"Berlin in den zwanziger Jahren: Johannes und seine Freundin Lämmchen erwarten ein Kind - es soll flugs geheiratet werden. Persönlicher Armut, beginnender Weltwirtschaftskrise und den aufkeimenden Nazis zum Trotz führt Lämmchen sich und ihren Mann mit Mut im Herzen in eine ungewisse Zukunft." Redaktion Gröls-Verlag (Edition Werke der Weltliteratur)
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
" Jetzt gibt es endlich die Originalfassung [...] eine Sensation! " NDR Kulturjournal, 06.06.2016 "Dass das Original jetzt zu lesen ist, ist großartig." Frankfurter Allgemeine, 12.06.2016 "['Kleiner Mann - was nun' wird] facettenreicher. [Fallada] geht mehr in die Tiefe." Elke Schlingsog, Deutschlandradio Kultur, 16.06.2016 "Das Buch ist konkreter geworden und wirkt nun deutlich authentischer in seiner Zeit verankert [...]" Marc Reichwein, Die Welt, 17.06.2016 "[...] erstmals ungekürzt. Ganze Kapitel sind neu zu entdecken." Berliner Zeitung, 18.06.2016 "Fallada neu: länger, reicher, authentischer" Kieler Nachrichten, 18.06.2016 "[...] man hat das große Glück, ein Buch, das man glaubte schon zu kennen, noch mal lesen zu können, als wäre es neu." Volker Weidermann, ZDF Literarisches Quartett, 24.06.2016 " Der Original-Fallada ist nun wieder viel klarer, konkreter, schärfer. " Peter Zander, Berliner Morgenpost, 30.07.2016 " Auf einmal ist alles viel greifbarer, detailreicher, konkreter und damit glaubwürdiger. " Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 03.08.2016
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.08.2016Herzenskälte in der Herrenabteilung
Hans Falladas Erfolgsroman aus der Weltwirtschaftskrise „Kleiner Mann – was nun?“ ist so grell wie berührend.
Die ungekürzte Neuausgabe zeigt nun erstmals das Schwanken der Figuren zwischen Kommunismus und kleinem Glück
VON GUSTAV SEIBT
Hans Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“, erschienen im Sommer 1932, ein halbes Jahr vor Hitlers Machtergreifung, war der letzte große Bucherfolg der Weimarer Republik. Zugleich ist es das Buch, das eine der Hauptursachen für ihren Untergang, das soziale Elend in der Weltwirtschaftskrise seit 1929, so grausam lebendig werden lässt, dass die Lektüre immer noch zu einer Quälerei werden kann, allerdings zu einer ziemlich lustvollen Quälerei. Wie schrecklich das doch alles ist!
Was Johannes Pinneberg, der Verkäufer für Herrenbekleidung, und sein geliebtes Lämmchen, die, weil ein ungeplantes Kind unterwegs ist, eilends geheiratete Freundin, erdulden müssen, ist nicht nur Armut, nicht nur Demütigung (noch schlimmer als die Armut), es ist vor allem die Dauerdrohung des Unheils, die deshalb über ihrer ganzen Existenz schwebt. Das Gefühl von Ausgeliefertheit, das Fallada so plastisch schildert, erinnert bereits an die Erfahrungen der Diktatur, die bevorstand. Dieses Gefühl wurde zum Grundton aller Bücher Falladas.
Noch hat Pinneberg Arbeit, erst in der Provinz an der Küste, dann in Berlin in einem großen Kaufhaus, aber diese kümmerlich bezahlte Arbeit hat er eben nur auf Abruf, nach Maßgabe einer wirtschaftlichen Großlage, die hier die alten Schicksalsmächte der Tragödie ersetzt. Was macht das mit den kleinen Leuten? Sie werden böse, sie werden schlecht im Umgang miteinander. Alles wird vergiftet: die kleinen Erfolge, weil sie nie genügen. Die wenigen Freuden, weil die Nachbarschaft des Elends der anderen so nah ist. Der Mikrokosmos des Kaufhauses, schon fast heutig optimiert mit Verkaufsquoten und Personalberatern, wird zur menschlichen Hölle, beherrscht von Neid und Denunziationen, die unbarmherzig alle Schäbigkeit und Herzenskälte ans Licht bringt.
Fallada, das zeigt auch diese Neuausgabe, die den spektakulären Erfolg fortsetzt, der seit Erscheinen der Urfassung des Romans „Niemand stirbt für sich allein“ 2012 auch international zu einer erstaunlichen Wiedergeburt führte, ist ein greller Autor. Man rechnet ihn der Neuen Sachlichkeit zu, weil er sich von den expressionistischen Sprachexperimenten seiner Epoche entfernte, weil er genau beobachtete und mündliche Rede mimetisch verwendete. Eigentlich aber war er ein später Naturalist, er braute immer noch Säfte aus dem Sirup von Émile Zola. Die Schnoddrigkeit ist oberflächlich, sie wird zum Einfallstor der Berliner Jammergefühligkeit, die alles Leiden und auch die Hoffnungen auf ein kleines bisschen Glück gnadenlos artikuliert. Großartig ist das – und gelegentlich etwas dick aufgetragen.
