Philipp Worovsky ist der Held in Arno Geigers frech-witzigem Debütroman. Ein Taugenichts in den neunziger Jahren, der der abgründigen Leere seiner Generation mit Ironie, Phantasie und "Notlügen" begegnet. Doch Verwirrung kommt mit dem Mädchen Lila und ihrer Vorliebe für klirrende Fensterscheiben. Sie erweist sich als Virtuosin in der Kunst, mit diesem ordentlichen, allzu vorgezeichneten Leben einmal gründlich Karussell zu fahren. Ein moderner Schelmenroman, von einem, der nichts vom Leben erwartet und doch alles will.
Ein Buch aus Nichts: Arno Geiger lehrt das Karussellfahren
"Dein Leben kommt mir vor wie Buchattrappen in Möbelgeschäften, hohle Pappdinger. Nichts dahinter, einfach null, alles talmi." So räsoniert der weibliche Frohsinn. "Buchattrappen? Was sie nur hat? Mein Leben ist ein Roman!" So antwortet der spätpubertäre Phantast. Da scheint einer von den sommerlichen Geschehnissen des Jahres 1989 stark unterfordert zu sein. Wie könnte es auch anders sein, wenn einem die Wirklichkeit dermaßen beliebig und unverbindlich, jeder Tag auswechselbar erscheint.
Der Jüngling kommt aus dem Kino, wo er Dantons Tod im Film von Wajda erlebt hat, fühlt sich irgendwie angesprochen von Dantons Satz: "Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen." Denkt sich zwei Jahrhunderte zurück in die Zeiten des Badewannen-Revolutionärs Marat. Fühlt aber eher mit dem unglückseligen, das Leben vertrödelnden König Ludwig XVI., der am Tag, als die Bastille gestürmt wird, in sein Tagebuch ein einziges Wort schreibt - "rien", nichts.
Was sie auch tun, der König (Pinsel geheißen, oder auch Narr) wie der Langweiler Philipp Worovsky - alles vergeblich. Wenn es zunächst auch anders aussieht, weil es nämlich gelingt, mit einem Pflasterstein die letzte Fensterscheibe im Abbruchhaus, einer modernen Bastille, einzuwerfen. Das Klirren weckt erotische Gefühle. Doch siegen Müdigkeit oder Bequemlichkeit über die Hormone. Überhaupt wird immer nichts, wie es hätte werden können. Auch andere Eroberungsfeldzüge mißglücken.
Im Selbstgespräch entsteht der Roman eines frustrierten Taugenichts, den die Angst vor Langeweile zum Kompilator privater und historischer Geschehnisse werden läßt. Neckisch weisen die achtzehn Kapitelüberschriften den Weg nach Waterloo und auf die Dachterrasse eines Wiener Hochhauses. Da legt zunächst die Revolution den Gang ein und fährt los. Der Flucht des Königs folgt das Fest der Unvernunft. Die erregenden Hundert Tage im feldherrlichen Leben Napoleons dauern nur Augenblicke. Und die "Inseln fern" darf man sich im letzten Kapitel als unbekannte Bahnhöfe vorstellen.
Jedes Romankapitel hat ein eigenes Motto, alle zusammen könnten, wie in den alten Volksbüchern von Fortunatus oder den Heymonskindern, die Kurzfassung des Romans abgeben. Die Revolution verhieß, so Talleyrand, neue Horizonte. Ich folgte ihr und wagte manches. Oder von Marat die Weisung: Seid frei und glücklich, das ist alles, was ich verlange. Auch der alte Lukian spricht dem flatterhaften Jüngling aus dem Herzen: Etwas, was der Rede wert war, hatte ich nicht erlebt und konnte also nichts Wahres berichten. Und wie für Wedekinds Hochstapler, den Marquis von Keith, ist auch für Philipp Worovsky das Leben eine Rutschbahn. Oder doch eher ein Karussell, das sich nur dann dreht, wenn es angeschoben wird?
Auch wer die Lektüregeduld aufbringt für diese zweihundertachtunddreißig Seiten über Nervensägen und tumbe Toren, wird in der Kleinen Schule des Karussellfahrens nicht schlau. Der Karussell-Schwarzfahrer, dreiundzwanzig Jahre alt, ist ständig auf der Suche nach weiblichen Begleiterinnen, quasselt in einem fort von sich und davon, daß er unter dem Fehlen von Turbulenzen leide, nicht aber unter den Turbulenzen selbst, träten sie denn überhaupt jemals ein, und daß er deshalb gezwungen sei, sich in höhere Dummheiten zu flüchten im unerheblichen Jahr 1989, dem Säkularjubiläum der richtigen Revolution. Die aber auch nicht so doll, wie die Geschichtsbücher ausweisen, gewesen sein kann. Mit sich selber und mit dem Leser steht er auf du und du, auch bei schwierigen Aussagen: So leicht läßt du dich nicht täuschen und schon gar nicht mit Wirklichkeit, die sich den Anschein von Fiktion gibt.
Aufs Karussell werden als Mitfahrerinnen Lila und Lana gebeten, auch Lolly, Lena und Lu. Und schließlich eine mit dem doch recht untypischen Mädchennamen Napoleon, die Frau aller Frauen, weil sie will, was sie noch nicht weiß, und weil sie rücksichtslos Terrain erobert, auf dem das Karussell sich dann ein einziges Mal rasant drehen kann. Das Schlußwort - das Mädchen Napoleon hat sich gerade mit dem Frühzug davongemacht - behauptet Bildung und stammt vom Dichter Grabbe: "Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch, und wir ständen, aus ihr hinausgeworfen, als die Leser davor."
Arno Geiger aus Bregenz, der Autor, ist nicht viel älter als sein Duzfreund Worovsky. Er steht am Ende seines ersten, mutwillig so überaus belanglosen Romans auch mit leeren Händen da. Die Geschichte ist ihm entglitten. Wie kann er sich beim Leser entschuldigen? Er droht ihm mehr als daß er bittet, doch ja nichts aussetzen zu wollen an den Karussellfahrversuchen. Der Einwand könnte Hölderlin oder Allen Ginsberg treffen, Büchner oder David Bowie, Bernard Shaw oder Aristoteles Onassis und wie die siebenundvierzig anderen heißen mögen, die ebenfalls, vom Leser weitgehend unbemerkt, beigetragen haben sollen. Doch ungewiß auch dies, wie so vieles in dieser Geschichte über Berührungsangst und Jahrmarktsamüsement. So mancher Name sei ohnehin nur aufgeführt, weil er so schön klingt.
"Worovsky, du bist ein Spiegelfechter. In Wirklichkeit lebst du am Leben weit vorbei" - er weiß es selber und sagt es. In der Schule des Karussellfahrens hat er vielleicht aufgepaßt. Doch eigentlich hat er nichts gelernt. ARND RÜHLE
Arno Geiger: "Kleine Schule des Karussellfahrens". Roman. Hanser Verlag, München 1997. 248 S., geb., 36,- DM.
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