»Die große neue Begabung der deutschen Gegenwartsliteratur«_ Iris Radisch_
Die Macht der Liebe im Wechsel der Zeiten: Kathrin Schmidt erzählt eine staunenswerte und anrührende Familiengeschichte aus dem deutschen Alltag, in der sich außergewöhnliche Lebensläufe durch die Wendezeit schlängeln. In epischer Pracht, sprachlicher Fülle und mit erzählerischem Feingefühl betreibt Kathrin Schmidt das Geschäft der Erinnerung. Sie führt den Leser hinein in ein Ostberliner Viertel, das durch das Verschwinden eines Mädchens in Unruhe versetzt wird. Zwar taucht die kleine Janina nach wenigen Tagen wieder auf, doch können es die Hauptfiguren nun nicht mehr lassen, sich mit ihrer Kindheit und dem Kindsein zu beschäftigen.Rechtsanwalt Marl lebt in einer homosexuellen Beziehung, wünscht sich ein eigenes Kind und erfährt ein Geheimnis aus der Vergangenheit seines Vaters. Die Lehrerin Lioba findet rätselhafte Briefe in ihrer Wohnung, seit sie eine neue Putzfrau beschäftigt, die auch in der Kanzlei von Marl arbeitet. Und eine Aussiedlerfamilie aus Kasachstan entdeckt ihre deutschen Wurzeln an unerwarteter Stelle.Bald wird klar, dass Frau Koenig, die leicht debile Putzfrau, und ihr Vater Schlüsselfiguren bei der Entwirrung des feinmaschigen Beziehungsgeflechts sein müssen.
Kathrin Schmidt erzählt in einer bildhaften Sprache mit tief tönendem, einnehmendem Klang, und sie legt zahlreiche Handlungsfäden aus, die sie kunstvoll und beinahe unmerklich zusammenführt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die Macht der Liebe im Wechsel der Zeiten: Kathrin Schmidt erzählt eine staunenswerte und anrührende Familiengeschichte aus dem deutschen Alltag, in der sich außergewöhnliche Lebensläufe durch die Wendezeit schlängeln. In epischer Pracht, sprachlicher Fülle und mit erzählerischem Feingefühl betreibt Kathrin Schmidt das Geschäft der Erinnerung. Sie führt den Leser hinein in ein Ostberliner Viertel, das durch das Verschwinden eines Mädchens in Unruhe versetzt wird. Zwar taucht die kleine Janina nach wenigen Tagen wieder auf, doch können es die Hauptfiguren nun nicht mehr lassen, sich mit ihrer Kindheit und dem Kindsein zu beschäftigen.Rechtsanwalt Marl lebt in einer homosexuellen Beziehung, wünscht sich ein eigenes Kind und erfährt ein Geheimnis aus der Vergangenheit seines Vaters. Die Lehrerin Lioba findet rätselhafte Briefe in ihrer Wohnung, seit sie eine neue Putzfrau beschäftigt, die auch in der Kanzlei von Marl arbeitet. Und eine Aussiedlerfamilie aus Kasachstan entdeckt ihre deutschen Wurzeln an unerwarteter Stelle.Bald wird klar, dass Frau Koenig, die leicht debile Putzfrau, und ihr Vater Schlüsselfiguren bei der Entwirrung des feinmaschigen Beziehungsgeflechts sein müssen.
Kathrin Schmidt erzählt in einer bildhaften Sprache mit tief tönendem, einnehmendem Klang, und sie legt zahlreiche Handlungsfäden aus, die sie kunstvoll und beinahe unmerklich zusammenführt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002Drei in einem Bett sind noch kein Paar
Hemmungslos: Kathrin Schmidt tankt Weisheit in einer wodkafeuchten Nacht / Von Jörg Magenau
So könnte ein Kriminalroman beginnen: Im Gebüsch neben einer Tankstelle steht ein Kind mit nassen Strümpfen und weint. Seine Kehle ist durchschnitten und wieder zusammengenäht worden, als habe jemand einen Mord im Vollzug der Tat zurücknehmen wollen. Kathrin Schmidt läßt diesem mysteriösen Auftakt keine Tätersuche folgen. Das Rätsel des Kindes, das wie ein Menetekel am Wegesrand steht, bleibt ungelöst. Auch in den Boulevardzeitungen spielt die "kleine Janina", wie sie dort heißt, nach ein paar Wochen keine Rolle mehr. Doch das zum Schweigen gebrachte Opfer markiert das symbolische Zentrum eines Romans, der surreale, magische Elemente mit einem detailverliebten, überbordenden Realismus mischt.