Die Handlung – absehbar und doch unerbittlich spannend – umfasst wenig mehr als den Absturz der jungen Kleinfamilie in die Arbeitslosigkeit, aus dem Angestelltendasein mit kleiner Wohnung und kärgstem Auskommen hinunter ins bare Elend. Ja, Berlin mit Tingeltangel und Prostitution, mit bösen Reichen und dubioser Halbwelt kommt auch in den Blick, aber es ist nicht diese Großstadtmalerei, die beim Wiederlesen am meisten entzückt. Viel bewegender ist, wie Falladas junge Helden leben lernen, und das geht vom Kochen bis zum Aufstellen eines Haushaltsplan unter den Bedingungen äußersten Geldmangels.
Hier trifft der Sozialromancier den Punkt, der seinem Buch das historische Überleben sichert, den realen humanen Boden unterhalb manchen sonst schwer erträglichen Kitschs. Gerade dort, wo die Geschichte bis ins Zahlenmaterial hinein genau ist, bleibt sie erstaunlich frisch – und spätestens hier werden etliche Leser das Fehlen eines Kommentars bedauern, der die grausame Faktizität mit der Statistik des Deutschen Reiches von 1932 abgleicht.
Die Neuedition, die Carsten Gansel aus dem im Fallada-Archiv in Carwitz / Neubrandenburg erhaltenen Originalmanuskript erstellt hat, fügt der bisher kursierenden Version ein weiteres Fünftel hinzu, der Umfang erhöht sich von knapp vierhundert auf fast fünfhundert Seiten. Das ist keine Kleinigkeit, und so ist eine der ersten Überraschungen, dass sich der Grundcharakter des einfach-wuchtigen Buches doch erstaunlich wenig ändert.
Leider verzichtet die Ausgabe auf eine präzise Aufstellung der Abweichungen, nicht einmal eine Liste im Anhang gibt es, wie sie inzwischen jedes Reclam-Heft bereitstellt. Wer nicht selber Seite für Seite vergleichen will – es lohnt sich! –, muss sich auf ein lesenswertes Nachwort und darin vorgeführte Beispiele verlassen. Kaum eine Seite blieb unberührt auf dem Weg vom Manuskript über den stark gekürzten Vorabdruck in der Vossischen Zeitung bis zur Buchausgabe im Rowohlt Verlag. Fallada schrieb, wie gewohnt, rauschhaft-konzentriert, oft mehr als sechs Druckseiten pro Tag. Hinterher war er zu Konzessionen bereit, und diese betrafen neben zahllosen stilistischen Retuschen vor allem drei Hauptgebiete.
Erstens wurden sittlich anstößige Passagen stark gekürzt, und diese Streichungen erstreckten sich nicht nur auf das Berliner Nachtleben mit der unterm Druck der Armut verbreiteten Prostitution, sondern auch auf einen Ausflug in die exzentrische Nacktkultur, der Herr Heilbutt, der hilfreiche Kollege Pinnebergs, frönt. Zweitens wurden einige ästhetische Exkurse zu Kinoerlebnissen und Lektüren – Pinneberg ist Robinson-Crusoe-Fan, die einsame Insel wird ihm zur Rettungsfantasie – eingedampft, auch diese höchst aufschlussreich. Die Hinweise auf die zeitgenössische Begeisterung für Charlie Chaplin markiert den historischen Moment besonders genau, und hier ersetzt das Nachwort auch den fehlenden Stellenkommentar.
Vor allem interessant, allerdings auch besonders kleinteilig sind die Redigate zu politischen Fragen. Präzise beschreibt der Sozialdemokrat Fallada die Spaltungen dieser Gesellschaft: Nazis betreten die Bühne, der Antisemitismus ist hässlich präsent, als allgemeine Redensart und Haltung, der Klassengegensatz von Arbeitern und Angestellten, damals ein viel diskutiertes Thema, wird bis in – erläuterungsbedürftige – organisatorische Einzelheiten ausgebreitet. Und am interessantesten: Lämmchen, die sanfte, immer stärker werdende Frau, erklärt sich mit radikaler Beiläufigkeit zur Kommunistin, ein Zug, der damals schon, unter den Hindenburg’schen Präsidialkabinetten, zu brisant war, um ihn zu exponieren.
Die Urfassung zeigt also kein ganz anderes Buch, aber sie wirkt wie ein neues Sehgerät auf ein ermüdetes Leserauge: Auf einmal ist alles viel greifbarer, detailreicher, konkreter und damit glaubwürdiger. Der schlichte poetische Kern, das junge Leben im Gegensatz zur Niedertracht der Verhältnisse, kann dabei nur gewinnen. Unheimlich aktuell sind einzelne Passagen, so eine Empfindung Lämmchens: „Wie kann man lachen, in solcher Welt mit sanierten Wirtschaftsführern, die tausend Fehler gemacht haben, und kleinen entwürdigten, zertretenen Leuten, die immer ihr Bestes taten?“
Dabei zeigt Fallada durchaus, dass der Sozialstaat schon funktionierte: Schwangerschaft und Geburt des Kindes der Pinnebergs werden anstandslos begleitet, die Krankenkasse zahlt; auch ein Arbeitslosengeld gibt es, die Details sind fast Hartz-IV-pedantisch. Und trotzdem ist das System entwürdigend, das ist sogar ein Kern des Problems: die Ungerechtigkeit in der Achtung. Leistungsgerechte Bezahlung wird, wenn es gleichzeitig sechs Millionen Arbeitslose gibt, auch dann zum Hohn, wenn sie so präzise durchgerechnet ist wie in den Quoten von Pinnebergs Kaufhaus.
