Anette Hoffmann examines the archive of stories and songs by WWI African POWs held in Germany to gain new understandings of extractive knowledge production and the lived experience of colonialism.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2024Im Lautarchiv des Humboldt Forums
Anette Hoffmann untersucht Tondokumente von afrikanischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern
"Mein Vater hat mich zu den Weißen geschickt, um in den Krieg zu ziehen. Aber der Krieg ist furchtbar. Ich ging also hin, aber ich sah meine älteren Brüder nicht, die bereits zur Armee eingezogen worden waren. Ich habe sie dort nicht gesehen. Ich bin marschiert, aber ich habe sie nicht getroffen. Ich frage mich also, ob sie tot sind oder noch leben, denn ich habe meine älteren Brüder nicht gesehen. Der Krieg ist furchtbar. Seit drei Jahren habe ich meine Mutter und meinen Vater nicht mehr gesehen. Ich befinde mich immer noch in dieser ungewissen Situation: Ich habe keine Perspektive. Seit drei Jahren, seit ich weg bin, habe ich meine Frau und mein Kind nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, ob ich das überstehen kann. Wenn ich nur überleben und in meine Heimat zurückkehren könnte, wenn der Krieg zu Ende ginge. Wenn ich nach Hause gehen und meine Familie sehen könnte. Wenn dieser Krieg nicht endet und ich hier sterbe, ist alles zu Ende."
Jámáfáda, der diese Geschichte erzählte, kam aus einer entlegenen Region der Kolonie Französisch-Sudan, die heute Teil von Burkina Faso ist. Er gehörte zu den zahlreichen jungen afrikanischen Männern, die für Frankreich und Großbritannien auf den europäischen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs kämpften, in Gefangenschaft gerieten und als Kriegsgefangene in Deutschland festgehalten wurden. Dort zeichneten deutsche Sprach- und Musikwissenschaftler im Auftrag der Königlich-Preußischen Phonographischen Kommission Geschichten und Lieder der Internierten auf und schufen zwischen 1915 und 1918 ein umfassendes Archiv akustischer Proben.
Der Vorsitzende der Kommission, der Psychologe und Musikwissenschaftler Carl Stumpf, blieb von ethischen Erwägungen unberührt: "Niemand wird etwas daran finden, dass deutsche Gelehrte die Gelegenheit benutzen, durch den Verkehr mit den Gefangenen ihre Kenntnis fremder Dialekte zu erweitern." Jámáfádas Bericht war als Sprachprobe für das westafrikanische Mòoré aufgezeichnet worden. Das produzierte Tondokument wurde dann schlicht als "eine Erzählung" ohne Angabe des Inhalts abgelegt.
Gemeinhin gelten Briefe, Gedichte und Memoiren als Eckpfeiler der europäischen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg. Für Soldaten aus den Kolonien sind diese Quellen jedoch äußerst rar. Dies mag nicht nur mit dem verbreiteten Analphabetismus dieser Gruppe zu tun haben. Möglicherweise bevorzugten die afrikanischen Soldaten zudem andere Darstellungsformen und kulturelle Gedächtnistraditionen, um ihre Kriegserfahrungen zu artikulieren. Das Fehlen schriftlicher Überlieferungen bedeutet also nicht, dass es keine Erinnerungen gibt. Sie zirkulieren vielmehr in der schwer fassbaren Form der mündlichen Überlieferung, in Liedern und Erzählungen, werden in gängigen Archiven selten aufbewahrt und sind nur mit beträchtlichem Aufwand aufzuspüren.
In "Knowing by Ear" legt die Kölner Afrikanistin Anette Hoffmann vor diesem Hintergrund auf beeindruckende Weise dar, welche neuen Perspektiven für die Geschichte des Ersten Weltkriegs und die Kolonialgeschichte das Anhören der lange Zeit vergessenen, im Lautarchiv lagernden akustischen Aufnahmen als historische Quellen bietet. Sie liest beziehungsweise hört die in den deutschen Lagern aufgezeichneten Stimmen als Antworten auf die Erfahrungen der afrikanischen Soldaten mit Kolonialismus, Krieg und der Reise von Afrika nach Europa.
Dabei verknüpft die Autorin die Aufnahmen mit verstreuten schriftlichen Zeugnissen, Fotografien und Kunstwerken. Das Buch enthält überdies Transkriptionen zahlreicher Aufnahmen von gesprochenen und gesungenen Texten, die akustische Archive als bedeutende, aber noch zu wenig erforschte Quellensammlungen zur Kolonialgeschichte und speziell zur kolonialen Wissensproduktion ausweisen.
