Alexis de Tocqueville
Kleine politische Schriften
Herausgegeben von Harald Bluhm
2006. 223 S., 1 schwarz-weiße Abbildung, gb.
ISBN 978-3-05-004175-9
Schriften zur europäischen Ideengeschichte, Bd. 1
Bislang ist von Alexis de Tocqueville, dem sozialwissenschaftlichen Klassiker, nur ein Teil seiner großen und kleineren Schriften auf Deutsch zugänglich. Damit fehlen hierzulande wichtige Voraussetzungen für öffentlich-wissenschaftliche Debatten über die Aktualität seiner Gedankenwelt. Diese Situation wird durch die nunmehr vorliegende repräsentative Sammlung kleiner politischer Schriften, die die thematische Breite des republikanisch-liberalen Denkers und Analytikers der modernen Demokratie demonstrieren, grundlegend anders.
Vollständig veröffentlicht werden der konzeptionell fundamentale Vortrag "Über die Politischen Wissenschaften" sowie die wegweisende frühe Schrift "Die gesellschaftlichen und politischen Zustände in Frankreich vor und nach 1789". Hinzu kommen bisher nur bruchstückhaft vorliegende Übertragungen von drei zentralen Reden aus der Zeit der 1848er Revolution, in denen sich Tocqueville mit der Verfassung, dem Sozialismus und mit der Frage des Rechts auf Arbeit auseinandersetzt.
Darüber hinaus werden zwei international ausgiebig diskutierte Texte erstmals übersetzt ? die Schrift über den Pauperismus und eine Studie über Algerien. Sie eröffnen Einblicke in Tocquevilles Verständnis der Problematik von demokratischer Sozial- und Kolonialpolitik. Die Übersetzung des eloquenten Berichts über die Demokratie in der Schweiz, er geht auf eine Akademie-Rede von 1848 zurück, enthält selten beachtete Analysen und resümiert zugleich Grundgedanken seines Hauptwerks zur Demokratie in Amerika.
Pressestimmen
Diese Ausgabe ist "eine Fundgrube mit diversen Erstübersetzungen. ... Erleichtert wird der Zugang zu ihnen durch die souveräne Einleitung Harald Bluhms, seine Querverweise zu Tocquevilles Buch 'Über die Demokratie in Amerika' ... sind treffsicher."
Dieter Thomä in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23. Oktober 2006)
Tocquevilles kleine Abhandlungen "sind nicht überholt. Harald Bluhm hat diese 'Kleinen politischen Schriften' nun, wohlkommentiert, in einem Band zugänglich gemacht."
Neue Zürcher Zeitung (9. Dezember 2006)
"Die hier sorgfältig edierten Schriften verändern unser Verständnis des Werkes von Tocqueville nicht im ganzen, aber sie vertiefen es und machen seine Entstehung durchsichtiger."
Siegfried Weichlein in: Süddeutsche Zeitung (12.Februar 2007)
"Seine vor einigen Monaten von Harald Bluhm unter dem Titel 'Kleine politische Schriften' präsentierten Reden und Aufsätze zeigen [...] einen bisher eher unbekannten [...] und darüber hinaus höchst aktuellen Autor. [...] Die jetzt vorliegende Ausgabe der Reden und Aufsätze Tocquevilles zeichnet die Entwicklung seines Denkens nach und lässt uns neben dem Autor der beiden Hauptwerke über die Demokratie in Amerika und das Erbe des Absolutismus im revolutionären Frankreich den skeptischen Betrachter und kritischen Kommentator seiner Gegenwart entdecken, deren Erbe unsere Gegenwart noch lange beschäftigt."
Clemens Klünemann in: Dokumente (1/2007)
Kleine politische Schriften
Herausgegeben von Harald Bluhm
2006. 223 S., 1 schwarz-weiße Abbildung, gb.
ISBN 978-3-05-004175-9
Schriften zur europäischen Ideengeschichte, Bd. 1
Bislang ist von Alexis de Tocqueville, dem sozialwissenschaftlichen Klassiker, nur ein Teil seiner großen und kleineren Schriften auf Deutsch zugänglich. Damit fehlen hierzulande wichtige Voraussetzungen für öffentlich-wissenschaftliche Debatten über die Aktualität seiner Gedankenwelt. Diese Situation wird durch die nunmehr vorliegende repräsentative Sammlung kleiner politischer Schriften, die die thematische Breite des republikanisch-liberalen Denkers und Analytikers der modernen Demokratie demonstrieren, grundlegend anders.
Vollständig veröffentlicht werden der konzeptionell fundamentale Vortrag "Über die Politischen Wissenschaften" sowie die wegweisende frühe Schrift "Die gesellschaftlichen und politischen Zustände in Frankreich vor und nach 1789". Hinzu kommen bisher nur bruchstückhaft vorliegende Übertragungen von drei zentralen Reden aus der Zeit der 1848er Revolution, in denen sich Tocqueville mit der Verfassung, dem Sozialismus und mit der Frage des Rechts auf Arbeit auseinandersetzt.
Darüber hinaus werden zwei international ausgiebig diskutierte Texte erstmals übersetzt ? die Schrift über den Pauperismus und eine Studie über Algerien. Sie eröffnen Einblicke in Tocquevilles Verständnis der Problematik von demokratischer Sozial- und Kolonialpolitik. Die Übersetzung des eloquenten Berichts über die Demokratie in der Schweiz, er geht auf eine Akademie-Rede von 1848 zurück, enthält selten beachtete Analysen und resümiert zugleich Grundgedanken seines Hauptwerks zur Demokratie in Amerika.
Pressestimmen
Diese Ausgabe ist "eine Fundgrube mit diversen Erstübersetzungen. ... Erleichtert wird der Zugang zu ihnen durch die souveräne Einleitung Harald Bluhms, seine Querverweise zu Tocquevilles Buch 'Über die Demokratie in Amerika' ... sind treffsicher."
Dieter Thomä in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23. Oktober 2006)
Tocquevilles kleine Abhandlungen "sind nicht überholt. Harald Bluhm hat diese 'Kleinen politischen Schriften' nun, wohlkommentiert, in einem Band zugänglich gemacht."
Neue Zürcher Zeitung (9. Dezember 2006)
"Die hier sorgfältig edierten Schriften verändern unser Verständnis des Werkes von Tocqueville nicht im ganzen, aber sie vertiefen es und machen seine Entstehung durchsichtiger."