Drei Geschichten kommen damit in Gang, die zunächst nur dadurch verbunden sind, daß sie alle in der Ost-Berliner Plattenbausiedlung spielen, in der auch das Kind gefunden wurde. Alle Geschichten drehen sich um verlorene, zermarterte Kindheit, um Sehnsucht und Verstummen, um Vergangenheit und Zukunft oder ganz schlicht um die Frage, "was ein Kind ist". Die Leser bekommen die Rolle von Detektiven zugewiesen, die Indizien zusammentragen müssen, um allmählich zu entdecken, wie die Autorin die Geschichten verknüpft und ihre Figuren in schicksalhaften Zusammenhang bringt. Die Vergangenheit muß erforscht werden, um zu erfahren, wieviel Zukunft möglich ist. Denn die Antwort auf die Frage, was ein Kind sei, ist im Grenzbereich zwischen Vergangenheit und Zukunft zu suchen.
Marl und Frieling sind ein schwules Paar, das in einer konventionellen, aber zärtlichen Beziehung zusammenlebt. Marl ist Rechtsanwalt, Frieling kümmert sich um den Haushalt. Marl war es, der die "kleine Janina" gefunden hat. Dieses Erlebnis wirft ihn aus der Bahn. Sein plötzlich aufflackernder Kinderwunsch droht die Partnerschaft zu zerstören, bis Marl begreift, daß er sich nicht nach dem gemarterten Kind, sondern nach der eigenen, abhanden gekommen Kindheit sehnt. Er erfährt, daß sein Vater, den er als ängstlichen, schweigsamen Duckmäuser kennt, in der stalinistischen Frühzeit der DDR ins Zuchthaus geraten war und dort einen Mithäftling liebenlernte. Nach seiner Haftentlassung beschloß er, nie wieder aufzufallen, flüchtete sich in eine Tarnehe und ein langweiliges Leben und verleugnete den Liebhaber.
Auch die Lehrerin Lioba Zeplin wird mit der Vergangenheit konfrontiert. Ihre etwas debile Putzfrau versteckt mysteriöse Briefe mit Geschichten unter der Fußmatte oder hinterm Heizkörper, die kaum verschlüsselt von Liobas Kindheit handeln. Lioba entdeckt in diesen Texten, daß ihr Vater ein notorischer Denunziant mit Blockwartmentalität war. Daß auch sie selbst sich in harmloser Plaudersucht gegenüber Mitarbeitern des MfS durchaus mitteilungsfreudig gab, erscheint danach weniger harmlos, ist aber nicht der Grund ihrer Verzweiflung. Lioba erlöst sich schließlich aus der Tristesse ihres Daseins mit einem eleganten Sprung vom Balkon. Schmerzfrei und ohne Bedauern scheidet sie aus dem Leben.
Unmerklich weitet sich der Erzählraum von der nachbarschaftlichen Enge und Anonymität der Vorortödnis zum Geschichtspanorama, das bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreicht. Ida Bergner, vormals Sinaida Semjonowna Partkowa, hat es gelernt, ihr Schicksal zu akzeptieren. Als Spätaussiedlerin lebt sie im Wartestand der Bürokratie. Sie wohnt zusammen mit ihrer flatterhaften Enkelin Walja und deren Mann, der in Ermangelung anderer sinnvoller Beschäftigung endlos an seinem Auto herumrepariert. Im Ehebett des jungen Paares thront wie ein Albtraum eine mechanische Gliederpuppe - Surrogat unerfüllter Wünsche. Ida kam einst als Mitglied der Roten Armee nach Deutschland. Im Verlauf einer wodkafeuchten Nacht und einer grotesken Wette wurde sie geschwängert und kehrte mit einer Tochter in die Heimat zurück. Die Tochter ist längst tot, entschlafen neben dem zischenden Gasherd ihrer kasachischen Küche. Doch nun, mit fünfzigjähriger Verspätung, trifft Ida den Vater ihrer Tochter wieder, von dem sie bis dahin noch nicht einmal den Namen wußte.