Die Wucht dieses Romans, seine unmittelbare Wirkung aufs Gefühl, hängt allerdings eng mit seiner Begrenztheit zusammen. Die Wirtschaft ist hier das Schicksal, aber sie bleibt ein unbegriffenes Schicksal. Man sieht die Auswirkungen auf das Verhalten, sogar auf die Physiognomien: Eine wohlhabende Frau „sieht aus wie alle Frauen, die nichts erlebt haben, nicht schlimmer und nicht besser“.
Im Vergleich zu seiner sozialrealistischen Herkunft aus dem französisch-englischen Roman des 19. Jahrhunderts erscheint Falladas Kunst wie ohne Fundament. Ein Zola hätte versucht, die Weltwirtschaftskrise zu erklären, als großen kollektiven Vorgang mit gewaltigen Ursachenketten. Bei Fallada ist sie einfach da. Seine eigene, fast körperliche Reaktion darauf sind frühkindliche Rettungsfantasien, die heimelige Wohnung unterm Dach, die Insel in der Südsee, eine Höhle fern von den Menschen. Ein zarter Zug von Regression antwortet auf die Schicksalsschläge der Epoche.
Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? Roman. Ungekürzte Neuausgabe mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 557 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Oberflächliche Schnoddrigkeit
wird zum Einfallstor gnadenloser
Berliner Jammergefühligkeit
Die Wirtschaftslage ist hier
das Schicksal, aber es bleibt ein
unbegriffenes Schicksal
Absturz einer Kleinfamilie: Jutta Hoffmann als Lämmchen und Arno Wyzniewski als Pinneberg in der Defa-Verfilmung des Romans, 1967.
Foto: Marianne Winkler
Hans Fallada wurde 1893 als Rudolf Ditzen in Greifswald geboren. Der in etliche Sprachen übersetzte Roman „Kleiner Mann – was nun?“ (1932) machte ihn weltberühmt.
Foto: SZ Photo Scherl
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hans Falladas Erfolgsroman aus der Weltwirtschaftskrise „Kleiner Mann – was nun?“ ist so grell wie berührend.
Die ungekürzte Neuausgabe zeigt nun erstmals das Schwanken der Figuren zwischen Kommunismus und kleinem Glück
VON GUSTAV SEIBT
Hans Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“, erschienen im Sommer 1932, ein halbes Jahr vor Hitlers Machtergreifung, war der letzte große Bucherfolg der Weimarer Republik. Zugleich ist es das Buch, das eine der Hauptursachen für ihren Untergang, das soziale Elend in der Weltwirtschaftskrise seit 1929, so grausam lebendig werden lässt, dass die Lektüre immer noch zu einer Quälerei werden kann, allerdings zu einer ziemlich lustvollen Quälerei. Wie schrecklich das doch alles ist!
Was Johannes Pinneberg, der Verkäufer für Herrenbekleidung, und sein geliebtes Lämmchen, die, weil ein ungeplantes Kind unterwegs ist, eilends geheiratete Freundin, erdulden müssen, ist nicht nur Armut, nicht nur Demütigung (noch schlimmer als die Armut), es ist vor allem die Dauerdrohung des Unheils, die deshalb über ihrer ganzen Existenz schwebt. Das Gefühl von Ausgeliefertheit, das Fallada so plastisch schildert, erinnert bereits an die Erfahrungen der Diktatur, die bevorstand. Dieses Gefühl wurde zum Grundton aller Bücher Falladas.
Noch hat Pinneberg Arbeit, erst in der Provinz an der Küste, dann in Berlin in einem großen Kaufhaus, aber diese kümmerlich bezahlte Arbeit hat er eben nur auf Abruf, nach Maßgabe einer wirtschaftlichen Großlage, die hier die alten Schicksalsmächte der Tragödie ersetzt. Was macht das mit den kleinen Leuten? Sie werden böse, sie werden schlecht im Umgang miteinander. Alles wird vergiftet: die kleinen Erfolge, weil sie nie genügen. Die wenigen Freuden, weil die Nachbarschaft des Elends der anderen so nah ist. Der Mikrokosmos des Kaufhauses, schon fast heutig optimiert mit Verkaufsquoten und Personalberatern, wird zur menschlichen Hölle, beherrscht von Neid und Denunziationen, die unbarmherzig alle Schäbigkeit und Herzenskälte ans Licht bringt.
