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Es gibt keinen Unterschied zwischen Wahnsinn und Normalität
Roger Van de Velde war ein belgischer Journalist, einer der engagiertesten Humanisten seiner Zeit und hochgradig süchtig nach Schmerzmitteln. Als er begann, täglich sechzig Tabletten statt der verschriebenen vier zu nehmen und Rezepte zu fälschen, endete er im Maßregelvollzug. Viele Jahre seines kurzen Lebens verbrachte er in psychiatrischen Anstalten, wo er heimlich seine »Kompagnons der Misere« porträtierte. In zwanzig humorvollen, bissigen und brillanten Geschichten erfahren wir, wie Jules Leroy seine heißgeliebte Katze…mehr

Produktbeschreibung
Es gibt keinen Unterschied zwischen Wahnsinn und Normalität

Roger Van de Velde war ein belgischer Journalist, einer der engagiertesten Humanisten seiner Zeit und hochgradig süchtig nach Schmerzmitteln. Als er begann, täglich sechzig Tabletten statt der verschriebenen vier zu nehmen und Rezepte zu fälschen, endete er im Maßregelvollzug. Viele Jahre seines kurzen Lebens verbrachte er in psychiatrischen Anstalten, wo er heimlich seine »Kompagnons der Misere« porträtierte.
In zwanzig humorvollen, bissigen und brillanten Geschichten erfahren wir, wie Jules Leroy seine heißgeliebte Katze meuchelt, weil sie sein noch heißer geliebtes wöchentliches Roastbeef gefressen hat; wie »Haut-und-Knochen« im Adamskostüm durch die Anstalt flitzt oder wie ein Neuankömmling, der sich den ominösen Spruch »Margaritas ante porcos« auf den Unterarm tätowieren ließ, Van de Velde vom Tablettenmissbrauch heilen möchte.

Roger Van de Veldes wortgewandte Porträts seiner Leidensgenossen inder psychiatrischen Anstalt sind, bei allem schwarzen Humor, Zeugnisse des Mitgefühls. In seiner Doppelrolle des Beobachters und Betroffenen weiß er, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Wahnsinn und Normalität. Und er schafft es, inmitten dieser menschenfeindlichen Umgebung Menschlichkeit aufzudecken.
Autorenporträt
Roger Van de Velde, 1925 im belgischen Boom geboren, war Journalist und Autor. Er publizierte Beiträge für Literaturzeitschriften und schrieb Hörspiele. Aufgrund seiner Schmerzmittelsucht hielt er sich wiederholt in Entzugsanstalten auf, wo er 1969 wegen des strengen Kontrollregimes heimlich Knisternde Schädel auf Broschüren niederschrieb, die seine Frau in Zigarettenpackungen versteckt herausschmuggelte und veröffentlichte. Kurz vor seinem Tod, im Jahr 1970, wurde er für sein Schreiben mit dem Literaturpreis Arkprijs van het Vrije Woord ausgezeichnet. Annette Wunschel, geboren 1961, übersetzt u. a. Roger Van de Velde, Michel Foucault und Johan Huizinga und erhielt 2016 den Else Otten Vertalersprijs für ihre Übersetzung von Huizingas Kultur- und Zeitkritischen Schriften. Sie lebt in Berlin und Wien.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In der Übersetzung von Annette Wunschel sind mit "Knisternde Schädel" Roger Van de Veldes Aufzeichnungen aus der Psychiatrie erschienen - meisterhafte Kurzprosa, findet Rezensent Hilmar Klute. Der 1925 in der Nähe von Antwerpen geborene Journalist wird nach einer Magenoperation abhängig von Opioiden. Seine Skizzen aus der Psychiatrie sind, so Klute, humorvolle, aber nie denunziatorische Porträts seiner Mitbewohner, geschrieben im Ton eines in den Erzählungen präsenten, aber dem Wahnsinn tendenziell enthobenen Beobachters. Dabei werden, schreibt der Rezensent, auch die Machtverhältnisse in der Anstalt und wie sie unterlaufen werden, thematisiert. Ein äußerst eindrücklicher, in der hochkonzentrierten Miniatur seine literarische Qualität beweisender Erzählband, den Klute zur Lektüre nur empfehlen kann.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.06.2024