Siegfried Weichlein in: Süddeutsche Zeitung (12.Februar 2007)
"Seine vor einigen Monaten von Harald Bluhm unter dem Titel 'Kleine politische Schriften' präsentierten Reden und Aufsätze zeigen [...] einen bisher eher unbekannten [...] und darüber hinaus höchst aktuellen Autor. [...] Die jetzt vorliegende Ausgabe der Reden und Aufsätze Tocquevilles zeichnet die Entwicklung seines Denkens nach und lässt uns neben dem Autor der beiden Hauptwerke über die Demokratie in Amerika und das Erbe des Absolutismus im revolutionären Frankreich den skeptischen Betrachter und kritischen Kommentator seiner Gegenwart entdecken, deren Erbe unsere Gegenwart noch lange beschäftigt."
Clemens Klünemann in: Dokumente (1/2007)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.02.2007Die Schweiz ist keine moderne Demokratie
Ein Bekenntnis zum Wohlfahrtsstaat, das kann auch dem besten Liberalen mal passieren: Tocquevilles kleine Schriften in deutscher Übersetzung
In der politischen Ideengeschichte scheint die Aufgeregtheit über undemokratische Denker nachgelassen und die Beschäftigung mit den Vordenkern von Liberalismus und Demokratie zugenommen zu haben. Zahllose Veröffentlichungen bezogen sich ex negativo auf ihren Gegenstand, um die undemokratische Gesinnung des Autors, aber auch die eigene demokratische Gesinnungstreue unter Beweis zu stellen. Davon zeugte die geradezu ausufernde Beschäftigung mit Carl Schmitt, jüngst auch mit Leo Strauss und seinen Gefolgsleuten in der Bush-Administration. Der Thrill, den politischen Antichrist geschaut zu haben, wird seit einiger Zeit ausbalanciert durch Analysen von liberalen und demokratieaffinen Positionen. Sicher gehört beides, Abwehr und Begründung, zum Kerngeschäft einer Politikwissenschaft, die sich demokratisch versteht. Unklar bleibt dabei indessen das Verhältnis dieser beiden theoretischen Anstrengungen.
Von dem neuen Interesse an liberalen Positionen profitierte in den letzten Jahren vor allem Alexis de Tocqueville. Zahlreiche Monographien und Aufsatzbände legen davon Zeugnis ab. Man kann zwar den Aufstieg von Tocqueville in Beziehung setzen zum Niedergang der Marx-Rezeption. Doch verkürzte sich diese vor 1990 nie auf die Sichtweise der osteuropäischen kommunistischen Kaderparteien, die nach 1990 verschwanden. Da trifft schon eher zu, dass Tocqueville nicht nur ein Theoretiker der Demokratie, sondern auch ihrer Gefährdungen ist. Das klang vor 1990 in den Ohren vieler Linker eher autoritär und aristokratisch.
Und heute denken alle so
Mit der Etablierung demokratischer politischer Systeme in Osteuropa und überhaupt außerhalb Nordkoreas, Kubas und des Vatikans erhielt Tocqueville eine neue und aktuelle Bedeutung. Dabei hatte Tocqueville in seiner Zeit keine Schule gebildet und war ein theoretischer Einzelgänger geblieben. Wie anders dagegen heute. Das Journal of Democracy stellte im Jahr 2000 fest: „We are all Tocquevillean now.” Ist Tocquevilles Mischung aus Skepsis und Optimismus also zur Normallage des politischen Denkens geworden? Die Gegenwart scheint sich in einem Denker zu spiegeln, der, ursprünglich revolutionsnah gesonnen, dann ernüchtert auf die Ergebnisse der Französischen Revolution schaut, deretwegen er sich geweigert hatte, seinen Adelstitel zu führen.
Die Lage der Übersetzungen Tocquevilles ins Deutsche ist desaströs. Für die kleinen politischen Schriften liegt jetzt in der neuen Reihe mit „Schriften zur europäischen Ideengeschichte” im Akademie-Verlag eine Ausgabe vor, die der Berliner Politikwissenschaftler Harald Bluhm unter Mitwirkung von Skadi Krause herausgegeben und behutsam und zurückhaltend kommentiert hat. Hier werden erstmals einige Gelegenheitsschriften, Reden und Berichte übersetzt, die bisher nur entlegen veröffentlicht waren. In diesen Texten probiert Tocqueville Positionen aus seinen Hauptwerken entweder früher aus oder präzisiert sie später. Dies gilt vor allem für seine Auffassung von der Demokratie, wie sie in seinem Amerikabuch ausgeführt ist. Die hier sorgfältig edierten Schriften verändern unser Verständnis des Werkes von Tocqueville nicht im ganzen, aber sie vertiefen es und machen seine Entstehung durchsichtiger.
Dem Genre der Gelegenheitsschriften geschuldet richten die Texte den Blick stärker auf bestimmte historische Ereignisse und Länder, weniger auf die große politische Theorie. Lediglich in der Denkschrift über den Pauperismus von 1835 begegnet uns ein verallgemeinernder Ton. Die vorliegenden Texte verdeutlichen noch einmal Tocquevilles tiefe Skepsis gegenüber dem sozialen Gleichheitsgedanken und dem Wohlfahrtstaat, die er als Feinde der Freiheit einstuft. Gleichzeitig differenziert sich aber das Bild von Tocqueville. Bisher meist durch sein Buch über die amerikanische Demokratie bekannt, begegnet er uns hier als Analytiker der Verhältnisse in Algerien und in der Schweiz. Zum Demokratietheoretiker tritt der Außenpolitiker und demokratische Imperialist hinzu. Anders als bei dem Hegelschüler Karl Marx führte Tocqueville Politik nicht auf ein leitendes und erklärendes Prinzip zurück. Dinge, die sich für uns hart im Raume stoßen, stehen bei ihm eher unverbunden nebeneinander. Und das besonders in den „Kleinen Schriften”.
Tocqueville verficht die kapitalistische Demokratie. Demokratie und Marktwirtschaft sind für ihn gerade keine Gegensätze. Die Demokratie wird innergesellschaftlich als eine expansive Lebensform dargestellt. In seinen Gedanken über Algerien von 1841, also noch in der ersten Phase der französischen Algerienpolitik, tritt er unverhohlen für einen demokratischen Expansionismus ein und verteidigt die außenpolitische Eroberung. Dennoch bleibt eine Spur Skepsis gegenüber der Einverleibung Algeriens: „Gott bewahre uns davor, jemals erleben zu müssen, dass Frankreich von einem Offizier der Afrika-Armee gelenkt wird!” Es ist, als wenn Tocqueville die Offiziersrevolten von 1958 und 1961 vorausgeahnt hätte. Eine ähnliche prognostische Kraft enthält seine Kammerrede vom 27. Januar 1848, in der er Frankreich am Abgrund einer neuen Revolution sieht. Keine vier Wochen sollten vergehen, bis die Revolution ausbrach.