Fallada, das zeigt auch diese Neuausgabe, die den spektakulären Erfolg fortsetzt, der seit Erscheinen der Urfassung des Romans „Niemand stirbt für sich allein“ 2012 auch international zu einer erstaunlichen Wiedergeburt führte, ist ein greller Autor. Man rechnet ihn der Neuen Sachlichkeit zu, weil er sich von den expressionistischen Sprachexperimenten seiner Epoche entfernte, weil er genau beobachtete und mündliche Rede mimetisch verwendete. Eigentlich aber war er ein später Naturalist, er braute immer noch Säfte aus dem Sirup von Émile Zola. Die Schnoddrigkeit ist oberflächlich, sie wird zum Einfallstor der Berliner Jammergefühligkeit, die alles Leiden und auch die Hoffnungen auf ein kleines bisschen Glück gnadenlos artikuliert. Großartig ist das – und gelegentlich etwas dick aufgetragen.
Die Handlung – absehbar und doch unerbittlich spannend – umfasst wenig mehr als den Absturz der jungen Kleinfamilie in die Arbeitslosigkeit, aus dem Angestelltendasein mit kleiner Wohnung und kärgstem Auskommen hinunter ins bare Elend. Ja, Berlin mit Tingeltangel und Prostitution, mit bösen Reichen und dubioser Halbwelt kommt auch in den Blick, aber es ist nicht diese Großstadtmalerei, die beim Wiederlesen am meisten entzückt. Viel bewegender ist, wie Falladas junge Helden leben lernen, und das geht vom Kochen bis zum Aufstellen eines Haushaltsplan unter den Bedingungen äußersten Geldmangels.
Hier trifft der Sozialromancier den Punkt, der seinem Buch das historische Überleben sichert, den realen humanen Boden unterhalb manchen sonst schwer erträglichen Kitschs. Gerade dort, wo die Geschichte bis ins Zahlenmaterial hinein genau ist, bleibt sie erstaunlich frisch – und spätestens hier werden etliche Leser das Fehlen eines Kommentars bedauern, der die grausame Faktizität mit der Statistik des Deutschen Reiches von 1932 abgleicht.
Die Neuedition, die Carsten Gansel aus dem im Fallada-Archiv in Carwitz / Neubrandenburg erhaltenen Originalmanuskript erstellt hat, fügt der bisher kursierenden Version ein weiteres Fünftel hinzu, der Umfang erhöht sich von knapp vierhundert auf fast fünfhundert Seiten. Das ist keine Kleinigkeit, und so ist eine der ersten Überraschungen, dass sich der Grundcharakter des einfach-wuchtigen Buches doch erstaunlich wenig ändert.
Leider verzichtet die Ausgabe auf eine präzise Aufstellung der Abweichungen, nicht einmal eine Liste im Anhang gibt es, wie sie inzwischen jedes Reclam-Heft bereitstellt. Wer nicht selber Seite für Seite vergleichen will – es lohnt sich! –, muss sich auf ein lesenswertes Nachwort und darin vorgeführte Beispiele verlassen. Kaum eine Seite blieb unberührt auf dem Weg vom Manuskript über den stark gekürzten Vorabdruck in der Vossischen Zeitung bis zur Buchausgabe im Rowohlt Verlag. Fallada schrieb, wie gewohnt, rauschhaft-konzentriert, oft mehr als sechs Druckseiten pro Tag. Hinterher war er zu Konzessionen bereit, und diese betrafen neben zahllosen stilistischen Retuschen vor allem drei Hauptgebiete.
Erstens wurden sittlich anstößige Passagen stark gekürzt, und diese Streichungen erstreckten sich nicht nur auf das Berliner Nachtleben mit der unterm Druck der Armut verbreiteten Prostitution, sondern auch auf einen Ausflug in die exzentrische Nacktkultur, der Herr Heilbutt, der hilfreiche Kollege Pinnebergs, frönt. Zweitens wurden einige ästhetische Exkurse zu Kinoerlebnissen und Lektüren – Pinneberg ist Robinson-Crusoe-Fan, die einsame Insel wird ihm zur Rettungsfantasie – eingedampft, auch diese höchst aufschlussreich. Die Hinweise auf die zeitgenössische Begeisterung für Charlie Chaplin markiert den historischen Moment besonders genau, und hier ersetzt das Nachwort auch den fehlenden Stellenkommentar.
Vor allem interessant, allerdings auch besonders kleinteilig sind die Redigate zu politischen Fragen. Präzise beschreibt der Sozialdemokrat Fallada die Spaltungen dieser Gesellschaft: Nazis betreten die Bühne, der Antisemitismus ist hässlich präsent, als allgemeine Redensart und Haltung, der Klassengegensatz von Arbeitern und Angestellten, damals ein viel diskutiertes Thema, wird bis in – erläuterungsbedürftige – organisatorische Einzelheiten ausgebreitet. Und am interessantesten: Lämmchen, die sanfte, immer stärker werdende Frau, erklärt sich mit radikaler Beiläufigkeit zur Kommunistin, ein Zug, der damals schon, unter den Hindenburg’schen Präsidialkabinetten, zu brisant war, um ihn zu exponieren.