Die einzelnen Kapitel des insgesamt leider recht jargonbefrachteten Buches sind jeweils um Sprecher als historische Personen angeordnet. Sie folgen den Spuren, die die Sprachaufzeichnungen der Kriegsgefangenen Abdoulaye Niang, Mohamed Nur, Stephan Bischoff und Albert Kudjabo in andere Archive und Museen gelegt haben. Der aus Senegal stammende Abdoulaye Niang etwa singt von Männern aus seiner Heimat, die auf den Schlachthof des Ersten Weltkriegs geschickt werden; er war einer von ihnen. Seine Stimme wurde, wie die Autorin rekonstruiert, am 8. Dezember 1917 um die Mittagszeit in den Studios der Schallplattenfirma Odeon in Berlin von den Sprachwissenschaftlern Carl Meinhof und Wilhelm Doegen aufgenommen. Hoffmann nimmt die Leser sodann mit auf ihre mühevolle Suche nach Informationen, die Niangs Aufnahmen zu kontextualisieren helfen und den Tirailleurs Sénégalais wenigstens in Ansätzen als einen Akteur mit Erfahrungen, Gefühlen, Interessen und Strategien präsentieren.
Hoffmanns Studie ist Teil jüngerer Bemühungen, die Bestände des inzwischen im Berliner Humboldt Forum angesiedelten Lautarchivs systematisch zu erschließen und es dabei nicht auf ein von Pionieren der Linguistik geschaffenes Archiv, eine Sammlung wunderbarer Klänge und eine Demonstration früher Aufnahmetechnologien zu reduzieren. Nicht die Arbeit der am damaligen Projekt beteiligten prominenten deutschen Forscher sollte, so die Autorin, im Mittelpunkt stehen, sondern die Texte, die von Hunderten von Gefangenen zweier Weltkriege gesprochen wurden. Der seinerzeit erstellte Katalog des Lautarchivs, ergänzt sie, verdunkele allerdings die Themen der gesprochenen Texte mehr, als dass er über sie informiert. Ihre detaillierten methodischen Reflexionen liefern zahlreiche Anregungen für die weitere Arbeit mit den Tondokumenten. ANDREAS ECKERT
Anette Hoffmann: "Knowing by Ear".
Listening to Voice Recordings with African Prisoners of War in German Camps (1915-1918).
Duke University Press Durham 2024. 224 S., Abb., br., 26,85 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anette Hoffmann untersucht Tondokumente von afrikanischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern
"Mein Vater hat mich zu den Weißen geschickt, um in den Krieg zu ziehen. Aber der Krieg ist furchtbar. Ich ging also hin, aber ich sah meine älteren Brüder nicht, die bereits zur Armee eingezogen worden waren. Ich habe sie dort nicht gesehen. Ich bin marschiert, aber ich habe sie nicht getroffen. Ich frage mich also, ob sie tot sind oder noch leben, denn ich habe meine älteren Brüder nicht gesehen. Der Krieg ist furchtbar. Seit drei Jahren habe ich meine Mutter und meinen Vater nicht mehr gesehen. Ich befinde mich immer noch in dieser ungewissen Situation: Ich habe keine Perspektive. Seit drei Jahren, seit ich weg bin, habe ich meine Frau und mein Kind nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, ob ich das überstehen kann. Wenn ich nur überleben und in meine Heimat zurückkehren könnte, wenn der Krieg zu Ende ginge. Wenn ich nach Hause gehen und meine Familie sehen könnte. Wenn dieser Krieg nicht endet und ich hier sterbe, ist alles zu Ende."
Jámáfáda, der diese Geschichte erzählte, kam aus einer entlegenen Region der Kolonie Französisch-Sudan, die heute Teil von Burkina Faso ist. Er gehörte zu den zahlreichen jungen afrikanischen Männern, die für Frankreich und Großbritannien auf den europäischen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs kämpften, in Gefangenschaft gerieten und als Kriegsgefangene in Deutschland festgehalten wurden. Dort zeichneten deutsche Sprach- und Musikwissenschaftler im Auftrag der Königlich-Preußischen Phonographischen Kommission Geschichten und Lieder der Internierten auf und schufen zwischen 1915 und 1918 ein umfassendes Archiv akustischer Proben.
Der Vorsitzende der Kommission, der Psychologe und Musikwissenschaftler Carl Stumpf, blieb von ethischen Erwägungen unberührt: "Niemand wird etwas daran finden, dass deutsche Gelehrte die Gelegenheit benutzen, durch den Verkehr mit den Gefangenen ihre Kenntnis fremder Dialekte zu erweitern." Jámáfádas Bericht war als Sprachprobe für das westafrikanische Mòoré aufgezeichnet worden. Das produzierte Tondokument wurde dann schlicht als "eine Erzählung" ohne Angabe des Inhalts abgelegt.
