Lina ist überglücklich: Sie wurde am "Institut für Gedankenkunde und Verstehen" aufgenommen. Und wird so ihrem Wunsch einen Schritt näherkommen, das eigene Denken und Verstehen immer zarter und feiner werden zu lassen. Glaubt sie. Doch in Andrea Winklers Roman ist nichts, wie es scheint: Am Institut geht es offenbar um etwas ganz anderes als um Bildung. Die Sätze der Lehrenden sind voller Widersprüche, voller Ängste, und diejenigen, welche die Macht haben zu sprechen, wissen nicht, was sie sagen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kristina Maidt-Zinkes hat sich von Andrea Winklers Roman eindeutig mehr erwartet: Von dem "so verspielt wie anspruchsvoll" anmutenden Cover des Buches ist sie ebenso angetan wie von dem Wortspiel im Untertitel "Einbildungsroman". Was sie hinter den Buchdeckeln erwartet, überzeugt Maidt-Zinke allerdings nicht. Zwar gebe es anders als in Winklers sonstigen Büchern hier zumindest Ansätze einer Handlung, die Erzählung aber zeige keinerlei Entwicklung. Schnell wird ihr klar, dass der zunächst pfiffige Titel Büchners "Leonce und Lena" entnommen ist, was ihn für die Rezensentin "entzaubert". Offensichtlich genervt ist sie auch sonst von den ständigen intertextuellen Verweisen und Metaphern, gipfelnd in der penetranten Namensgebung der hochbegabten Hauptfigur Lina Lorbeer.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2013Es muss beim Denken ja nicht immer gleich ein eigener Gedanke sein
Im Hirnkasten nichts Neues: Andrea Winklers Roman "König, Hofnarr, Volk" erteilt dem Originalitätswahn eine originelle Abfuhr
Der Bildungsroman, so die Definition eines Literaturlexikons, "gestaltet die innere Entwicklung eines Menschen von einer sich selbst noch unbewussten Jugend zu einer allseits gereiften Persönlichkeit, die ihre Aufgabe in der Gemeinschaft bejaht und erfüllt". Wenn die 1972 geborene Autorin Andrea Winkler ihren vierten Roman mit "Einbildungsroman" untertitelt, darf man vermuten, dass hier ein Genre unterlaufen werden soll. Genau das tut "König, Hofnarr und Volk" auf raffinierte Weise.
Die Erzählerin des Romans ist Lina Lorbeer, eine junge Frau, die das Erkennungszeichen der Dichter schon im Namen trägt. Sie zählt zu den Auserwählten, die am "Institut für Gedankenkunde und Verstehen" studieren, einem Etablissement, das in seiner Abgeschlossenheit literarischen Vorläufern wie dem Institut Benjamenta aus Robert Walsers "Jakob van Gunten" oder dem Konvikt zu W. aus Robert Musils "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" ähnelt: Es wird im Roman zum Theatrum Mundi.
Die Lehrinhalte des "Instituts für Gedankenkunde und Verstehen" klingen aus dem Mund von Professor Icks und seiner geisterhaften Kollegin Stein anfangs harmlos. Man habe sich versammelt, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Das, so die herrschende Lehrmeinung, geschehe nicht durch eigenständiges Denken. Im Gegenteil solle gelernt werden, sich Bekanntes ganz zu eigen zu machen, fremdes Denken zu assimilieren und das eigene durchdenkend fremd werden zu lassen. Erst dann bestehe die Chance, Unsterblichkeit zu erlangen, womöglich sogar als steinerne Büste im Hof des Instituts verewigt zu werden.