Die Urfassung zeigt also kein ganz anderes Buch, aber sie wirkt wie ein neues Sehgerät auf ein ermüdetes Leserauge: Auf einmal ist alles viel greifbarer, detailreicher, konkreter und damit glaubwürdiger. Der schlichte poetische Kern, das junge Leben im Gegensatz zur Niedertracht der Verhältnisse, kann dabei nur gewinnen. Unheimlich aktuell sind einzelne Passagen, so eine Empfindung Lämmchens: „Wie kann man lachen, in solcher Welt mit sanierten Wirtschaftsführern, die tausend Fehler gemacht haben, und kleinen entwürdigten, zertretenen Leuten, die immer ihr Bestes taten?“
Dabei zeigt Fallada durchaus, dass der Sozialstaat schon funktionierte: Schwangerschaft und Geburt des Kindes der Pinnebergs werden anstandslos begleitet, die Krankenkasse zahlt; auch ein Arbeitslosengeld gibt es, die Details sind fast Hartz-IV-pedantisch. Und trotzdem ist das System entwürdigend, das ist sogar ein Kern des Problems: die Ungerechtigkeit in der Achtung. Leistungsgerechte Bezahlung wird, wenn es gleichzeitig sechs Millionen Arbeitslose gibt, auch dann zum Hohn, wenn sie so präzise durchgerechnet ist wie in den Quoten von Pinnebergs Kaufhaus.
Die Wucht dieses Romans, seine unmittelbare Wirkung aufs Gefühl, hängt allerdings eng mit seiner Begrenztheit zusammen. Die Wirtschaft ist hier das Schicksal, aber sie bleibt ein unbegriffenes Schicksal. Man sieht die Auswirkungen auf das Verhalten, sogar auf die Physiognomien: Eine wohlhabende Frau „sieht aus wie alle Frauen, die nichts erlebt haben, nicht schlimmer und nicht besser“.
Im Vergleich zu seiner sozialrealistischen Herkunft aus dem französisch-englischen Roman des 19. Jahrhunderts erscheint Falladas Kunst wie ohne Fundament. Ein Zola hätte versucht, die Weltwirtschaftskrise zu erklären, als großen kollektiven Vorgang mit gewaltigen Ursachenketten. Bei Fallada ist sie einfach da. Seine eigene, fast körperliche Reaktion darauf sind frühkindliche Rettungsfantasien, die heimelige Wohnung unterm Dach, die Insel in der Südsee, eine Höhle fern von den Menschen. Ein zarter Zug von Regression antwortet auf die Schicksalsschläge der Epoche.
Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? Roman. Ungekürzte Neuausgabe mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 557 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Oberflächliche Schnoddrigkeit
wird zum Einfallstor gnadenloser
Berliner Jammergefühligkeit
Die Wirtschaftslage ist hier
das Schicksal, aber es bleibt ein
unbegriffenes Schicksal
Absturz einer Kleinfamilie: Jutta Hoffmann als Lämmchen und Arno Wyzniewski als Pinneberg in der Defa-Verfilmung des Romans, 1967.
Foto: Marianne Winkler
Hans Fallada wurde 1893 als Rudolf Ditzen in Greifswald geboren. Der in etliche Sprachen übersetzte Roman „Kleiner Mann – was nun?“ (1932) machte ihn weltberühmt.
Foto: SZ Photo Scherl
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2016Pinneberg und wie er die Welt sah
Hans Falladas Roman "Kleiner Mann - was nun?" wurde für die Ausgaben der NS-Zeit wesentlich gekürzt. In der nun veröffentlichten Originalfassung war besonders die Hauptfigur vielschichtiger.
Da muss irgendwas nicht richtig sein, lass uns noch mal rechnen", heißt es im Prolog. Dann rechnen der Angestellte namens Pinneberg und sein "Lämmchen" nächtelang, während der Mond in die kleine Küche scheint, in der sie sitzen. Für einen Liebesroman ist das recht ungewöhnlich, und tatsächlich hebt das Buch dort an, wo andere aufhören, im Moment, in dem sich die Liebenden längst gefunden haben, vom Rausch des Sichverliebens, des Hoffens und Einanderfindens erfahren wir nichts. Wohl aber davon, was das alles kosten wird: Einerseits ist das Leben natürlich günstiger, wenn man zusammenlebt und einmal für zwei kocht statt zweimal für einen, bei der Miete ist es genauso. Aber was alles so anfällt, wenn man als Ehepaar lebt mit allem, was dazugehört: Heizung, Strom, Kleidung, Wäsche, ein Radio wäre schön, eine Zeitung sollte man sich halten, und wenn die Schuhe neu besohlt werden müssen, reißt auch das ein Loch in die Kasse. All das besprechen sie an ihrem Verlobungsabend, und die Braut offenbart dabei ein stupendes Talent zum Kopfrechnen.