Wenn das Schicksal kommt
Nach einer Magenoperation wurde der belgische Journalist Roger Van de Velde
abhängig von Opioiden. In der Psychiatrie fing er an zu schreiben. Und wie.
Dieser Geschichtenband beginnt mit einem blutigen Aufschlag, einer Epiphanie der Gewalt, die aus dem Wahnsinn kommt. Jules Leroy, einer jener Insassen einer psychiatrischen Anstalt, von denen alle diese Erzählungen handeln, steht mit dem Kadaver seines geliebten Katers in der Türöffnung. Der Kater hat seinem Herrn ein Stück Fleisch weggefressen, dafür musste er sterben, Jules hat den Kopf des Tiers an der Wand zerschmettert.
Der Autor Roger Van de Velde lässt kein Detail der brutalen Zurichtung aus, der Leser bekommt als Einstimmung in dieses Buch die äußerste Zuspitzung dessen zu Gesicht, was in den folgenden Geschichten zumeist nur als Möglichkeit gegenwärtig ist. Der Ton, die Haltung des Erzählers ist die eines Beobachters, der irgendwie dem täglichen Wahnsinn enthoben zu sein scheint.
Womöglich schützt ihn sein eigener, funktionierender Verstand: Der Katzenmörder erscheint ihm wie der geblendete Ödipus, im Zusammenspiel mit dem eingreifenden Aufseher entsteht eine Szene, die „einer prähistorischen Malerei an der Felswand von Lascaux“ glich, kurzum: Hier berichtet ein Wissender direkt aus dem Lager des irre gewordenen Geistes. Der Belgier Roger Van de Velde war ein in vielen Sparten schreibender Journalist, der die Grenze zum Literarischen überschritt und vor allem in seiner Kurprosa zu jener Meisterschaft fand, von der die Texte in „Knisternde Schädel“ zeugen.
Die Geschichte Moschee Scheronim handelt von einem Israeli, der neben dem Büro des Aufsehers (in den Geschichten eine oft hilflose und halbherzig gute Gestalt) eine Pferdedecke ausbreitet, um darauf seine Gebete zu verrichten. Roger, dem Vernünftigen, wird aufgetragen, den Mann zu bewegen, seine Decke woanders zu platzieren, aber seine behutsamen Versuche, den Gläubigen an der Ausübung seines Ritus zu hindern, scheitern an dessen sturer Beharrlichkeit. Scheronim bietet dem Vermittler Zigaretten an, wiederum stumm und beharrlich.
Rasch wird aus der unbeirrten Gebetsverrichtung ein Akt des Widerstands gegen den immer lauter werdenden Antisemitismus der Umstehenden, der den Erzähler, Roger, schließlich zum Verbündeten gegen den Aufseher werden lässt. Immer wieder werden in diesen Geschichten die Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt. Die Sturheit des Kranken unterläuft das Regularium der Anstalt, vor dem kreativen Irrsinn der Bewohner muss der Aufseher kapitulieren.
Der Erzähler bekommt in diesen Geschichten eine Vermittlerrolle zugewiesen, ja, die Direktion der Anstalt habe ihm eine Art Schreiberamt übertragen, weil seine Handschrift so klar lesbar sei. So schreibt er für einen Insassen namens Lamartine (die Namensgleichheit mit dem berühmtem französischen Lyriker der Spätromantik greift Van de Velde genüsslich auf) eine Heiratsannonce, obwohl der Mann bereits eine Frau und drei Kinder hat. Van de Velde hat seine Literatur ausschließlich während seiner Klinikaufenthalte verfasst. Seine Ehefrau und seine Tochter schmuggelten die Texte in Zigarettenschachteln heraus, man hatte ihm von Amts wegen Schreibverbot erteilt. Van de Velde war schwer medikamentensüchtig, eine Abhängigkeit, die ihn in eine schizoide Erkrankung und in einen frühen Tod mit 45 Jahren treibt.
Annette Wunschel, Übersetzerin der vorliegenden Geschichten, skizziert Van de Veldes Leben in einem Nachwort. 1925 in der Nähe von Antwerpen in eine Arbeiterfamilie hineingeboren, wächst er in einem Internat auf, erlebt das Scheitern der Ehe seiner Eltern, heiratet, wird Vater und arbeitet bald für die liberale Zeitschrift De Nieuwe Gazet. Kein abenteuerliches Leben, aber ein beruflich erfolgreiches und privat glückliches.
Eine böse Schlagseite bekommt dieses Leben durch eine Reihe von Unglücken: einen Magendurchbruch, einen Verkehrsunfall und den Konsum des Schmerzmittels Palfium, das Van de Velde zum Junkie macht und ihn am Ende in die Jelinek-Suchtklinik in Amsterdam führt, wo er zum literarischen Erzähler wird. Mit Watte in den Ohren versucht er, ein konzentriertes geistiges Leben zu führen, er liest John Dos Passos und skizziert seine Mitbewohner – mit sprödem Humor, aber ohne denunziatorische Billigwitzelei. Auf diese Weise entstehen knappe, handlungsarme Erzählstücke, die allesamt eindrückliche Porträts von Mitpatienten sind. Empathie und Verständnis temperieren die Erzählungen, und immer ist der Erzähler auch ein Teil von ihnen.
Einer der stärksten Texte ist der über Daniel, der nur an drei Tagen im Monat raucht, dann aber unaufhörlich. Der Grund dafür liegt in der finanziellen Zuwendung einer geheimnisvollen Gräfin, deren monatlichen Obulus Daniel in ein Brandopfer übersetzt. Warum das Geld eines Tages ausbleibt, wissen weder Daniel noch der Erzähler. Wieso Daniel am Ende Allzweckreiniger trinkt, ist nicht restlos zu erklären, und weshalb der Gerettete am Ende doch in eine andere Anstalt verschwindet – rätselhaft. In einem dem Buch vorangestellten Selbstzeugnis schreibt Roger Van de Velde von einer Grenze seiner Darstellungskunst, wo das Unbegreifliche auch unaussprechlich wird. Sie zu überschreiten, bedeutete für sein Schreiben einen Kraftverlust. Dass Van de Veldes Erzählkunst nur in jenem kleinen hoch konzentrierten Rahmen der Skizze zur Entfaltung kommt, zeigt sowohl die Stärke als auch die literarische Begrenztheit dieses Erzählers.
HILMAR KLUTE
Wo das Unbegreifliche
unaussprechlich wird,
versagt das Schreiben
Er verfasste seine literarischen Texte ausschließlich in der Klinik: der belgische Journalist Roger Van de Velde im Jahr 1970.
Foto: imago/Belga
Roger Van de Velde: Knisternde Schädel. Aus dem belgischen Niederländisch von Annette Wunschel. Suhrkamp Verlag 2024, 143 Seiten, 20 Euro.
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»... meisterhafte Erzählungen.« Andreas Scheiner Neue Zürcher Zeitung 20240626