In ihrer Phantasie reiht sich auch Lina in diesen Olymp ein: "Dieser Charakterkopf! Diese Locken! Dieses poetische Gesichtchen! War es nicht von jeher bestimmt, hier zu stehen und die Blätter im Hof zu betrachten?" Sie stürzt sich auf die seltsamen Denk- und Schreibübungen, die den Studierenden aufgetragen werden. Der Versuch, das eigene Denken aufzugeben, verläuft bei Lina aber anders als erwartet. Ihre eigenen Gedanken verselbständigen sich in ihrem karg möblierten Zimmer, das "aus beinahe gar nichts besteht". Sie schafft sich träumend und schreibend einen imaginären Raum, in dem sie geschützt ist vor dem geisterhaft-sanften Drill von Professor Icks, der mit seinen manipulativen Unterrichtsmethoden dem amoralischen Arzt aus Büchners "Woyzeck" ähnelt, der Franz Woyzeck dazu zwingt, sich ausschließlich von Erbsen zu ernähren.
In ihrem Tagebuch und in Briefen an den Freund Jakob greifen ihr Denken, ihre Erinnerungen und ihre Phantasie weit aus. Allmählich mischen sich in ihr Schreiben und Denken auch Versatzstücke aus fremden Texten, etwa das "Ich möchte lieber nicht" aus Herman Melvilles "Bartleby", Virginia Woolfs "Zimmer für sich allein", Büchners "Woyzeck", das Gedicht "Wie immer" von Robert Walser, und aus der "hochbegabten", von Professor Icks zunächst protegierten Schülerin wird eine Hieronyma im Gehäus, die, halb bewusst, halb unbewusst, in ihren Meditationen versinkt und immer mehr aneckt, immer weniger zwischen Eigenem und Fremden zu trennen weiß.
Winklers Einbildungsroman ist also quasi ein umgestülpter Bildungsroman, da die Entwicklung der Hauptfigur in "verkehrter" Richtung verläuft: Indem Lina die Regeln übertritt, wächst sie aus der sektenartigen Gesellschaft des Instituts heraus, kommt mittels ihrer Einbildung, die sowohl im Sinne von Hirngespinsterei als auch im Sinne einer sich erweiternden Vorstellungskraft zu verstehen ist, der Welt zusehends abhanden.
"König, Hofnarr und Volk", dessen Titel auf Büchners "Leonce und Lena" anspielt und die hierarchischen Positionen benennt, für die man sich innerhalb des Instituts zu entscheiden hat, ist aber kein platter Aufruf zum Selberdenken, keine simple Satire auf den Opportunismus oder auf den Literaturbetrieb. Vieldeutig und vielstimmig fragt der Roman nach jeglichen Etikettierungen und Wurzeln des Denkens und Schreibens, nach dem Einfluss von Traditionen, nach den poetologischen Prämissen jedes literarischen Schreibens. Linas Schreiben - und auf vermittelte Weise auch Winklers Roman - ist auch ein halb ironisches, halb ernsthaftes Anti-Originalitätscredo: "Ich frage mich, Jakob, was wäre so schlimm daran, wenn wir wirklich nur zu denken und zu sagen hätten, was schon gesagt und gedacht worden ist? Wenn wir uns nur zu erinnern hätten, um dabei eigen, ganz eigen zu werden?"
Märchenhaft und spröde zugleich sympathisiert "König, Hofnarr und Volk" mit literarischen Außenseitern, die ihr subversives Potential aus ihrer Unangepasstheit gewinnen. In der Figur der Lina nimmt diese Sympathie für eine randständige Position des Schreibens und Beobachtens Gestalt an, vereinen sich die Ambivalenzen eines Lebens, das sich mit Blick auf seine Wurzeln der Suche nach dem eigenen Ton entgegen herrschenden Methoden und Moden verpflichtet fühlt und dabei Gefahr läuft, sich von allem auszuschließen. Die Nuanciertheit, mit der dies erzählt wird, erzeugt den Reiz dieses nachdenklichen Romans, mit dem Andrea Winkler ihren Rang als form- und sprachbewusste, eigenwillige Autorin festigt.
BEATE TRÖGER
Andrea Winkler: "König, Hofnarr und Volk".
Einbildungsroman.
