Im Gegensatz zu Gerichtsmedizinern arbeiten Forensische Anthropologen nahezu ausschliesslich am Skelett. Sie verfügen über eine aussergewöhnliche Begabung: anhand eines Skeletts oder auch nur einzelner Knochen können sie Alter, Geschlecht, Herkunft und Todesart des Opfers bestimmen. In Knochengeflüster beschreibt William Maples seine vielseitige Arbeit, beispielsweise die Exhumierung der Zarenfamilie und die Aufklärung eines fünffachen Mordes in Florida. Maples' Leben gleicht einem Krimi: ständig ist er von Mord und Selbstmord umgeben, konfrontiert mit den Opfern. Er selbst bezeichnet sich als "Knochenleser", jemanden, der das "Flüstern des Todes" hört und versteht.
Es mag paradox und vielleicht makaber klingen, doch Maples' Buch ist ein lebendig geschriebener Erlebnisbericht, ein begeistertes Plädoyer für die forensische Anthropologie.
Patricia Cornwell, die Autorin der erfolgreichen Bücher über die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta, schreibt zu diesem Buch: "Knochengeflüster ist ein Meisterwerk!"
Es mag paradox und vielleicht makaber klingen, doch Maples' Buch ist ein lebendig geschriebener Erlebnisbericht, ein begeistertes Plädoyer für die forensische Anthropologie.
Patricia Cornwell, die Autorin der erfolgreichen Bücher über die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta, schreibt zu diesem Buch: "Knochengeflüster ist ein Meisterwerk!"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.1996Der mit dem Knochenmann tanzt
Die Schrift der Kettensäge: Der forensische Anthropologe William Maples ist rätselhaften Todesfällen auf der Spur
William R. Maples ist ein "Knochenleser". Voller Stolz trägt er diesen selbstverliehenen Ehrentitel: Er lauscht den "gesprächigen Schädeln", hört und versteht das "Flüstern des Todes". Maples folgt den Spuren "mysteriöser Kriminal- und Todesfälle", sucht Splitter zerschmetterter Knochen, zählt Schrotkörner in durchlöcherten Brustwirbeln und vermißt Frakturen abgetrennter Köpfe.
Der Amerikaner, dessen Werkstattbericht aus dem Leichenschauhaus sich frisch und lebendig liest, ist aber durchaus kein perverser Psychopath, auch kein Gerichtsmediziner, sondern "forensischer Anthropologe". Er arbeitet ausschließlich am Skelett: "Knochen", erklärt Maples, "sagen oft mehr über die Mordwaffe aus als die Haut oder anderes Gewebe. Haut kann sich dehnen, verdrehen, und während des Verwesungsprozesses verschwindet sie ganz. Knochen aber dokumentieren die Verletzungen bis weit über den Tod hinaus." Wie die Fährtensucher der Karl-May-Romane, die an einem Hufabdruck die Farbe des Pferdes ablesen konnten, leisten auch die forensischen Anthropologen Erstaunliches: Anhand der verwesenden Gebeine vermögen sie Alter, Geschlecht und Todesart einer Leiche zu bestimmen.
Der Tod ist Maples' Geschäft. Selbst der blutigste Horrorfilm, stellt er lakonisch fest, liefere allenfalls einen "schwachen" Abglanz seiner täglichen Arbeit. Das hindert ihn aber augenscheinlich nicht daran, ein fröhlicher Mensch zu sein. Im Laufe seiner Tätigkeit hat er sogar gelernt, gleichzeitig an Leichen zu arbeiten und zu essen. Gerne erinnert er sich an den ersten saftigen Chili-Cheeseburger nach einer Autopsie.
In seinem Büro im Naturhistorischen Museum der Universität Florida stapeln sich auf den Tischen, in Schachteln, Schaugläsern und Ampullen mehr oder weniger vollständige Knochengerüste. "Es ist ein Ort der fleischlosen Toten, trocken und still, bis auf das leise Summen des Luftentfeuchters", schreibt Maples. Doch unter seinen kundigen Händen erwachen die Überreste menschlicher Körper im Labor zu neuem Leben. Sie erzählen Geschichten von Mord und Totschlag. Die schönsten Episoden aus dem Reich der untoten Toten serviert Maples seinen Lesern mit einigem Genuß an der blutigen Pointe. Und je prominenter die Verstorbenen, desto besser für die Erinnerungen des Knochenmannes, die er mit Hilfe des Journalisten Michael Browning niedergeschrieben hat.