Derart sachlich ist die Romanze beschaffen, die Hans Fallada in seinem Roman "Kleiner Mann - was nun?" beschreibt, der im August 1930 bis November 1932 spielt und bereits im April 1932 in der "Vossischen Zeitung", im Juni desselben Jahres dann als Buch erschienen war. Falladas Roman erwies sich für den psychisch labilen, Alkohol und Drogen zugeneigten Autor als Glücksfall: Das Buch wurde einer der ganz großen Erfolge auf dem Buchmarkt der Weimarer Republik, der NS-Zeit und schließlich auch der Nachkriegszeit, was Fallada, der eigentlich Rudolf Ditzen hieß, allerdings nicht mehr recht erleben sollte - er starb, dreiundfünfzigjährig, in Berlin wohl an den Folgen seines Drogenkonsums.
Wenige Jahre zuvor war er von seiner ersten Ehefrau Anna geschieden worden, mit der er seit 1929 verheiratet gewesen war. Fallada betonte gern, welchen Halt diese Ehe für sein problematisches Dasein bedeutet hätte, und die Beziehung der beiden mag man mit einigem Recht ebenso als ein Vorbild für die Ehe zwischen Pinneberg und Lämmchen ansehen wie die Person Anna Ditzen als Anregung für Lämmchen. Dieser Gestalt gilt erkennbar die Sympathie des Autors, sie ist im Auf und Ab der Handlung die entscheidende Stütze für ihren Pinneberg, und auch die Umgebung, allen voran der dubiose Freund von Pinnebergs Mutter, suchen im Zweifel das klärende Gespräch mit ihr, nicht mit ihrem immer etwas hilflosem Mann.
Dass aber Pinneberg sich in seiner Zeit, der Endphase der Weimarer Republik, nicht zurechtfindet, ist kein Zufall: Es liegt an der Zeit, und es liegt an ihm. Da ist die Weltwirtschaftskrise mit ihren Folgen, da ist die umfassende Unsicherheit in allen Lebensbereichen, allen voran im Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, und gleich das erste Gespräch, das Pinneberg mit Lämmchens Familie führt, kurz nach dem Kennenlernen und der Verlobung, dreht sich um Parteien, Arbeiter und Angestellte und um wechselseitige Vorwürfe, wessen Genossen die Sache des Proletariats verraten haben. Pinnebergs eigener Beitrag zu diesem Missverhältnis zwischen Welt und Ich aber ist seinem Widerwillen geschuldet, in diesem Chaos anders zu manövrieren als auf Sicht. Zwar hat er sich dazu bereitgefunden, einer Gewerkschaft beizutreten, aber was das wert ist, merkt er rasch, als er, frisch arbeitslos geworden, für seine jahrelang gezahlten Beiträge eine Gegenleistung bekommen möchte. Was ihm von seinem Arbeitgeber zusteht, fordert er nicht ein, zu Solidarität mit seinen Kollegen ist er ebenso zögerlich bereit wie umgekehrt diese, und immer wieder lässt er sich durch die Kleinstadt im Norden oder die Großstadt Berlin treiben, ohne Plan, aber mit aberwitzigen Vorstellungen, wie er sich durchlavieren könne - seinem Chef etwa, der ihn unbedingt mit seiner Tochter verkuppeln will, glaubt er allen Ernstes seine Hochzeit mit Lämmchen verheimlichen zu können, indem er die Hand mit dem Ehering in der Tasche lässt und seiner Frau in der Öffentlichkeit betont distanziert begegnet.
Die Neuausgabe des Romans, die jetzt bei Aufbau erschienen ist, fügt sich in eine ganze Reihe ähnlicher Editionen ein, mit denen der Verlag bereits in der Nachwendezeit sein Profil in erfreulicher Weise geschärft hat: Es wurden Klassikereditionen geschaffen, die überlieferte Texte in erheblich verbesserter, oft genug um zuvor unterdrückte Passagen ergänzter Gestalt präsentierten - das betrifft Autoren wie Brigitte Reimann ebenso gut wie den vergessenen Gründerzeit-Journalisten Ludwig Pietsch, die Briefe aus Berlin des Alfred Kerr ebenso wie Karl August Böttigers Klatschgeschichten aus Goethes Weimar, Mark Twains Autobiographie wie die große Ausgabe der Werke Fontanes.
Der Zugewinn an reiner Textmenge aber, der jetzt bei Falladas "Kleiner Mann - was nun?" zu verzeichnen ist, frappiert dann doch: Etwa ein Viertel des Manuskripts fiel unter den Tisch, als die Erstausgabe bei Rowohlt erschien, und nach 1933 wurde weiter bearbeitet, um das Buch der neuen Zeit anzupassen: Aus einem fanatischen Nazi wurde dann ein fanatischer Fußalltorwart, während zuvor ganze Kapitel weggefallen waren, die etwa den Besuch eines Tanzpalastes schildern, und Passagen, die Pinnebergs Träume von einer robinsonhaften Existenz ausmalen. In dieser Hinsicht hat die erste Ausgabe gegenüber dem Manuskript besonders verloren: Vielfach werden differenzierte Innenwelten vereinfacht, Überlegungen getilgt, Urteile über die Welt so weit gestrafft, dass alles Abwägen daraus getilgt ist, und man wird, vergleicht man beide Fassungen, im Manuskript einen durchaus vielschichtigeren Pinneberg antreffen.