Pauperismus und Polemik
Düster ist auch Tocquevilles Blick auf die Schweiz, die er noch vor dem Sonderbundskrieg von 1847 und der Bundesverfassung von 1848 betrachtet. Dieser Schweiz vor der nationalen Bundesverfassung spricht er jegliche Eignung zur Demokratie ab. Die bestehenden Formen direkter Demokratie sind für ihn Überbleibsel aus dem Mittelalter und gerade nicht Vorläufer einer modernen repräsentativen Demokratie. Das Krebsübel sieht er in der Dominanz der Kantone und der Schwäche der föderalen Regierung. Der Zusammenhang von Demokratie und Föderalismus bringt Tocqueville dazu, die Schweiz mit den Vereinigten Staaten zu vergleichen. Dort war bekanntlich mit den „Federalist Papers” und der Verfassung von 1787 eine andere Lösung gefunden worden, die die gesamtstaatliche gegenüber der einzelstaatlichen Ebene stärkte.
Besonders reizvoll ist ein Vergleich der Schweiz mit dem Staat New York. Beide kennen das allgemeine Wahlrecht und die Volkssouveränität. Doch während in New York das Volk nur an einem Tag seine Souveränität ausübt, indem es seine Delegierten wählt, geschieht dies in der Schweiz permanent, was den Einfluss lokaler Eliten immens steigert. Tocquevilles Sicht auf die Schweiz bleibt dem Dogma der repräsentativen Demokratie verpflichtet, wie er sie in den Vereinigten Staaten kennenlernte. Man darf bezweifeln, ob er damit das letzte Wort zur direkten Teilnahme an der Politik gesprochen hat, zumal wenn man auf etablierte demokratische Systeme mit niedriger Wahlbeteiligung schaut. Schließlich laufen der repräsentativen Demokratie die Wähler davon.
Auch in seiner Pauperismusschrift von 1835 herrscht ein polemischer Ton vor. In Bausch und Bogen verdammt er jede Form von Wohlfahrtspolitik, die an einer Annäherung der sozialen Lagen arbeitet. Geradezu diffamierend schreibt er über das England nach der Armengesetzgebung von 1834. Bei Tocquevilles Erlebnissen in einem englischen Gericht fühlt man sich an die Konstruktion der „welfare mothers” erinnert, die in den 1990er Jahren dafür herhalten mussten, das Ende des ehedem schmalen Sozialstaates zu begründen. Den Wohlfahrtstaat ordnet Tocqueville dem Sozialismus zu.
Zu den neuen Tönen, die in den „Kleinen Schriften” besser sichtbar werden, gehört aber die größere Aufgeschlossenheit gegenüber dem Wohlfahrtstaat während der Revolution von 1848. Als das Recht auf Arbeit in der Verfassungsgebenden Versammlung diskutiert wird, breitet Tocqueville reflexartig die höllischen Gefahren des Sozialismus aus. Weil aber ihre desparate soziale Lage zahllose Bürger an jeder politischen Betätigung gänzlich hindert, rückt er die Wohlfahrtspolitik dennoch in das Erbe der Französischen Revolution ein: „Schließlich hatte die Französische Revolution den Wunsch, der sie in den Augen der Völker nicht nur verehrungswürdig, sondern unsterblich macht, den Wunsch, die Wohlfahrt in die Politik einzuführen; sie führte die staatliche Sorgepflicht gegenüber den Armen ein, gegenüber jenen Bürgern, die Not leiden.”
Das Soziale erscheint so nicht nur als das immer wieder beschworene Gegenteil des Politischen, sondern auch als dessen Voraussetzung. In einer Parlamentsrede vorgetragen, verdankt sich diese Äußerung, wie sie nur in „Kleinen Schriften” zu finden ist, wohl eher dem Augenblick. Eine liberale Aneignung des Sozialstaatsgedankens wäre doch ein rechter Knallfrosch im Salon gewesen. Von einem sozialstaatlichen Wiederholungstäter Tocqueville ist nichts bekannt.
SIEGFRIED WEICHLEIN
ALEXIS DE TOCQUEVILLE: Kleine politische Schriften. Herausgegeben von Harald Bluhm. Schriften zur europäischen Ideengeschichte, Band 1. Akademie Verlag, Berlin 2006. 223 Seiten, 49,80 Euro.
Kleine Schriften, großer Kopf: Alexis de Tocqueville in einer Karikatur von Honoré Daumier Foto: Roger Viollet/AFP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein Bekenntnis zum Wohlfahrtsstaat, das kann auch dem besten Liberalen mal passieren: Tocquevilles kleine Schriften in deutscher Übersetzung
In der politischen Ideengeschichte scheint die Aufgeregtheit über undemokratische Denker nachgelassen und die Beschäftigung mit den Vordenkern von Liberalismus und Demokratie zugenommen zu haben. Zahllose Veröffentlichungen bezogen sich ex negativo auf ihren Gegenstand, um die undemokratische Gesinnung des Autors, aber auch die eigene demokratische Gesinnungstreue unter Beweis zu stellen. Davon zeugte die geradezu ausufernde Beschäftigung mit Carl Schmitt, jüngst auch mit Leo Strauss und seinen Gefolgsleuten in der Bush-Administration. Der Thrill, den politischen Antichrist geschaut zu haben, wird seit einiger Zeit ausbalanciert durch Analysen von liberalen und demokratieaffinen Positionen. Sicher gehört beides, Abwehr und Begründung, zum Kerngeschäft einer Politikwissenschaft, die sich demokratisch versteht. Unklar bleibt dabei indessen das Verhältnis dieser beiden theoretischen Anstrengungen.
Von dem neuen Interesse an liberalen Positionen profitierte in den letzten Jahren vor allem Alexis de Tocqueville. Zahlreiche Monographien und Aufsatzbände legen davon Zeugnis ab. Man kann zwar den Aufstieg von Tocqueville in Beziehung setzen zum Niedergang der Marx-Rezeption. Doch verkürzte sich diese vor 1990 nie auf die Sichtweise der osteuropäischen kommunistischen Kaderparteien, die nach 1990 verschwanden. Da trifft schon eher zu, dass Tocqueville nicht nur ein Theoretiker der Demokratie, sondern auch ihrer Gefährdungen ist. Das klang vor 1990 in den Ohren vieler Linker eher autoritär und aristokratisch.