Was ist ein Kind? Die naheliegende Antwort, es sei ein Resultat der Liebe, wird bei Kathrin Schmidt nachhaltig demontiert. "Die Liebe, die Hur" poltert als Schicksalsgöttin durchs Geschehen und hat ihren Spaß daran, die Menschen an der Nase herumzuführen. Sie läßt sich bevorzugt dort nieder, wo, wie bei Marl und Frieling, Fortpflanzung ausgeschlossen ist, während Kinder in trostlosen Familien und in Lieblosigkeit aufwachsen müssen. Traditionelle Familienstrukturen gibt es in diesem Roman nur noch als Problem. Verwandtschaft und Zusammenhalt sind nicht durch die Biologie gegeben, sondern müssen aufgefunden und angenommen werden. Das ist um so auffallender, als Kathrin Schmidt ihre Figuren in greller Körperlichkeit zeichnet und das Triebhafte, Lustbetonte in den Vordergrund stellt. Mit Freude wird gegessen und zugegriffen, wo es etwas zu genießen gibt. Sex und Sinnlichkeit sind die Schlüssel zum Leben und zum Erzählen. Saft- und kraftvolle Frauen, Sinnbilder archaischer Weiblichkeit, erfreuen sich einer Sexualität von geradezu vegetativer Üppigkeit. Die Männer wirken daneben - mit Ausnahme des schwulen Paares - eher schwächlich und ducken sich wie Marls graugesichtiger Vater weg aus der Geschichte und aus der immer auch riskanten Sinnlichkeit.
Schmidts barocke, überbordende Erzählweise wurde bereits in ihrem Debütroman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition" gerühmt. Vergleichbar ist ihr magischer Realismus allenfalls lateinamerikanischen Romanen der siebziger Jahre. Im Gebiet der deutschen Literatur sind Irmtraud Morgner und vielleicht der frühe, noch ungebändigte Günter Grass als Vorbilder erkennbar. Mit "Koenigs Kinder" hat Kathrin Schmidt einen ostdeutschen Schicksalsroman geschrieben, der das individuelle Leiden und Verstummen in einen undurchschaubaren zeitgeschichtlichen Zusammenhang bringt. Das Unternehmen gelingt, weil die Autorin darauf verzichtet, psychologische Erklärungen oder ideologische Rechtfertigungen zu liefern. Sie vertraut allein auf die Kraft ihres Erzählens und hat Erfolg damit.
Kathrin Schmidt behandelt ihre Figuren mit Zuneigung und Mitgefühl. Weil sie ihnen begrenzte Einsicht in ihr Verhängnis gewährt, bekommen sie so etwas wie Weisheit oder doch zumindest eine animalische Duldsamkeit. Zueinander finden sie aber nicht, die Koenigs-Kinder, ganz so, wie es der Titelanklang ans Volkslied suggeriert. Nur die Leser kennen schließlich alle Verwandtschaftsbeziehungen. Sie sind klüger als die Figuren, die wie Marionetten an ihren Schicksalsstricken hängen. Am Ende des Romans sitzt "die Liebe, die Hur" mit Stift und Papier vor ihrem Abakus und zieht einen Strich unter die Rechnung. Sie scheint ganz zufrieden zu sein, auch wenn sich erzähltes Leben nicht wirklich bilanzieren läßt. Mit dem Auftauchen der "kleinen Janina" hätten die Dinge ihre Kehrseite zurückbekommen, heißt es im Text. Richtiger wäre es, zu sagen, die Menschen hätten eine historische Tiefendimension erfahren. Zeitgeschichte und wilde Fabulierlust, Detailtreue und Phantasiebrausen schließen sich bei Kathrin Schmidt allerdings nicht aus. Geschichte erscheint als mythologische Macht, die die Menschen mitreißt wie ein breiter Fluß. Nur "die Liebe, die Hur" kann sich ihren Reim aufs Geschehen machen.
Kathrin Schmidt: "Koenigs Kinder". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 344 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hemmungslos: Kathrin Schmidt tankt Weisheit in einer wodkafeuchten Nacht / Von Jörg Magenau
So könnte ein Kriminalroman beginnen: Im Gebüsch neben einer Tankstelle steht ein Kind mit nassen Strümpfen und weint. Seine Kehle ist durchschnitten und wieder zusammengenäht worden, als habe jemand einen Mord im Vollzug der Tat zurücknehmen wollen. Kathrin Schmidt läßt diesem mysteriösen Auftakt keine Tätersuche folgen. Das Rätsel des Kindes, das wie ein Menetekel am Wegesrand steht, bleibt ungelöst. Auch in den Boulevardzeitungen spielt die "kleine Janina", wie sie dort heißt, nach ein paar Wochen keine Rolle mehr. Doch das zum Schweigen gebrachte Opfer markiert das symbolische Zentrum eines Romans, der surreale, magische Elemente mit einem detailverliebten, überbordenden Realismus mischt.