Trotzdem ist im damaligen Lektorat des Rowohlt-Verlags kein grundsätzlich anderes Buch entstanden. Was der Autor dem jungen Paar aufbürdet, bleibt gleich, und auch die Reaktionen der beiden: Während Pinneberg nicht ein noch aus weiß, ahnt Lämmchen meist, wo die Gefahren lauern, welche Verbindungen es zu kappen gilt und wo sich vielleicht eine Perspektive für sie beide und ihr Kind ergibt.
Rechnen aber, das ist Falladas böse Zeitdiagnose, rechen mit irgendetwas lässt sich nicht. Schon gar nicht mit Lebenshaltungskosten, Gehaltszetteln oder Spareinlagen, am wenigsten, wenn man wie Pinneberg und Lämmchen auch noch für einen Säugling sorgen muss. Dass sich dieses Kind dann gemeinsam mit seiner Mutter für Pinneberg als stärkstes Motiv erweist, mit all dem weiterzumachen, ist vielleicht dem Drang nach einem versöhnlichen Ende geschuldet. Vielleicht aber auch der Erfahrung, die der Autor selbst machte, seit er im Jahr 1930 Vater geworden war.
TILMAN SPRECKELSEN
Hans Fallada: "Kleiner Mann - was nun?" Roman.
Ungekürzte Neuausgabe
mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 557 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans Falladas Roman "Kleiner Mann - was nun?" wurde für die Ausgaben der NS-Zeit wesentlich gekürzt. In der nun veröffentlichten Originalfassung war besonders die Hauptfigur vielschichtiger.
Da muss irgendwas nicht richtig sein, lass uns noch mal rechnen", heißt es im Prolog. Dann rechnen der Angestellte namens Pinneberg und sein "Lämmchen" nächtelang, während der Mond in die kleine Küche scheint, in der sie sitzen. Für einen Liebesroman ist das recht ungewöhnlich, und tatsächlich hebt das Buch dort an, wo andere aufhören, im Moment, in dem sich die Liebenden längst gefunden haben, vom Rausch des Sichverliebens, des Hoffens und Einanderfindens erfahren wir nichts. Wohl aber davon, was das alles kosten wird: Einerseits ist das Leben natürlich günstiger, wenn man zusammenlebt und einmal für zwei kocht statt zweimal für einen, bei der Miete ist es genauso. Aber was alles so anfällt, wenn man als Ehepaar lebt mit allem, was dazugehört: Heizung, Strom, Kleidung, Wäsche, ein Radio wäre schön, eine Zeitung sollte man sich halten, und wenn die Schuhe neu besohlt werden müssen, reißt auch das ein Loch in die Kasse. All das besprechen sie an ihrem Verlobungsabend, und die Braut offenbart dabei ein stupendes Talent zum Kopfrechnen.
Derart sachlich ist die Romanze beschaffen, die Hans Fallada in seinem Roman "Kleiner Mann - was nun?" beschreibt, der im August 1930 bis November 1932 spielt und bereits im April 1932 in der "Vossischen Zeitung", im Juni desselben Jahres dann als Buch erschienen war. Falladas Roman erwies sich für den psychisch labilen, Alkohol und Drogen zugeneigten Autor als Glücksfall: Das Buch wurde einer der ganz großen Erfolge auf dem Buchmarkt der Weimarer Republik, der NS-Zeit und schließlich auch der Nachkriegszeit, was Fallada, der eigentlich Rudolf Ditzen hieß, allerdings nicht mehr recht erleben sollte - er starb, dreiundfünfzigjährig, in Berlin wohl an den Folgen seines Drogenkonsums.
Wenige Jahre zuvor war er von seiner ersten Ehefrau Anna geschieden worden, mit der er seit 1929 verheiratet gewesen war. Fallada betonte gern, welchen Halt diese Ehe für sein problematisches Dasein bedeutet hätte, und die Beziehung der beiden mag man mit einigem Recht ebenso als ein Vorbild für die Ehe zwischen Pinneberg und Lämmchen ansehen wie die Person Anna Ditzen als Anregung für Lämmchen. Dieser Gestalt gilt erkennbar die Sympathie des Autors, sie ist im Auf und Ab der Handlung die entscheidende Stütze für ihren Pinneberg, und auch die Umgebung, allen voran der dubiose Freund von Pinnebergs Mutter, suchen im Zweifel das klärende Gespräch mit ihr, nicht mit ihrem immer etwas hilflosem Mann.