Und heute denken alle so
Mit der Etablierung demokratischer politischer Systeme in Osteuropa und überhaupt außerhalb Nordkoreas, Kubas und des Vatikans erhielt Tocqueville eine neue und aktuelle Bedeutung. Dabei hatte Tocqueville in seiner Zeit keine Schule gebildet und war ein theoretischer Einzelgänger geblieben. Wie anders dagegen heute. Das Journal of Democracy stellte im Jahr 2000 fest: „We are all Tocquevillean now.” Ist Tocquevilles Mischung aus Skepsis und Optimismus also zur Normallage des politischen Denkens geworden? Die Gegenwart scheint sich in einem Denker zu spiegeln, der, ursprünglich revolutionsnah gesonnen, dann ernüchtert auf die Ergebnisse der Französischen Revolution schaut, deretwegen er sich geweigert hatte, seinen Adelstitel zu führen.
Die Lage der Übersetzungen Tocquevilles ins Deutsche ist desaströs. Für die kleinen politischen Schriften liegt jetzt in der neuen Reihe mit „Schriften zur europäischen Ideengeschichte” im Akademie-Verlag eine Ausgabe vor, die der Berliner Politikwissenschaftler Harald Bluhm unter Mitwirkung von Skadi Krause herausgegeben und behutsam und zurückhaltend kommentiert hat. Hier werden erstmals einige Gelegenheitsschriften, Reden und Berichte übersetzt, die bisher nur entlegen veröffentlicht waren. In diesen Texten probiert Tocqueville Positionen aus seinen Hauptwerken entweder früher aus oder präzisiert sie später. Dies gilt vor allem für seine Auffassung von der Demokratie, wie sie in seinem Amerikabuch ausgeführt ist. Die hier sorgfältig edierten Schriften verändern unser Verständnis des Werkes von Tocqueville nicht im ganzen, aber sie vertiefen es und machen seine Entstehung durchsichtiger.
Dem Genre der Gelegenheitsschriften geschuldet richten die Texte den Blick stärker auf bestimmte historische Ereignisse und Länder, weniger auf die große politische Theorie. Lediglich in der Denkschrift über den Pauperismus von 1835 begegnet uns ein verallgemeinernder Ton. Die vorliegenden Texte verdeutlichen noch einmal Tocquevilles tiefe Skepsis gegenüber dem sozialen Gleichheitsgedanken und dem Wohlfahrtstaat, die er als Feinde der Freiheit einstuft. Gleichzeitig differenziert sich aber das Bild von Tocqueville. Bisher meist durch sein Buch über die amerikanische Demokratie bekannt, begegnet er uns hier als Analytiker der Verhältnisse in Algerien und in der Schweiz. Zum Demokratietheoretiker tritt der Außenpolitiker und demokratische Imperialist hinzu. Anders als bei dem Hegelschüler Karl Marx führte Tocqueville Politik nicht auf ein leitendes und erklärendes Prinzip zurück. Dinge, die sich für uns hart im Raume stoßen, stehen bei ihm eher unverbunden nebeneinander. Und das besonders in den „Kleinen Schriften”.
Tocqueville verficht die kapitalistische Demokratie. Demokratie und Marktwirtschaft sind für ihn gerade keine Gegensätze. Die Demokratie wird innergesellschaftlich als eine expansive Lebensform dargestellt. In seinen Gedanken über Algerien von 1841, also noch in der ersten Phase der französischen Algerienpolitik, tritt er unverhohlen für einen demokratischen Expansionismus ein und verteidigt die außenpolitische Eroberung. Dennoch bleibt eine Spur Skepsis gegenüber der Einverleibung Algeriens: „Gott bewahre uns davor, jemals erleben zu müssen, dass Frankreich von einem Offizier der Afrika-Armee gelenkt wird!” Es ist, als wenn Tocqueville die Offiziersrevolten von 1958 und 1961 vorausgeahnt hätte. Eine ähnliche prognostische Kraft enthält seine Kammerrede vom 27. Januar 1848, in der er Frankreich am Abgrund einer neuen Revolution sieht. Keine vier Wochen sollten vergehen, bis die Revolution ausbrach.
Pauperismus und Polemik
Düster ist auch Tocquevilles Blick auf die Schweiz, die er noch vor dem Sonderbundskrieg von 1847 und der Bundesverfassung von 1848 betrachtet. Dieser Schweiz vor der nationalen Bundesverfassung spricht er jegliche Eignung zur Demokratie ab. Die bestehenden Formen direkter Demokratie sind für ihn Überbleibsel aus dem Mittelalter und gerade nicht Vorläufer einer modernen repräsentativen Demokratie. Das Krebsübel sieht er in der Dominanz der Kantone und der Schwäche der föderalen Regierung. Der Zusammenhang von Demokratie und Föderalismus bringt Tocqueville dazu, die Schweiz mit den Vereinigten Staaten zu vergleichen. Dort war bekanntlich mit den „Federalist Papers” und der Verfassung von 1787 eine andere Lösung gefunden worden, die die gesamtstaatliche gegenüber der einzelstaatlichen Ebene stärkte.
Besonders reizvoll ist ein Vergleich der Schweiz mit dem Staat New York. Beide kennen das allgemeine Wahlrecht und die Volkssouveränität. Doch während in New York das Volk nur an einem Tag seine Souveränität ausübt, indem es seine Delegierten wählt, geschieht dies in der Schweiz permanent, was den Einfluss lokaler Eliten immens steigert. Tocquevilles Sicht auf die Schweiz bleibt dem Dogma der repräsentativen Demokratie verpflichtet, wie er sie in den Vereinigten Staaten kennenlernte. Man darf bezweifeln, ob er damit das letzte Wort zur direkten Teilnahme an der Politik gesprochen hat, zumal wenn man auf etablierte demokratische Systeme mit niedriger Wahlbeteiligung schaut. Schließlich laufen der repräsentativen Demokratie die Wähler davon.