Zsolnay Verlag, Wien 2013. 188 S., geb., 19,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Hirnkasten nichts Neues: Andrea Winklers Roman "König, Hofnarr, Volk" erteilt dem Originalitätswahn eine originelle Abfuhr
Der Bildungsroman, so die Definition eines Literaturlexikons, "gestaltet die innere Entwicklung eines Menschen von einer sich selbst noch unbewussten Jugend zu einer allseits gereiften Persönlichkeit, die ihre Aufgabe in der Gemeinschaft bejaht und erfüllt". Wenn die 1972 geborene Autorin Andrea Winkler ihren vierten Roman mit "Einbildungsroman" untertitelt, darf man vermuten, dass hier ein Genre unterlaufen werden soll. Genau das tut "König, Hofnarr und Volk" auf raffinierte Weise.
Die Erzählerin des Romans ist Lina Lorbeer, eine junge Frau, die das Erkennungszeichen der Dichter schon im Namen trägt. Sie zählt zu den Auserwählten, die am "Institut für Gedankenkunde und Verstehen" studieren, einem Etablissement, das in seiner Abgeschlossenheit literarischen Vorläufern wie dem Institut Benjamenta aus Robert Walsers "Jakob van Gunten" oder dem Konvikt zu W. aus Robert Musils "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" ähnelt: Es wird im Roman zum Theatrum Mundi.
Die Lehrinhalte des "Instituts für Gedankenkunde und Verstehen" klingen aus dem Mund von Professor Icks und seiner geisterhaften Kollegin Stein anfangs harmlos. Man habe sich versammelt, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Das, so die herrschende Lehrmeinung, geschehe nicht durch eigenständiges Denken. Im Gegenteil solle gelernt werden, sich Bekanntes ganz zu eigen zu machen, fremdes Denken zu assimilieren und das eigene durchdenkend fremd werden zu lassen. Erst dann bestehe die Chance, Unsterblichkeit zu erlangen, womöglich sogar als steinerne Büste im Hof des Instituts verewigt zu werden.
In ihrer Phantasie reiht sich auch Lina in diesen Olymp ein: "Dieser Charakterkopf! Diese Locken! Dieses poetische Gesichtchen! War es nicht von jeher bestimmt, hier zu stehen und die Blätter im Hof zu betrachten?" Sie stürzt sich auf die seltsamen Denk- und Schreibübungen, die den Studierenden aufgetragen werden. Der Versuch, das eigene Denken aufzugeben, verläuft bei Lina aber anders als erwartet. Ihre eigenen Gedanken verselbständigen sich in ihrem karg möblierten Zimmer, das "aus beinahe gar nichts besteht". Sie schafft sich träumend und schreibend einen imaginären Raum, in dem sie geschützt ist vor dem geisterhaft-sanften Drill von Professor Icks, der mit seinen manipulativen Unterrichtsmethoden dem amoralischen Arzt aus Büchners "Woyzeck" ähnelt, der Franz Woyzeck dazu zwingt, sich ausschließlich von Erbsen zu ernähren.
In ihrem Tagebuch und in Briefen an den Freund Jakob greifen ihr Denken, ihre Erinnerungen und ihre Phantasie weit aus. Allmählich mischen sich in ihr Schreiben und Denken auch Versatzstücke aus fremden Texten, etwa das "Ich möchte lieber nicht" aus Herman Melvilles "Bartleby", Virginia Woolfs "Zimmer für sich allein", Büchners "Woyzeck", das Gedicht "Wie immer" von Robert Walser, und aus der "hochbegabten", von Professor Icks zunächst protegierten Schülerin wird eine Hieronyma im Gehäus, die, halb bewusst, halb unbewusst, in ihren Meditationen versinkt und immer mehr aneckt, immer weniger zwischen Eigenem und Fremden zu trennen weiß.
Winklers Einbildungsroman ist also quasi ein umgestülpter Bildungsroman, da die Entwicklung der Hauptfigur in "verkehrter" Richtung verläuft: Indem Lina die Regeln übertritt, wächst sie aus der sektenartigen Gesellschaft des Instituts heraus, kommt mittels ihrer Einbildung, die sowohl im Sinne von Hirngespinsterei als auch im Sinne einer sich erweiternden Vorstellungskraft zu verstehen ist, der Welt zusehends abhanden.
