In diesem Band werden Ilse Aichingers Erinnerungen, Notate und Reden zusammengefaßt; er enthält sieben unpublizierte Texte, darunter die umfangreichen 'Aufzeichnungen 1950-1985'. Ihre Erinnerungen an die Vor- und Nachkriegssituation beschwören eine Zeit, die allmählich der Vergessenheit anheimfällt. Und sie machen deutlich, wie existentiell Ilse Aichinger diese Umbrüche erlebt hat, so daß für sie seitdem nicht das Überleben, sondern das richtige Leben und damit nicht das Beschreiben, sondern das Sprechen aus dem Schweigen heraus wichtig sind. Beste Beispiele dafür sind die so einfachen wie weisen Notate aus den zurückliegenden 35 Jahren. Und ihre höchst eigenwilligen Texte über Joseph Conrad, Adalbert Stifter, Franz Kafka, Nelly Sachs und ihre Zwillingsschwester Helga Michie geben seltene Einblicke in ihre eigene Poetologie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2004»KLEIST, MOOS, FASANE«
Im Werk von Ilse Aichinger gibt es eine Bewegung zum Spiel und eine Bewegung zur Ich-Flucht. Beide Tendenzen hängen zusammen, vermutlich begründen sie sich gegenseitig. Für derlei spekulative Aufhellungen interessiert sich Ilse Aichinger freilich nicht. Im Gegenteil, sie hält sich an ihr Programm, das sie in dem Band "Schlechte Wörter" (1976) einmal so formuliert hat: "Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind."
Es gibt jedoch auch Werke, in denen die Autorin ihr Programm ignoriert. Es sind Texte, in denen die Bewegungen zum Spiel und zur Ich-Flucht (sozusagen) gemeinsame Sache machen - und wunderbar reflexive Prosa freisetzen. Texte dieses Zuschnitts enthält der Band "Kleist, Moos, Fasane" (1987), besonders dessen Mittelteil "Aufzeichnungen 1950 bis 1985". "Kleist, Moos, Fasane" ist eines meiner Lieblingsbücher, weil Ilse Aichinger darin jegliche Verhüllung durch Kunst vermeidet. Sie verzichtet auf das Umphantasieren ihres Lebens (die Ich-Flucht) und gibt statt dessen den Blick frei auf die grandiose Wahrhaftigkeit ihres Denkens und Empfindens. Ich weiß (nach Kafka) kein neueres Buch, in dem die Entblößung des modernen Ichs rückhaltloser eingestanden wird als hier. Das fängt schon mit unseren Äußerlichkeiten an: "Diese merkwürdigen Orte, an denen wir wohnen, diese finsteren Orte, die uns nie aufnehmen." Rasch stößt die Autorin zum Kern ihrer/unserer Erfahrung vor: "Wir können die Welt nicht ertragen ohne das Bewußtsein, sie zu verlassen. Man kann soweit gehen, zu sagen, daß dieses Bewußtsein unser Leben ausmacht." Zwischen Geburt und Tod bleibt nur eines: "Es ist alles zum letzten Mal. Wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf."
Muß ich hinzufügen, daß auch die Liebe keinen Schmerz lindert? Bitte sehr: "Liebe zielt auf die äußerste Einsamkeit hin. Und die äußerste Liebe auf die äußerste Einsamkeit."
WILHELM GENAZINO
Der diesjährige Büchnerpreisträger Wilhelm Genazino, geboren 1943, lebt in Frankfurt. Er veröffentlichte zuletzt "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman". In Kürze erscheint die Essaysammlung "Der gedehnte Blick". Informationen zu "Unsere Besten - Das große Lesen", einer gemeinsamen Aktion von ZDF und F.A.Z., finden sich im Internet unter www.faz.net/lesen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Werk von Ilse Aichinger gibt es eine Bewegung zum Spiel und eine Bewegung zur Ich-Flucht. Beide Tendenzen hängen zusammen, vermutlich begründen sie sich gegenseitig. Für derlei spekulative Aufhellungen interessiert sich Ilse Aichinger freilich nicht. Im Gegenteil, sie hält sich an ihr Programm, das sie in dem Band "Schlechte Wörter" (1976) einmal so formuliert hat: "Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind."
Es gibt jedoch auch Werke, in denen die Autorin ihr Programm ignoriert. Es sind Texte, in denen die Bewegungen zum Spiel und zur Ich-Flucht (sozusagen) gemeinsame Sache machen - und wunderbar reflexive Prosa freisetzen. Texte dieses Zuschnitts enthält der Band "Kleist, Moos, Fasane" (1987), besonders dessen Mittelteil "Aufzeichnungen 1950 bis 1985". "Kleist, Moos, Fasane" ist eines meiner Lieblingsbücher, weil Ilse Aichinger darin jegliche Verhüllung durch Kunst vermeidet. Sie verzichtet auf das Umphantasieren ihres Lebens (die Ich-Flucht) und gibt statt dessen den Blick frei auf die grandiose Wahrhaftigkeit ihres Denkens und Empfindens. Ich weiß (nach Kafka) kein neueres Buch, in dem die Entblößung des modernen Ichs rückhaltloser eingestanden wird als hier. Das fängt schon mit unseren Äußerlichkeiten an: "Diese merkwürdigen Orte, an denen wir wohnen, diese finsteren Orte, die uns nie aufnehmen." Rasch stößt die Autorin zum Kern ihrer/unserer Erfahrung vor: "Wir können die Welt nicht ertragen ohne das Bewußtsein, sie zu verlassen. Man kann soweit gehen, zu sagen, daß dieses Bewußtsein unser Leben ausmacht." Zwischen Geburt und Tod bleibt nur eines: "Es ist alles zum letzten Mal. Wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf."
Muß ich hinzufügen, daß auch die Liebe keinen Schmerz lindert? Bitte sehr: "Liebe zielt auf die äußerste Einsamkeit hin. Und die äußerste Liebe auf die äußerste Einsamkeit."
WILHELM GENAZINO
Der diesjährige Büchnerpreisträger Wilhelm Genazino, geboren 1943, lebt in Frankfurt. Er veröffentlichte zuletzt "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman". In Kürze erscheint die Essaysammlung "Der gedehnte Blick". Informationen zu "Unsere Besten - Das große Lesen", einer gemeinsamen Aktion von ZDF und F.A.Z., finden sich im Internet unter www.faz.net/lesen.
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