Auch in seiner Pauperismusschrift von 1835 herrscht ein polemischer Ton vor. In Bausch und Bogen verdammt er jede Form von Wohlfahrtspolitik, die an einer Annäherung der sozialen Lagen arbeitet. Geradezu diffamierend schreibt er über das England nach der Armengesetzgebung von 1834. Bei Tocquevilles Erlebnissen in einem englischen Gericht fühlt man sich an die Konstruktion der „welfare mothers” erinnert, die in den 1990er Jahren dafür herhalten mussten, das Ende des ehedem schmalen Sozialstaates zu begründen. Den Wohlfahrtstaat ordnet Tocqueville dem Sozialismus zu.
Zu den neuen Tönen, die in den „Kleinen Schriften” besser sichtbar werden, gehört aber die größere Aufgeschlossenheit gegenüber dem Wohlfahrtstaat während der Revolution von 1848. Als das Recht auf Arbeit in der Verfassungsgebenden Versammlung diskutiert wird, breitet Tocqueville reflexartig die höllischen Gefahren des Sozialismus aus. Weil aber ihre desparate soziale Lage zahllose Bürger an jeder politischen Betätigung gänzlich hindert, rückt er die Wohlfahrtspolitik dennoch in das Erbe der Französischen Revolution ein: „Schließlich hatte die Französische Revolution den Wunsch, der sie in den Augen der Völker nicht nur verehrungswürdig, sondern unsterblich macht, den Wunsch, die Wohlfahrt in die Politik einzuführen; sie führte die staatliche Sorgepflicht gegenüber den Armen ein, gegenüber jenen Bürgern, die Not leiden.”
Das Soziale erscheint so nicht nur als das immer wieder beschworene Gegenteil des Politischen, sondern auch als dessen Voraussetzung. In einer Parlamentsrede vorgetragen, verdankt sich diese Äußerung, wie sie nur in „Kleinen Schriften” zu finden ist, wohl eher dem Augenblick. Eine liberale Aneignung des Sozialstaatsgedankens wäre doch ein rechter Knallfrosch im Salon gewesen. Von einem sozialstaatlichen Wiederholungstäter Tocqueville ist nichts bekannt.
SIEGFRIED WEICHLEIN
ALEXIS DE TOCQUEVILLE: Kleine politische Schriften. Herausgegeben von Harald Bluhm. Schriften zur europäischen Ideengeschichte, Band 1. Akademie Verlag, Berlin 2006. 223 Seiten, 49,80 Euro.
Kleine Schriften, großer Kopf: Alexis de Tocqueville in einer Karikatur von Honoré Daumier Foto: Roger Viollet/AFP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.2006Auf einen Vulkan gebettet
Provokativ: Kleine politische Schriften Alexis de Tocquevilles
Vielleicht war das Bemerkenswerteste, was sich am 12. September 1848 in Paris zutrug, ein Raunen. Es kam auf im Palais Bourbon, die verfassunggebende Versammlung diskutierte die Frage, ob es ein "Recht auf Arbeit" geben solle, und Alexis de Tocqueville sprach über Demokratie, Sozialstaat und Sozialismus. Er zitierte ein großes Plädoyer für individuelle Freiheit: "Meiden Sie die alte Manie, alles regeln zu wollen, geben Sie der Freiheit der einzelnen das zurück, was ihr unrechtmäßig weggenommen wurde." Als er verriet, daß dieses Plädoyer ausgerechnet aus einer Rede Robespierres stammte, kam Unruhe auf. Und als Tocqueville hinzufügte, daß die Demokratie nur in einem "einzigen Land der Welt" wirklich "lebendig, aktiv und triumphierend" auftrete, nämlich "in Amerika", da eben gab es ein "Raunen" im Saal.
Tocqueville nahm seine Zeitgenossen in eine geistige Zange, deren Backen aus den Jakobinern einerseits, den Amerikanern andererseits bestanden: Das war im besten Sinne unverschämt. Seinen raunenden Zuhörern erging es wie Lebemännern, denen plötzlich die Barhocker unterm Gesäß wegrutschen. "Fünfzig Jahre" sei der "Einfluß" der Revolution, mit der Frankreich "ruckartig" die alten Bande zerrissen habe, in "fast allen Nationen Europas" vorherrschend gewesen. Dieses Privileg sah Tocqueville verspielt, das "Europa, das uns anschaut", lasse den Blick inzwischen weiterschweifen. Daß schon Tocqueville seinen Landsleuten den Verlust der Mitte quittierte, hindert sie nicht daran, ihn noch heute zu beklagen. Die Repräsentanten der Grande Nation wurden von ihm gewogen und zu leicht befunden - in einer Stunde, in der "wir uns", wie er wußte, "auf einen Vulkan betten". Hinter dem Raunen seiner Zuhörer, denen Tocqueville die Krise der Demokratie vorhielt, verbarg sich eine Verunsicherung, von der er selbst auch nicht frei war.
Da wir den "Vulkan" bis heute nicht verlassen haben, hat Tocqueville, der "einen festen und gelassenen Blick auf die Zukunft moderner Gesellschaften richten" wollte, auch uns im Auge. Man kennt ihn, der sich als "Liberalen einer neuen Art" charakterisierte, von seinen Büchern "Der alte Staat und die Revolution" und "Über die Demokratie in Amerika"; dieses Bild wird nun ergänzt durch eine Ausgabe der "Kleinen politischen Schriften", eine Fundgrube mit diversen Erstübersetzungen, die neben der erwähnten Rede auch Beiträge zur Kolonisierung Algeriens, zur Demokratie in der Schweiz und zur Massenarmut enthält.
Was aber hat Tocqueville geritten, als er Robespierre und Amerika gegen seine Zeitgenossen ins Feld führte? Der Sympathie mit der "blutigen Diktatur" der Jakobiner ist er unverdächtig, und doch gewinnt er deren Rhetorik eine Haltung ab, die er auch in Amerika findet und feiert. Hier wie dort entdeckt er eine Verteidigung des "Politischen" schlechthin, ein Beharren darauf, daß die moderne Gesellschaft nicht nur ein Handelsplatz oder eine Erlebnismaschine ist, sondern ein Projekt bürgerlicher Selbstbestimmung. Ebendieses Projekt sieht er zum Erliegen kommen, als er sich 1848 in Frankreich umschaut. "Sehen Sie nicht", fragt er, daß die Interessen der Arbeiter "statt politisch sozial geworden sind?" Und ist es nicht ein "großer Frevel" der Regierenden, die Willensbildung dem Lobbyismus zu überlassen und "bei den Menschen einzig die Saite des Privatinteresses anzuschlagen"? Den Mächtigen wie den Ohnmächtigen lastet Tocqueville dasselbe Vergehen an: das Vergessen des Politischen.