Gemeinhin gelten Briefe, Gedichte und Memoiren als Eckpfeiler der europäischen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg. Für Soldaten aus den Kolonien sind diese Quellen jedoch äußerst rar. Dies mag nicht nur mit dem verbreiteten Analphabetismus dieser Gruppe zu tun haben. Möglicherweise bevorzugten die afrikanischen Soldaten zudem andere Darstellungsformen und kulturelle Gedächtnistraditionen, um ihre Kriegserfahrungen zu artikulieren. Das Fehlen schriftlicher Überlieferungen bedeutet also nicht, dass es keine Erinnerungen gibt. Sie zirkulieren vielmehr in der schwer fassbaren Form der mündlichen Überlieferung, in Liedern und Erzählungen, werden in gängigen Archiven selten aufbewahrt und sind nur mit beträchtlichem Aufwand aufzuspüren.
In "Knowing by Ear" legt die Kölner Afrikanistin Anette Hoffmann vor diesem Hintergrund auf beeindruckende Weise dar, welche neuen Perspektiven für die Geschichte des Ersten Weltkriegs und die Kolonialgeschichte das Anhören der lange Zeit vergessenen, im Lautarchiv lagernden akustischen Aufnahmen als historische Quellen bietet. Sie liest beziehungsweise hört die in den deutschen Lagern aufgezeichneten Stimmen als Antworten auf die Erfahrungen der afrikanischen Soldaten mit Kolonialismus, Krieg und der Reise von Afrika nach Europa.
Dabei verknüpft die Autorin die Aufnahmen mit verstreuten schriftlichen Zeugnissen, Fotografien und Kunstwerken. Das Buch enthält überdies Transkriptionen zahlreicher Aufnahmen von gesprochenen und gesungenen Texten, die akustische Archive als bedeutende, aber noch zu wenig erforschte Quellensammlungen zur Kolonialgeschichte und speziell zur kolonialen Wissensproduktion ausweisen.
Die einzelnen Kapitel des insgesamt leider recht jargonbefrachteten Buches sind jeweils um Sprecher als historische Personen angeordnet. Sie folgen den Spuren, die die Sprachaufzeichnungen der Kriegsgefangenen Abdoulaye Niang, Mohamed Nur, Stephan Bischoff und Albert Kudjabo in andere Archive und Museen gelegt haben. Der aus Senegal stammende Abdoulaye Niang etwa singt von Männern aus seiner Heimat, die auf den Schlachthof des Ersten Weltkriegs geschickt werden; er war einer von ihnen. Seine Stimme wurde, wie die Autorin rekonstruiert, am 8. Dezember 1917 um die Mittagszeit in den Studios der Schallplattenfirma Odeon in Berlin von den Sprachwissenschaftlern Carl Meinhof und Wilhelm Doegen aufgenommen. Hoffmann nimmt die Leser sodann mit auf ihre mühevolle Suche nach Informationen, die Niangs Aufnahmen zu kontextualisieren helfen und den Tirailleurs Sénégalais wenigstens in Ansätzen als einen Akteur mit Erfahrungen, Gefühlen, Interessen und Strategien präsentieren.
Hoffmanns Studie ist Teil jüngerer Bemühungen, die Bestände des inzwischen im Berliner Humboldt Forum angesiedelten Lautarchivs systematisch zu erschließen und es dabei nicht auf ein von Pionieren der Linguistik geschaffenes Archiv, eine Sammlung wunderbarer Klänge und eine Demonstration früher Aufnahmetechnologien zu reduzieren. Nicht die Arbeit der am damaligen Projekt beteiligten prominenten deutschen Forscher sollte, so die Autorin, im Mittelpunkt stehen, sondern die Texte, die von Hunderten von Gefangenen zweier Weltkriege gesprochen wurden. Der seinerzeit erstellte Katalog des Lautarchivs, ergänzt sie, verdunkele allerdings die Themen der gesprochenen Texte mehr, als dass er über sie informiert. Ihre detaillierten methodischen Reflexionen liefern zahlreiche Anregungen für die weitere Arbeit mit den Tondokumenten. ANDREAS ECKERT
Anette Hoffmann: "Knowing by Ear".
Listening to Voice Recordings with African Prisoners of War in German Camps (1915-1918).
Duke University Press Durham 2024. 224 S., Abb., br., 26,85 Euro.
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