Drei Geschichten kommen damit in Gang, die zunächst nur dadurch verbunden sind, daß sie alle in der Ost-Berliner Plattenbausiedlung spielen, in der auch das Kind gefunden wurde. Alle Geschichten drehen sich um verlorene, zermarterte Kindheit, um Sehnsucht und Verstummen, um Vergangenheit und Zukunft oder ganz schlicht um die Frage, "was ein Kind ist". Die Leser bekommen die Rolle von Detektiven zugewiesen, die Indizien zusammentragen müssen, um allmählich zu entdecken, wie die Autorin die Geschichten verknüpft und ihre Figuren in schicksalhaften Zusammenhang bringt. Die Vergangenheit muß erforscht werden, um zu erfahren, wieviel Zukunft möglich ist. Denn die Antwort auf die Frage, was ein Kind sei, ist im Grenzbereich zwischen Vergangenheit und Zukunft zu suchen.
Marl und Frieling sind ein schwules Paar, das in einer konventionellen, aber zärtlichen Beziehung zusammenlebt. Marl ist Rechtsanwalt, Frieling kümmert sich um den Haushalt. Marl war es, der die "kleine Janina" gefunden hat. Dieses Erlebnis wirft ihn aus der Bahn. Sein plötzlich aufflackernder Kinderwunsch droht die Partnerschaft zu zerstören, bis Marl begreift, daß er sich nicht nach dem gemarterten Kind, sondern nach der eigenen, abhanden gekommen Kindheit sehnt. Er erfährt, daß sein Vater, den er als ängstlichen, schweigsamen Duckmäuser kennt, in der stalinistischen Frühzeit der DDR ins Zuchthaus geraten war und dort einen Mithäftling liebenlernte. Nach seiner Haftentlassung beschloß er, nie wieder aufzufallen, flüchtete sich in eine Tarnehe und ein langweiliges Leben und verleugnete den Liebhaber.
Auch die Lehrerin Lioba Zeplin wird mit der Vergangenheit konfrontiert. Ihre etwas debile Putzfrau versteckt mysteriöse Briefe mit Geschichten unter der Fußmatte oder hinterm Heizkörper, die kaum verschlüsselt von Liobas Kindheit handeln. Lioba entdeckt in diesen Texten, daß ihr Vater ein notorischer Denunziant mit Blockwartmentalität war. Daß auch sie selbst sich in harmloser Plaudersucht gegenüber Mitarbeitern des MfS durchaus mitteilungsfreudig gab, erscheint danach weniger harmlos, ist aber nicht der Grund ihrer Verzweiflung. Lioba erlöst sich schließlich aus der Tristesse ihres Daseins mit einem eleganten Sprung vom Balkon. Schmerzfrei und ohne Bedauern scheidet sie aus dem Leben.
Unmerklich weitet sich der Erzählraum von der nachbarschaftlichen Enge und Anonymität der Vorortödnis zum Geschichtspanorama, das bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreicht. Ida Bergner, vormals Sinaida Semjonowna Partkowa, hat es gelernt, ihr Schicksal zu akzeptieren. Als Spätaussiedlerin lebt sie im Wartestand der Bürokratie. Sie wohnt zusammen mit ihrer flatterhaften Enkelin Walja und deren Mann, der in Ermangelung anderer sinnvoller Beschäftigung endlos an seinem Auto herumrepariert. Im Ehebett des jungen Paares thront wie ein Albtraum eine mechanische Gliederpuppe - Surrogat unerfüllter Wünsche. Ida kam einst als Mitglied der Roten Armee nach Deutschland. Im Verlauf einer wodkafeuchten Nacht und einer grotesken Wette wurde sie geschwängert und kehrte mit einer Tochter in die Heimat zurück. Die Tochter ist längst tot, entschlafen neben dem zischenden Gasherd ihrer kasachischen Küche. Doch nun, mit fünfzigjähriger Verspätung, trifft Ida den Vater ihrer Tochter wieder, von dem sie bis dahin noch nicht einmal den Namen wußte.
Was ist ein Kind? Die naheliegende Antwort, es sei ein Resultat der Liebe, wird bei Kathrin Schmidt nachhaltig demontiert. "Die Liebe, die Hur" poltert als Schicksalsgöttin durchs Geschehen und hat ihren Spaß daran, die Menschen an der Nase herumzuführen. Sie läßt sich bevorzugt dort nieder, wo, wie bei Marl und Frieling, Fortpflanzung ausgeschlossen ist, während Kinder in trostlosen Familien und in Lieblosigkeit aufwachsen müssen. Traditionelle Familienstrukturen gibt es in diesem Roman nur noch als Problem. Verwandtschaft und Zusammenhalt sind nicht durch die Biologie gegeben, sondern müssen aufgefunden und angenommen werden. Das ist um so auffallender, als Kathrin Schmidt ihre Figuren in greller Körperlichkeit zeichnet und das Triebhafte, Lustbetonte in den Vordergrund stellt. Mit Freude wird gegessen und zugegriffen, wo es etwas zu genießen gibt. Sex und Sinnlichkeit sind die Schlüssel zum Leben und zum Erzählen. Saft- und kraftvolle Frauen, Sinnbilder archaischer Weiblichkeit, erfreuen sich einer Sexualität von geradezu vegetativer Üppigkeit. Die Männer wirken daneben - mit Ausnahme des schwulen Paares - eher schwächlich und ducken sich wie Marls graugesichtiger Vater weg aus der Geschichte und aus der immer auch riskanten Sinnlichkeit.