Vor laufenden Fernsehkameras ließ Maples etwa das Grab des amerikanischen Präsidenten Zachary Taylor auf dem Friedhof von Louisville, Kentucky, öffnen. Zweihundertsieben Jahre nach dessen Tod wollte er feststellen, ob der Gegner der Sklaverei im heißen Juli 1850 einem Giftmord zum Opfer gefallen war oder heftigen Durchfällen erlag, nachdem er ein Sommermahl aus rohem Gemüse, frischen Kirschen und eisgekühlter Buttermilch verschlungen hatte. War gar nicht Abraham Lincoln der erste ermordete amerikanische Präsident, sondern Zachary Taylor? Ein wenig Leichenfett, Reste der Fingernägel sowie einige der noch reichlich vorhandenen Haarbüschel gaben die Antwort: Taylor wurde nicht ermordet.
Vom Grab des Präsidenten ist es in Maples' mörderischen Memoiren nur ein kurzer Sprung ins russische Jekaterinburg, das "Golgatha des Kommunismus". Dort fanden sich 1979 in einem flachen, moorigen Loch neun "mehr oder weniger vollständig erhaltene Skelette". Die Überreste der von den Bolschewisten 1918 ermordeten Zarenfamilie? Anhand der Beckenknochen sortierte Maples männliche und weibliche Tote, die Länge der Armknochen diente ihm zur Altersbestimmung, charakteristische Verschleißerscheinungen der Hüftknochen wiesen auf begeisterte Reiter hin. Anschließend verglich er die Überreste der Schädel mit alten Fotografien und entdeckte immer mehr Übereinstimmungen zwischen dem Zustand der Skelette und den Berichten über die Hinrichtungen.
Letzte Zweifel beseitigten schließlich die zahntechnischen Untersuchungen der sterblichen Überreste. Im Munde einer älteren Frau fanden sich Platinplomben, Porzellankronen und Goldfüllungen: das Gebiß der Zarin. Später bestätigten auch genetische Analysen Maples' Hypothesen. Die Erbsubstanz der "Romanow-Knochen" stimmt zu 98,9 Prozent mit der DNA von Prinz Philip, dem Ehemann der Queen, überein, der über mehrere Ecken mit der Zarenfamilie verwandt wäre, sofern diese noch lebte.
Maples aber rühmt sich nicht nur der Zähne der Zarin. Ebenso neugierig widmet er sich der gemeinen Flugzeugkatastrophe oder dem alltäglichen Kettensägenmassaker. Zum besseren Verständnis sind dem Buch einige delikate Bilder beigegeben. Maples zeigt uns das grotesk verwachsene Skelett des "Elefantenmenschen" Joseph Merrick aus der Sammlung des "Royal London Hospital Medical College"; einen Oberschenkelknochen, der "das typische Muster einer Kettensägenzerstückelung" aufweist. Trotz dieser und anderer Illustrationen braucht der Leser von Maples' Buch aber durchaus nicht so starke Nerven wie dessen Frau Margret. Lobend erwähnt der Knochenleser im Nachwort seiner Erinnerungen, daß "es wohl keine Geschicktere und Erfahrenere gibt, wenn es darum geht, Blutflecken zu entfernen". HEINRICH WEFING
William R. Maples / Michael Browning: "Knochengeflüster". Mysteriösen Kriminal- und Todesfällen auf der Spur. Aus dem Amerikanischen von Katrin Welge. Birkhäuser Verlag, Basel 1996. 216 S., geb., Abb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Schrift der Kettensäge: Der forensische Anthropologe William Maples ist rätselhaften Todesfällen auf der Spur
William R. Maples ist ein "Knochenleser". Voller Stolz trägt er diesen selbstverliehenen Ehrentitel: Er lauscht den "gesprächigen Schädeln", hört und versteht das "Flüstern des Todes". Maples folgt den Spuren "mysteriöser Kriminal- und Todesfälle", sucht Splitter zerschmetterter Knochen, zählt Schrotkörner in durchlöcherten Brustwirbeln und vermißt Frakturen abgetrennter Köpfe.
Der Amerikaner, dessen Werkstattbericht aus dem Leichenschauhaus sich frisch und lebendig liest, ist aber durchaus kein perverser Psychopath, auch kein Gerichtsmediziner, sondern "forensischer Anthropologe". Er arbeitet ausschließlich am Skelett: "Knochen", erklärt Maples, "sagen oft mehr über die Mordwaffe aus als die Haut oder anderes Gewebe. Haut kann sich dehnen, verdrehen, und während des Verwesungsprozesses verschwindet sie ganz. Knochen aber dokumentieren die Verletzungen bis weit über den Tod hinaus." Wie die Fährtensucher der Karl-May-Romane, die an einem Hufabdruck die Farbe des Pferdes ablesen konnten, leisten auch die forensischen Anthropologen Erstaunliches: Anhand der verwesenden Gebeine vermögen sie Alter, Geschlecht und Todesart einer Leiche zu bestimmen.