Dass aber Pinneberg sich in seiner Zeit, der Endphase der Weimarer Republik, nicht zurechtfindet, ist kein Zufall: Es liegt an der Zeit, und es liegt an ihm. Da ist die Weltwirtschaftskrise mit ihren Folgen, da ist die umfassende Unsicherheit in allen Lebensbereichen, allen voran im Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, und gleich das erste Gespräch, das Pinneberg mit Lämmchens Familie führt, kurz nach dem Kennenlernen und der Verlobung, dreht sich um Parteien, Arbeiter und Angestellte und um wechselseitige Vorwürfe, wessen Genossen die Sache des Proletariats verraten haben. Pinnebergs eigener Beitrag zu diesem Missverhältnis zwischen Welt und Ich aber ist seinem Widerwillen geschuldet, in diesem Chaos anders zu manövrieren als auf Sicht. Zwar hat er sich dazu bereitgefunden, einer Gewerkschaft beizutreten, aber was das wert ist, merkt er rasch, als er, frisch arbeitslos geworden, für seine jahrelang gezahlten Beiträge eine Gegenleistung bekommen möchte. Was ihm von seinem Arbeitgeber zusteht, fordert er nicht ein, zu Solidarität mit seinen Kollegen ist er ebenso zögerlich bereit wie umgekehrt diese, und immer wieder lässt er sich durch die Kleinstadt im Norden oder die Großstadt Berlin treiben, ohne Plan, aber mit aberwitzigen Vorstellungen, wie er sich durchlavieren könne - seinem Chef etwa, der ihn unbedingt mit seiner Tochter verkuppeln will, glaubt er allen Ernstes seine Hochzeit mit Lämmchen verheimlichen zu können, indem er die Hand mit dem Ehering in der Tasche lässt und seiner Frau in der Öffentlichkeit betont distanziert begegnet.
Die Neuausgabe des Romans, die jetzt bei Aufbau erschienen ist, fügt sich in eine ganze Reihe ähnlicher Editionen ein, mit denen der Verlag bereits in der Nachwendezeit sein Profil in erfreulicher Weise geschärft hat: Es wurden Klassikereditionen geschaffen, die überlieferte Texte in erheblich verbesserter, oft genug um zuvor unterdrückte Passagen ergänzter Gestalt präsentierten - das betrifft Autoren wie Brigitte Reimann ebenso gut wie den vergessenen Gründerzeit-Journalisten Ludwig Pietsch, die Briefe aus Berlin des Alfred Kerr ebenso wie Karl August Böttigers Klatschgeschichten aus Goethes Weimar, Mark Twains Autobiographie wie die große Ausgabe der Werke Fontanes.
Der Zugewinn an reiner Textmenge aber, der jetzt bei Falladas "Kleiner Mann - was nun?" zu verzeichnen ist, frappiert dann doch: Etwa ein Viertel des Manuskripts fiel unter den Tisch, als die Erstausgabe bei Rowohlt erschien, und nach 1933 wurde weiter bearbeitet, um das Buch der neuen Zeit anzupassen: Aus einem fanatischen Nazi wurde dann ein fanatischer Fußalltorwart, während zuvor ganze Kapitel weggefallen waren, die etwa den Besuch eines Tanzpalastes schildern, und Passagen, die Pinnebergs Träume von einer robinsonhaften Existenz ausmalen. In dieser Hinsicht hat die erste Ausgabe gegenüber dem Manuskript besonders verloren: Vielfach werden differenzierte Innenwelten vereinfacht, Überlegungen getilgt, Urteile über die Welt so weit gestrafft, dass alles Abwägen daraus getilgt ist, und man wird, vergleicht man beide Fassungen, im Manuskript einen durchaus vielschichtigeren Pinneberg antreffen.
Trotzdem ist im damaligen Lektorat des Rowohlt-Verlags kein grundsätzlich anderes Buch entstanden. Was der Autor dem jungen Paar aufbürdet, bleibt gleich, und auch die Reaktionen der beiden: Während Pinneberg nicht ein noch aus weiß, ahnt Lämmchen meist, wo die Gefahren lauern, welche Verbindungen es zu kappen gilt und wo sich vielleicht eine Perspektive für sie beide und ihr Kind ergibt.
Rechnen aber, das ist Falladas böse Zeitdiagnose, rechen mit irgendetwas lässt sich nicht. Schon gar nicht mit Lebenshaltungskosten, Gehaltszetteln oder Spareinlagen, am wenigsten, wenn man wie Pinneberg und Lämmchen auch noch für einen Säugling sorgen muss. Dass sich dieses Kind dann gemeinsam mit seiner Mutter für Pinneberg als stärkstes Motiv erweist, mit all dem weiterzumachen, ist vielleicht dem Drang nach einem versöhnlichen Ende geschuldet. Vielleicht aber auch der Erfahrung, die der Autor selbst machte, seit er im Jahr 1930 Vater geworden war.
TILMAN SPRECKELSEN
Hans Fallada: "Kleiner Mann - was nun?" Roman.
Ungekürzte Neuausgabe
mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 557 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wolfgang Schneider ist überzeugt von Hans Falladas Roman als Hörstück. Besonders die SprecherInnenauswahl mit guten Stimmen auch in den Nebenrollen findet er gelungen. Die Auftritte von Wolf-Dietrich Sprenger, Burghart Klaußner oder Matthias Brandt scheint er zu genießen. Aber auch Falladas Talent, Zeittypisches zu erfassen, scheint ihm hier immer wieder gut ein- und umgesetzt. Die Geschichte des Kleinbürgers Pinneberg zwischen Hoffnung und Desillusion findet Schneider entgegen alle Zweifel, einen 400-Seiter auf 70 Minuten zu kürzen, bemerkenswert schlüssig und packend inszeniert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH