Produktdetails
  • Verlag: C.H.Beck
  • ISBN-13: 9783406475580
  • ISBN-10: 3406475582
  • Artikelnr.: 24567748
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Pankararé, Pankararú
Harald Haarmann kennt fast alle Sprachen der Welt und spricht auch den kleinen unter ihnen Mut zu / Von Thomas Fischer

Niemand weiß, wie viele Sprachen es auf der Welt gibt. Auch Harald Haarmann nicht. Es sind jedoch so viele, daß der außerordentlich fruchtbare Sprachwissenschaftler für sein "Kleines Lexikon der Sprachen", sein drittes Werk in diesem Jahr, eine strenge Auswahl treffen mußte.

Wer sich einen Überblick über die wichtigsten Sprachen der Erde verschaffen wollte, war bislang auf mehrbändige Wälzer wie Campbells "Compendium of the World's Languages" oder veraltete Machwerke wie Bodmers "Sprachen der Welt" angewiesen. Im Taschenbuchformat dominierte lange das hochgradig subjektive "fischer Lexikon Sprache" von Heinz F. Wendt. Ein modernes Nachschlagewerk zu verfassen, das sowohl die Weltsprachen als auch eine repräsentative Auswahl kleinerer Sprachen kurz, aber wissenschaftlich zuverlässig darstellt, scheint bei der Fülle an neuen Erkenntnissen der Linguistik zunächst ein recht hybrides Unterfangen zu sein. Der Trierer Professor Harald Haarmann, laut Verlagswerbung einer der "weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftler", hat es dennoch gewagt. Er teilt die Sprachen der Welt in drei Gruppen ein: die Millionensprachen (273 an der Zahl), die kleineren Sprachen, die von mehr als 1000, aber weniger als einer Million Menschen gesprochen werden, und die "Zwergsprachen" unter 1000 Sprechern. In rund 250 Artikeln gibt das Lexikon Auskunft über die meisten Millionensprachen sowie eine Auswahl der kleineren Sprachen der Welt. Auch einige Zwergsprachen werden (mit durchweg kürzeren Einträgen) berücksichtigt, ebenso alle Sprachfamilien der Erde. Ausgestorbene Sprachen wurden nur aufgenommen, wenn sie eine "Langzeitwirkung" auf die Entwicklung heutiger Kultursprachen hatten, wie etwa Latein und Sanskrit. Ein eigenes Lexikon ausgestorbener Sprachen vom selben Verfasser ist in Vorbereitung.

Der Aufbau der Artikel folgt grundsätzlich demselben Schema: Anzahl der Sprecher und Verbreitungsgebiet, Verwandtschaftsverhältnisse, Dialekte, Angaben zu Struktur und Wortschatz, Schrift, Literatur und Sprachgeschichte. Es fällt auf, daß sich Haarmann weitgehend auf die histoire extérieure der Sprachen beschränkt. Auch grammatische Skizzen, wie sie etwa Kieckers' (immer noch lieferbares!) Standardwerk "Die Sprachstämme der Erde" von 1931 mustergültig bietet, fehlen hier fast vollständig. Dem Taschenbuchformat geschuldet ist wohl auch die Abwesenheit von längeren Textbeispielen.

Die Artikel über einzelne Sprachen warten naturgemäß nicht mit wesentlichen neuen Erkenntnissen auf, bieten aber solides und aktuelles Wissen, insbesondere was Sprecherzahl und Verbreitungsgebiet betrifft. Die gewaltigen Veränderungen in Osteuropa, der damit verbundene Prestigeverlust des Russischen und die Aufwertung zahlreicher kleinerer Nationalsprachen sind gründlich dokumentiert; das gilt auch für die Trennung von Serbisch und Kroatisch und die Entstehung neuer "Mikroliteratursprachen" im slawischen Bereich. Neu an diesem Nachschlagewerk ist auch die ausführliche Behandlung der "aussterbenden Sprachen" in einem eigenen Beitrag, ein Thema, das in der Linguistik immer mehr Beachtung findet. Die Erkenntnis, daß alle Sprachen zum "Weltkulturerbe" gehören und daß "mit jeder Sprache, die ausstirbt, auch viel Wissen über die Welt verlorengeht", ist sicher in früheren Werken dieser Art nicht zu finden. Der Autor mahnt aber auch, daß "pessimistische Schätzungen, nach denen möglicherweise etwa neunzig Prozent der heute noch verwendeten Sprachen bis zum Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts aussterben werden", weit übertrieben sind. Insbesondere zur Verteufelung der englischen Dominanz als Ursache des Sprachensterbens besteht kein Anlaß: "Es gibt derzeit keine Anzeichen für einen massiven Zusammenbruch der sprachlichen Infrastruktur der Welt."