"König, Hofnarr und Volk", dessen Titel auf Büchners "Leonce und Lena" anspielt und die hierarchischen Positionen benennt, für die man sich innerhalb des Instituts zu entscheiden hat, ist aber kein platter Aufruf zum Selberdenken, keine simple Satire auf den Opportunismus oder auf den Literaturbetrieb. Vieldeutig und vielstimmig fragt der Roman nach jeglichen Etikettierungen und Wurzeln des Denkens und Schreibens, nach dem Einfluss von Traditionen, nach den poetologischen Prämissen jedes literarischen Schreibens. Linas Schreiben - und auf vermittelte Weise auch Winklers Roman - ist auch ein halb ironisches, halb ernsthaftes Anti-Originalitätscredo: "Ich frage mich, Jakob, was wäre so schlimm daran, wenn wir wirklich nur zu denken und zu sagen hätten, was schon gesagt und gedacht worden ist? Wenn wir uns nur zu erinnern hätten, um dabei eigen, ganz eigen zu werden?"
Märchenhaft und spröde zugleich sympathisiert "König, Hofnarr und Volk" mit literarischen Außenseitern, die ihr subversives Potential aus ihrer Unangepasstheit gewinnen. In der Figur der Lina nimmt diese Sympathie für eine randständige Position des Schreibens und Beobachtens Gestalt an, vereinen sich die Ambivalenzen eines Lebens, das sich mit Blick auf seine Wurzeln der Suche nach dem eigenen Ton entgegen herrschenden Methoden und Moden verpflichtet fühlt und dabei Gefahr läuft, sich von allem auszuschließen. Die Nuanciertheit, mit der dies erzählt wird, erzeugt den Reiz dieses nachdenklichen Romans, mit dem Andrea Winkler ihren Rang als form- und sprachbewusste, eigenwillige Autorin festigt.
BEATE TRÖGER
Andrea Winkler: "König, Hofnarr und Volk".
Einbildungsroman.
Zsolnay Verlag, Wien 2013. 188 S., geb., 19,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Sprachlich präzise, musikalisch und misstrauisch sich selbst gegenüber. (...) Das Nachdenken über die Bedingungen und Möglichkeiten von Literatur wird bei Andrea Winkler zu Literatur, es bleibt nicht in den Kinderschuhen der Literaturbetriebssatire stecken." Günther Eisenhuber, Die Presse, 23.02.13
"Märchenhaft und spröde zugleich sympathisiert "König, Hofnarr und Volk" mit literarischen Außenseitern, die ihr subversives Potential aus ihrer Unangepasstheit gewinnen. (...) Die Nuanciertheit, mit der dies erzählt wird, erzeugt den Reiz dieses nachdenklichen Romans, mit dem Andrea Winkler ihren Rang als form- und sprachbewusste, eigenwillige Autorin festigt." Beate Tröger, 25.07.13, Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Das Buch ist eine bitterböse Abrechnung mit dem literarischen Leben und seinen Eitelkeiten sowie mit Geisteswissenschaften, die jeglichen Geist durch schematisches Denken vernichtet... was will man mehr?" Georg Renöckl, Neue Zürcher Zeitung, 10.08.13
"Märchenhaft und spröde zugleich sympathisiert "König, Hofnarr und Volk" mit literarischen Außenseitern, die ihr subversives Potential aus ihrer Unangepasstheit gewinnen. (...) Die Nuanciertheit, mit der dies erzählt wird, erzeugt den Reiz dieses nachdenklichen Romans, mit dem Andrea Winkler ihren Rang als form- und sprachbewusste, eigenwillige Autorin festigt." Beate Tröger, 25.07.13, Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Das Buch ist eine bitterböse Abrechnung mit dem literarischen Leben und seinen Eitelkeiten sowie mit Geisteswissenschaften, die jeglichen Geist durch schematisches Denken vernichtet... was will man mehr?" Georg Renöckl, Neue Zürcher Zeitung, 10.08.13