Der Tod ist Maples' Geschäft. Selbst der blutigste Horrorfilm, stellt er lakonisch fest, liefere allenfalls einen "schwachen" Abglanz seiner täglichen Arbeit. Das hindert ihn aber augenscheinlich nicht daran, ein fröhlicher Mensch zu sein. Im Laufe seiner Tätigkeit hat er sogar gelernt, gleichzeitig an Leichen zu arbeiten und zu essen. Gerne erinnert er sich an den ersten saftigen Chili-Cheeseburger nach einer Autopsie.
In seinem Büro im Naturhistorischen Museum der Universität Florida stapeln sich auf den Tischen, in Schachteln, Schaugläsern und Ampullen mehr oder weniger vollständige Knochengerüste. "Es ist ein Ort der fleischlosen Toten, trocken und still, bis auf das leise Summen des Luftentfeuchters", schreibt Maples. Doch unter seinen kundigen Händen erwachen die Überreste menschlicher Körper im Labor zu neuem Leben. Sie erzählen Geschichten von Mord und Totschlag. Die schönsten Episoden aus dem Reich der untoten Toten serviert Maples seinen Lesern mit einigem Genuß an der blutigen Pointe. Und je prominenter die Verstorbenen, desto besser für die Erinnerungen des Knochenmannes, die er mit Hilfe des Journalisten Michael Browning niedergeschrieben hat.
Vor laufenden Fernsehkameras ließ Maples etwa das Grab des amerikanischen Präsidenten Zachary Taylor auf dem Friedhof von Louisville, Kentucky, öffnen. Zweihundertsieben Jahre nach dessen Tod wollte er feststellen, ob der Gegner der Sklaverei im heißen Juli 1850 einem Giftmord zum Opfer gefallen war oder heftigen Durchfällen erlag, nachdem er ein Sommermahl aus rohem Gemüse, frischen Kirschen und eisgekühlter Buttermilch verschlungen hatte. War gar nicht Abraham Lincoln der erste ermordete amerikanische Präsident, sondern Zachary Taylor? Ein wenig Leichenfett, Reste der Fingernägel sowie einige der noch reichlich vorhandenen Haarbüschel gaben die Antwort: Taylor wurde nicht ermordet.
Vom Grab des Präsidenten ist es in Maples' mörderischen Memoiren nur ein kurzer Sprung ins russische Jekaterinburg, das "Golgatha des Kommunismus". Dort fanden sich 1979 in einem flachen, moorigen Loch neun "mehr oder weniger vollständig erhaltene Skelette". Die Überreste der von den Bolschewisten 1918 ermordeten Zarenfamilie? Anhand der Beckenknochen sortierte Maples männliche und weibliche Tote, die Länge der Armknochen diente ihm zur Altersbestimmung, charakteristische Verschleißerscheinungen der Hüftknochen wiesen auf begeisterte Reiter hin. Anschließend verglich er die Überreste der Schädel mit alten Fotografien und entdeckte immer mehr Übereinstimmungen zwischen dem Zustand der Skelette und den Berichten über die Hinrichtungen.
Letzte Zweifel beseitigten schließlich die zahntechnischen Untersuchungen der sterblichen Überreste. Im Munde einer älteren Frau fanden sich Platinplomben, Porzellankronen und Goldfüllungen: das Gebiß der Zarin. Später bestätigten auch genetische Analysen Maples' Hypothesen. Die Erbsubstanz der "Romanow-Knochen" stimmt zu 98,9 Prozent mit der DNA von Prinz Philip, dem Ehemann der Queen, überein, der über mehrere Ecken mit der Zarenfamilie verwandt wäre, sofern diese noch lebte.
Maples aber rühmt sich nicht nur der Zähne der Zarin. Ebenso neugierig widmet er sich der gemeinen Flugzeugkatastrophe oder dem alltäglichen Kettensägenmassaker. Zum besseren Verständnis sind dem Buch einige delikate Bilder beigegeben. Maples zeigt uns das grotesk verwachsene Skelett des "Elefantenmenschen" Joseph Merrick aus der Sammlung des "Royal London Hospital Medical College"; einen Oberschenkelknochen, der "das typische Muster einer Kettensägenzerstückelung" aufweist. Trotz dieser und anderer Illustrationen braucht der Leser von Maples' Buch aber durchaus nicht so starke Nerven wie dessen Frau Margret. Lobend erwähnt der Knochenleser im Nachwort seiner Erinnerungen, daß "es wohl keine Geschicktere und Erfahrenere gibt, wenn es darum geht, Blutflecken zu entfernen". HEINRICH WEFING
William R. Maples / Michael Browning: "Knochengeflüster". Mysteriösen Kriminal- und Todesfällen auf der Spur. Aus dem Amerikanischen von Katrin Welge. Birkhäuser Verlag, Basel 1996. 216 S., geb., Abb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main