Um der Demokratie willen wendet Tocqueville sich gegen die Einschränkung des Wahlrechts und gegen die von Napoleon III. angestrebte Konzentration der Macht. Aktueller und brisanter sind seine Überlegungen zur sozialen Frage. Sie ergeben sich aus seinem Interesse für die kulturellen Lebensformen und historischen Umstände, die den "Geist der Regierung" prägen. Diese Umstände sind im Umbruch. Tocqueville, der Freund der Politik, wird zum Zeugen der industriellen Revolution, die ihn nachhaltig irritiert. Davon zeugt die "Denkschrift über den Pauperismus" von 1835, der bekannteste Text in diesem Band, der von den amerikanischen Konservativen als Munition bei ihrem Kampf gegen den Sozialstaat verwendet worden ist. Die dickste Ladung, die sich darin findet, lautet: "Jede Maßnahme, welche die gesetzliche Wohltätigkeit auf eine beständige Grundlage gründet und ihr eine administrative Form gibt, erzeugt eine untätige und faule Schicht, die auf Kosten der gewerbetreibenden und arbeitenden Schichten lebt."
Tocquevilles Kritik ist scharf, aber auch ein wenig ratlos. Er beschreibt den Mißbrauch von Hilfsangeboten und die Hochzüchtung von Bedürfnissen im Zuge wachsenden Wohlstands, aber auch die gesteigerten Risiken in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft, in der die wirtschaftliche Basis eines "englischen Herstellers" gefährdet ist, wenn "ein Inder" seine Konsumgewohnheiten ändert. Da die Menschen in der Moderne gar nicht mehr in der Lage sind, das Überleben im Notfall auf eigene Faust zu sichern, wird die Nothilfe zur gemeinschaftlichen Aufgabe. Tocqueville bevorzugt die private Wohltätigkeit gegenüber der öffentlichen und erkennt doch, daß sie "unzureichend und kraftlos" ist. So bleibt ihm nur die vage Hoffnung auf wirtschaftliche Prosperität, die alle in Lohn und Brot bringt.
Tocqueville mildert die scharfen Töne aus seiner früheren "Denkschrift", als er 1848 nochmals auf die soziale Frage zurückkommt. Er meint nun die "staatliche Sorgepflicht gegenüber den Armen" doch auf die politischen Ideale der "Französischen Revolution" zurückführen zu können. Immerhin ist das Elend auch deshalb zu bekämpfen, weil es die Bürger daran hindert, eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu spielen. So hält Tocqueville den "Wunsch, die Wohlfahrt in die Politik einzuführen" doch für "verehrungswürdig". "Ist das etwa Sozialismus?" fragt er, und als ihm manche Zuhörer entgegenhalten: "Ja! Ja! Nichts anderes!" antwortet er: "Nein! Nein! Nein, das ist nicht Sozialismus." Daß Tocqueville damit der Begründung des Sozialstaats aus dem Geist der Freiheit auf der Spur war, ist ihm im Sperrfeuer der Worthülsen damals allerdings entgangen.
In seinem Aufsatz über die Schweiz, der von scharfer Kritik geprägt ist, bemerkt Tocqueville: "Ist die Bühne auch klein, hat das Schauspiel doch Größe." Entsprechendes kann man über das Schauspiel sagen, das von diesen kleinen Schriften inszeniert wird. Erleichtert wird der Zugang zu ihnen auch durch die souveräne Einleitung Harald Bluhms; seine Querverweise zu Tocquevilles Buch "Über die Demokratie in Amerika", das derzeit leider nur in einer schrecklich gekürzten Reclam-Ausgabe lieferbar ist, sind treffsicher. Zu begrüßen ist, daß in den Fußnoten auf die Angabe biographischer Details zu Hinz, Kunz und Napoleon verzichtet worden ist. Die Frage der Kommentierung ist immer zweischneidig: Weniger ist meistens mehr, doch hier vermißt man hin und wieder ein klärendes Wort, zumal Tocquevilles Schriften tief in zeitgenössische Debatten verstrickt sind.
Hier ein Beispiel: Tocqueville erwähnt einen Sozialisten, der gefordert habe, "die körperlichen Bedürfnisse des Menschen wieder anzuerkennen", und einen anderen, demzufolge "das Ziel des Sozialismus und auch der Februarrevolution" darin bestehe, "uneingeschränkten Konsum zu ermöglichen". Der Leser würde es doch verdienen zu erfahren, daß es die Saint-Simonisten sind, die von den "körperlichen Bedürfnissen" oder - wie es im Original viel eindrucksvoller heißt - von der "Rehabilitierung des Fleisches" sprechen, und daß es sich beim Fürsprecher "uneingeschränkten Konsums" um Proudhon handelt. (Dieser spricht nicht, wie Tocqueville zitiert, von einer "consommation illimitée", sondern, extremer noch, von einer "onsommation insatiable".)
Höchst provokativ ist die Verschiebung der Fronten, die sich aus dieser Konsumkritik Tocquevilles ergibt. Denn wenn er den französischen Sozialisten vorwirft, daß sie die Freiheit in einem System zur Befriedigung "materieller Leidenschaften" zugrunde gehen lassen, so stößt er auf einen neuen "Despotismus" auch an ganz anderer Stelle, nämlich in dem von ihm geliebten Amerika. Selten ist eine Sorge mitreißender geschildert worden. Er erblicke dort, so schreibt er, "eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber. Was die Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, aber er fühlt sie nicht, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, daß er kein Vaterland mehr hat. Über diesen Menschen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, deren Genüsse zu sichern."
So stößt man plötzlich auf eine unheimliche Verwandtschaft zwischen Konsumgesellschaft und Sozialismus - eine Einsicht, die die aktuelle Debatte um den sozialen Zusammenhalt moderner Gesellschaften befruchten kann. Auch sie ist ein Beitrag zu der "neuen politischen Wissenschaft", die Tocqueville für die "neue Welt", die er entstehen sah, gefordert hat.