Naturgemäß kann ein einziger Wissenschaftler nicht alle Sprachen der Welt beherrschen, und so fragt man sich, ob ein Gemeinschaftswerk mehrerer Spezialisten nicht doch im Einzelfall detailliertere und verläßlichere Informationen gebracht hätte als der hier vorliegende Alleingang. Allerdings hätte dies die Einheitlichkeit des Aufbaus gefährdet (von ökonomischen Faktoren einmal ganz abgesehen), und so wollen wir Haarmann kleinere Ungenauigkeiten wie die Bezeichnung des finnischen Nationalepos als "Der Kalevala" (es heißt "Das Kalevala") oder der Umgebung St. Petersburgs als "Leningrader Gebiet" durchgehen lassen.

Über subjektive Einschätzungen wie die Nennung des Irischen als "Beispiel für die erfolgreiche Revitalisierung einer gefährdeten Sprache" oder die Behauptung, zwischen europäischem und kanadischem Französisch gebe es "keine prinzipielle Unterscheidung", ließe sich trefflich streiten. Ein schlimmer Patzer ist Haarmann allerdings bei der Beschreibung des Italienischen unterlaufen: Das Meisterwerk "I promessi sposi" des Mailänder Autors Alessandro Manzoni als Musterbeispiel toskanischer Schriftsprache darzustellen dürfte bei Romanisten gelinde Empörung hervorrufen. Manzoni, der nur seinen lombardischen Heimatdialekt beherrschte, mußte "Die Verlobten" vielmehr für spätere Auflagen regelrecht in die italienische Hochsprache übertragen lassen. Auch die Übersetzung des Romantitels "I promessi sposi" als "Die sich einander die Heirat versprochen haben" wird man nicht als Musterbeispiel sprachlicher Eleganz bezeichnen wollen.

Was die Benennung der einzelnen Lemmata betrifft, so wählt Haarmann gelegentlich ungewöhnliche Namen wie "Alpenromanisch" für das Rätoromanische. Dies mag linguistisch korrekt sein, doch hätte sich in diesem Fall eine Verweisung zum üblicheren Begriff empfohlen. Abgesehen von solchen Mängeln im Detail ist das "Kleine Lexikon der Sprachen" eine sehr begrüßenswerte Veröffentlichung, die allerdings Schülern und Studenten nichtphilologischer Fächer mehr nützen wird als Sprachwissenschaftlern, die ausführlichere Informationen benötigen. Hierzu dient das umfangreiche Literaturverzeichnis, das aktuelle Fachbücher zu den einzelnen Sprachen aufführt, darunter nicht weniger als achtzehn des Autors. Im Bereich der finno-ugrischen Sprachen wäre noch die Nennung von Denis Sinors "The Uralic Languages" (1988) wünschenswert gewesen. Auch gibt der sonst so auf Aktualität bedachte Autor keine Internet-Adressen zum Thema an.

Freuen wir uns also, daß so außergewöhnliche Sprachen wie Pankararé, Pankararú oder gar Pataxó-Hãhãhãi noch nicht ganz ausgestorben sind, ganz zu schweigen von den Kreolsprachen Isipiki und Lololo, die hier ebenfalls Erwähnung finden. Sollte Haarmann sich entschließen können, in künftigen Auflagen bei der Nennung von Lehnwörtern auch das entsprechende Wort der Ursprungssprache anzugeben, wäre sein kleines Lexikon nahezu perfekt.

Harald Haarmann: "Kleines Lexikon der Sprachen". Von Albanisch bis Zulu. Verlag C.H. Beck, München 2001. 455 S., br., 36,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Kaum vorstellbar, findet Thomas Fischer, dass ein einzelner ein solches Lexikon der Sprachen schreiben kann. Der fleißige, im bibliografischen Anhang selbst mit 18 Titeln vertretene Linguist Harald Haarmann kann aber doch, stellt Fischer fest, und trotz teils nicht ganz unbedenklicher Mängel geht das Ergebnis nach Meinung des Rezensenten sehr in Ordnung. Natürlich gebe es keine neuen Erkenntnisse, natürlich auch musste eine "strenge Auswahl" getroffen werden und natürlich gibt es "kleinere Ungenauigkeiten". Einen groben Schnitzer hat Fischer entdeckt: Haarmann behauptet, dass Manzoni seine "Promessi Sposi" in toskanische Schriftsprache geschrieben habe. Hat er aber nicht, da er nur seinen lombardischen Dialekt beherrschte. Aber Schwamm drüber, alles in allem ist das Lexikon eben doch "eine sehr begrüßenswerte Veröffentlichung", nicht zuletzt weil man auch Informationen über nicht im internationalen Rampenlicht stehende Sprachen wie "Pankarare, Pankararu oder gar Pataxo-Hahahai" erhält (leider muss man fürs Internet die Akzente rausnehmen).

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