelingt es ihm, sich eine ausreichende Verpflegung zu sichern? Schließlich hat er einen viel größeren Appetit als ein junger Gartenrotschwanz oder ein Rotkehlchen."

Ja, wie macht er das? "Natur und Wissenschaft" wartet mit einer überraschenden Antwort auf: "Wie britische Zoologen der University of Cambridge herausfanden, ahmt der junge Kuckuck das vielstimmige Geschrei einer hungrigen Geschwisterschar nach. So kann er sich eine Futterration ergattern, die normalerweise mehreren Nestlingen zugedacht ist."

Sie seien leicht zu täuschen, diese Wirtsvögel: "Wer im Nest sitzt und den Schnabel aufsperrt, wird bereitwillig gefüttert. Das haben einige zusätzliche Experimente bestätigt. Als die eigene Brut etwa zeitweilig gegen eine junge Amsel oder eine junge Singdrossel vertauscht wurde, umsorgten die Teichrohrsänger ohne Zögern auch dieses fremdartige Pflegekind."

Und was ist mit dem doch erheblich schwereren Kuckuck ? "Ein junger Kuckuck überzeugt seine Pflegeeltern davon, daß ihm eine größere Ration zusteht, indem er seine Laute verändert. Statt einzelne klägliche Piepslaute von sich zu geben, läßt er ein hektisches Gezwitscher ertönen (Proceedings of the Royal Society B, Bd. 265, S. 673). Diese Bettelrufe klingen so ähnlich wie ein ganzes Nest voller Teichrohrsänger." Auch der Kuckuck beginnt also als Spötter! Sogar als einer der abgefeimtesten Art!

"Die goldne Kette gib mir nicht" - mit diesen Worten hatte der Dichter Goethe in seinem Gedicht "Der Sänger" seinen Helden und greisen Barden jedweden materiellen Gewinn ausschlagen lassen. Er tut das mit der Begründung : "Ich singe, wie der Vogel singt, / Der in den Zweigen wohnet; / Das Lied, das aus der Kehle dringt, / Ist Lohn, der reichlich lohnet." Hier irrt Goethe. Vögel sind nun mal keine dichtenden Geheimräte mit geregeltem Einkommen, sondern freie Künstler, die ohne Lied auch ohne Frauen, Nachwuchs und Fressen blieben. Das ist das offenbare Geheimnis dieser Gäuche - neben teichrohrsängerisch muss er im Bedarfsfall ja auch bachstelzisch, baumpieperisch oder zaunkönigisch parlieren können. So sorgt der Dauerspötter dafür, dass allüberall Abergläubische beim ersten Kuckucksschrei ostentativ auf ihre Geldbörse klopfen.

ROBERT GERNHARDT

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