DIETER THOMÄ
Alexis de Tocqueville: "Kleine politische Schriften". Herausgegeben von Harald Bluhm unter Mitarbeit von Skadi Krause. Schriften zur europäischen Ideengeschichte, Band 1. Akademie Verlag, Berlin 2006. 223 S., geb., 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Provokativ: Kleine politische Schriften Alexis de Tocquevilles
Vielleicht war das Bemerkenswerteste, was sich am 12. September 1848 in Paris zutrug, ein Raunen. Es kam auf im Palais Bourbon, die verfassunggebende Versammlung diskutierte die Frage, ob es ein "Recht auf Arbeit" geben solle, und Alexis de Tocqueville sprach über Demokratie, Sozialstaat und Sozialismus. Er zitierte ein großes Plädoyer für individuelle Freiheit: "Meiden Sie die alte Manie, alles regeln zu wollen, geben Sie der Freiheit der einzelnen das zurück, was ihr unrechtmäßig weggenommen wurde." Als er verriet, daß dieses Plädoyer ausgerechnet aus einer Rede Robespierres stammte, kam Unruhe auf. Und als Tocqueville hinzufügte, daß die Demokratie nur in einem "einzigen Land der Welt" wirklich "lebendig, aktiv und triumphierend" auftrete, nämlich "in Amerika", da eben gab es ein "Raunen" im Saal.
Tocqueville nahm seine Zeitgenossen in eine geistige Zange, deren Backen aus den Jakobinern einerseits, den Amerikanern andererseits bestanden: Das war im besten Sinne unverschämt. Seinen raunenden Zuhörern erging es wie Lebemännern, denen plötzlich die Barhocker unterm Gesäß wegrutschen. "Fünfzig Jahre" sei der "Einfluß" der Revolution, mit der Frankreich "ruckartig" die alten Bande zerrissen habe, in "fast allen Nationen Europas" vorherrschend gewesen. Dieses Privileg sah Tocqueville verspielt, das "Europa, das uns anschaut", lasse den Blick inzwischen weiterschweifen. Daß schon Tocqueville seinen Landsleuten den Verlust der Mitte quittierte, hindert sie nicht daran, ihn noch heute zu beklagen. Die Repräsentanten der Grande Nation wurden von ihm gewogen und zu leicht befunden - in einer Stunde, in der "wir uns", wie er wußte, "auf einen Vulkan betten". Hinter dem Raunen seiner Zuhörer, denen Tocqueville die Krise der Demokratie vorhielt, verbarg sich eine Verunsicherung, von der er selbst auch nicht frei war.
Da wir den "Vulkan" bis heute nicht verlassen haben, hat Tocqueville, der "einen festen und gelassenen Blick auf die Zukunft moderner Gesellschaften richten" wollte, auch uns im Auge. Man kennt ihn, der sich als "Liberalen einer neuen Art" charakterisierte, von seinen Büchern "Der alte Staat und die Revolution" und "Über die Demokratie in Amerika"; dieses Bild wird nun ergänzt durch eine Ausgabe der "Kleinen politischen Schriften", eine Fundgrube mit diversen Erstübersetzungen, die neben der erwähnten Rede auch Beiträge zur Kolonisierung Algeriens, zur Demokratie in der Schweiz und zur Massenarmut enthält.
Was aber hat Tocqueville geritten, als er Robespierre und Amerika gegen seine Zeitgenossen ins Feld führte? Der Sympathie mit der "blutigen Diktatur" der Jakobiner ist er unverdächtig, und doch gewinnt er deren Rhetorik eine Haltung ab, die er auch in Amerika findet und feiert. Hier wie dort entdeckt er eine Verteidigung des "Politischen" schlechthin, ein Beharren darauf, daß die moderne Gesellschaft nicht nur ein Handelsplatz oder eine Erlebnismaschine ist, sondern ein Projekt bürgerlicher Selbstbestimmung. Ebendieses Projekt sieht er zum Erliegen kommen, als er sich 1848 in Frankreich umschaut. "Sehen Sie nicht", fragt er, daß die Interessen der Arbeiter "statt politisch sozial geworden sind?" Und ist es nicht ein "großer Frevel" der Regierenden, die Willensbildung dem Lobbyismus zu überlassen und "bei den Menschen einzig die Saite des Privatinteresses anzuschlagen"? Den Mächtigen wie den Ohnmächtigen lastet Tocqueville dasselbe Vergehen an: das Vergessen des Politischen.
Um der Demokratie willen wendet Tocqueville sich gegen die Einschränkung des Wahlrechts und gegen die von Napoleon III. angestrebte Konzentration der Macht. Aktueller und brisanter sind seine Überlegungen zur sozialen Frage. Sie ergeben sich aus seinem Interesse für die kulturellen Lebensformen und historischen Umstände, die den "Geist der Regierung" prägen. Diese Umstände sind im Umbruch. Tocqueville, der Freund der Politik, wird zum Zeugen der industriellen Revolution, die ihn nachhaltig irritiert. Davon zeugt die "Denkschrift über den Pauperismus" von 1835, der bekannteste Text in diesem Band, der von den amerikanischen Konservativen als Munition bei ihrem Kampf gegen den Sozialstaat verwendet worden ist. Die dickste Ladung, die sich darin findet, lautet: "Jede Maßnahme, welche die gesetzliche Wohltätigkeit auf eine beständige Grundlage gründet und ihr eine administrative Form gibt, erzeugt eine untätige und faule Schicht, die auf Kosten der gewerbetreibenden und arbeitenden Schichten lebt."
Tocquevilles Kritik ist scharf, aber auch ein wenig ratlos. Er beschreibt den Mißbrauch von Hilfsangeboten und die Hochzüchtung von Bedürfnissen im Zuge wachsenden Wohlstands, aber auch die gesteigerten Risiken in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft, in der die wirtschaftliche Basis eines "englischen Herstellers" gefährdet ist, wenn "ein Inder" seine Konsumgewohnheiten ändert. Da die Menschen in der Moderne gar nicht mehr in der Lage sind, das Überleben im Notfall auf eigene Faust zu sichern, wird die Nothilfe zur gemeinschaftlichen Aufgabe. Tocqueville bevorzugt die private Wohltätigkeit gegenüber der öffentlichen und erkennt doch, daß sie "unzureichend und kraftlos" ist. So bleibt ihm nur die vage Hoffnung auf wirtschaftliche Prosperität, die alle in Lohn und Brot bringt.
Tocqueville mildert die scharfen Töne aus seiner früheren "Denkschrift", als er 1848 nochmals auf die soziale Frage zurückkommt. Er meint nun die "staatliche Sorgepflicht gegenüber den Armen" doch auf die politischen Ideale der "Französischen Revolution" zurückführen zu können. Immerhin ist das Elend auch deshalb zu bekämpfen, weil es die Bürger daran hindert, eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu spielen. So hält Tocqueville den "Wunsch, die Wohlfahrt in die Politik einzuführen" doch für "verehrungswürdig". "Ist das etwa Sozialismus?" fragt er, und als ihm manche Zuhörer entgegenhalten: "Ja! Ja! Nichts anderes!" antwortet er: "Nein! Nein! Nein, das ist nicht Sozialismus." Daß Tocqueville damit der Begründung des Sozialstaats aus dem Geist der Freiheit auf der Spur war, ist ihm im Sperrfeuer der Worthülsen damals allerdings entgangen.
In seinem Aufsatz über die Schweiz, der von scharfer Kritik geprägt ist, bemerkt Tocqueville: "Ist die Bühne auch klein, hat das Schauspiel doch Größe." Entsprechendes kann man über das Schauspiel sagen, das von diesen kleinen Schriften inszeniert wird. Erleichtert wird der Zugang zu ihnen auch durch die souveräne Einleitung Harald Bluhms; seine Querverweise zu Tocquevilles Buch "Über die Demokratie in Amerika", das derzeit leider nur in einer schrecklich gekürzten Reclam-Ausgabe lieferbar ist, sind treffsicher. Zu begrüßen ist, daß in den Fußnoten auf die Angabe biographischer Details zu Hinz, Kunz und Napoleon verzichtet worden ist. Die Frage der Kommentierung ist immer zweischneidig: Weniger ist meistens mehr, doch hier vermißt man hin und wieder ein klärendes Wort, zumal Tocquevilles Schriften tief in zeitgenössische Debatten verstrickt sind.
Hier ein Beispiel: Tocqueville erwähnt einen Sozialisten, der gefordert habe, "die körperlichen Bedürfnisse des Menschen wieder anzuerkennen", und einen anderen, demzufolge "das Ziel des Sozialismus und auch der Februarrevolution" darin bestehe, "uneingeschränkten Konsum zu ermöglichen". Der Leser würde es doch verdienen zu erfahren, daß es die Saint-Simonisten sind, die von den "körperlichen Bedürfnissen" oder - wie es im Original viel eindrucksvoller heißt - von der "Rehabilitierung des Fleisches" sprechen, und daß es sich beim Fürsprecher "uneingeschränkten Konsums" um Proudhon handelt. (Dieser spricht nicht, wie Tocqueville zitiert, von einer "consommation illimitée", sondern, extremer noch, von einer "onsommation insatiable".)
Höchst provokativ ist die Verschiebung der Fronten, die sich aus dieser Konsumkritik Tocquevilles ergibt. Denn wenn er den französischen Sozialisten vorwirft, daß sie die Freiheit in einem System zur Befriedigung "materieller Leidenschaften" zugrunde gehen lassen, so stößt er auf einen neuen "Despotismus" auch an ganz anderer Stelle, nämlich in dem von ihm geliebten Amerika. Selten ist eine Sorge mitreißender geschildert worden. Er erblicke dort, so schreibt er, "eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber. Was die Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, aber er fühlt sie nicht, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, daß er kein Vaterland mehr hat. Über diesen Menschen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, deren Genüsse zu sichern."
So stößt man plötzlich auf eine unheimliche Verwandtschaft zwischen Konsumgesellschaft und Sozialismus - eine Einsicht, die die aktuelle Debatte um den sozialen Zusammenhalt moderner Gesellschaften befruchten kann. Auch sie ist ein Beitrag zu der "neuen politischen Wissenschaft", die Tocqueville für die "neue Welt", die er entstehen sah, gefordert hat.
DIETER THOMÄ
Alexis de Tocqueville: "Kleine politische Schriften". Herausgegeben von Harald Bluhm unter Mitarbeit von Skadi Krause. Schriften zur europäischen Ideengeschichte, Band 1. Akademie Verlag, Berlin 2006. 223 S., geb., 49,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dieter Thomä begrüßt die Publikation von Alexis de Tocquevilles "Kleinen politischen Schriften" nicht zuletzt deshalb, weil sie eine Fülle von zum ersten Mal ins Deutsche übersetzten Texten bietet. Der vor allem durch Schriften über die Demokratie in Amerika und den französischen Sozialismus bekannte Autor des 19. Jahrhunderts ist in diesem Sammelband auch durch Texte zur Kolonialisierung Algeriens, zur Schweizer Demokratie oder zur Massenarmut vertreten, erklärt der Rezensent. Ihn hat besonders interessiert, dass der Autor der Verwandtschaft zwischen dem amerikanischen Kapitalismus und dem von ihm stark kritisierten französischen Sozialismus auf der Spur war und charakterisiert die Position Tocquevilles, der sich gegen reine Bedürfnisbefriedigung wendete, als äußerst "provokativ". Viel Lob hat Thomä für die Einleitung des Herausgebers und dessen in biografischer Hinsicht zurückhaltenden Fußnoten übrig, auch wenn er sich manchmal etwas ausführlichere Erklärungen insbesondere bei den zeitgenössischen Debatten gewünscht hätte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Diese Ausgabe ist "eine Fundgrube mit diversen Erstübersetzungen. ... Erleichtert wird der Zugang zu ihnen durch die souveräne Einleitung Harald Bluhms; seine Querverweise zu Tocquevilles Buch 'Über die Demokratie in Amerika' ... sind treffsicher." Dieter Thomä in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23. Oktober 2006) Tocquevilles kleine Abhandlungen "sind nicht überholt. Harald Bluhm hat diese 'Kleinen politischen Schriften' nun, wohlkommentiert, in einem Band zugänglich gemacht." Neue Zürcher Zeitung (9. Dezember 2006) "Die hier sorgfältig edierten Schriften verändern unser Verständnis des Werkes von Tocqueville nicht im ganzen, aber sie vertiefen es und machen seine Entstehung durchsichtiger." Siegfried Weichlein in: Süddeutsche Zeitung (12.Februar 2007) "Seine vor einigen Monaten von Harald Bluhm unter dem Titel 'Kleine politische Schriften' präsentierten Reden und Aufsätze zeigen [...] einen bisher eher unbekannten [...] und darüber hinaus höchst aktuellen Autor. [...] Die jetzt vorliegende Ausgabe der Reden und Aufsätze Tocquevilles zeichnet die Entwicklung seines Denkens nach und lässt uns neben dem Autor der beiden Hauptwerke über die Demokratie in Amerika und das Erbe des Absolutismus im revolutionären Frankreich den skeptischen Betrachter und kritischen Kommentator seiner Gegenwart entdecken, deren Erbe unsere Gegenwart noch lange beschäftigt." Clemens Klünemann in: Dokumente (1/2007)