Schmidts barocke, überbordende Erzählweise wurde bereits in ihrem Debütroman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition" gerühmt. Vergleichbar ist ihr magischer Realismus allenfalls lateinamerikanischen Romanen der siebziger Jahre. Im Gebiet der deutschen Literatur sind Irmtraud Morgner und vielleicht der frühe, noch ungebändigte Günter Grass als Vorbilder erkennbar. Mit "Koenigs Kinder" hat Kathrin Schmidt einen ostdeutschen Schicksalsroman geschrieben, der das individuelle Leiden und Verstummen in einen undurchschaubaren zeitgeschichtlichen Zusammenhang bringt. Das Unternehmen gelingt, weil die Autorin darauf verzichtet, psychologische Erklärungen oder ideologische Rechtfertigungen zu liefern. Sie vertraut allein auf die Kraft ihres Erzählens und hat Erfolg damit.
Kathrin Schmidt behandelt ihre Figuren mit Zuneigung und Mitgefühl. Weil sie ihnen begrenzte Einsicht in ihr Verhängnis gewährt, bekommen sie so etwas wie Weisheit oder doch zumindest eine animalische Duldsamkeit. Zueinander finden sie aber nicht, die Koenigs-Kinder, ganz so, wie es der Titelanklang ans Volkslied suggeriert. Nur die Leser kennen schließlich alle Verwandtschaftsbeziehungen. Sie sind klüger als die Figuren, die wie Marionetten an ihren Schicksalsstricken hängen. Am Ende des Romans sitzt "die Liebe, die Hur" mit Stift und Papier vor ihrem Abakus und zieht einen Strich unter die Rechnung. Sie scheint ganz zufrieden zu sein, auch wenn sich erzähltes Leben nicht wirklich bilanzieren läßt. Mit dem Auftauchen der "kleinen Janina" hätten die Dinge ihre Kehrseite zurückbekommen, heißt es im Text. Richtiger wäre es, zu sagen, die Menschen hätten eine historische Tiefendimension erfahren. Zeitgeschichte und wilde Fabulierlust, Detailtreue und Phantasiebrausen schließen sich bei Kathrin Schmidt allerdings nicht aus. Geschichte erscheint als mythologische Macht, die die Menschen mitreißt wie ein breiter Fluß. Nur "die Liebe, die Hur" kann sich ihren Reim aufs Geschehen machen.
Kathrin Schmidt: "Koenigs Kinder". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 344 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jörg Magenau schreibt voller Bewunderung über diesen Roman, der ihn besonders wegen seiner "barocken, überbordenden Erzählweise" begeistert hat. Vergleichbar ist dieser magische Realismus, so Magenau, höchstens mit der lateinamerikanischen Literatur der Siebziger, aber auch "dem frühen, ungebändigten Günter Grass". Ausgehend von einer schrecklichen Szene, in der, wie wir lesen, ein weinendes Kind mit nassen Strümpfen sowie durchschnittener und wieder zusammengenähter Kehle im Gebüsch steht, kommen drei Geschichten in Gang, die Magenau zufolge alle in einer Ostberliner Plattenbausiedlung spielen. In deren Verlauf sieht der Rezensent den Erzählraum von der "nachbarschaftlichen Enge und Anonymität der Vorortödnis" zum Geschichtspanorama sich weiten, das bis zum zweiten Weltkrieg zurückreicht. Alle Geschichten drehten sich um eine verlorene, unglückliche Kindheit. Erst allmählich entdeckt er, wie die Autorin ihre Geschichten verknüpft und ihre Figuren in einen "schicksalhaften Zusammenhang" bringt: ein schwules Paar, eine Lehrerin mit Stasi-Vergangenheit und eine Spätaussiedlerin, die nach fünfzig Jahren den Vater ihres längst verstorbenen Kindes wiedertrifft. Beeindruckt beschreibt Magenau besonders die "grelle Körperlichkeit" der weiblichen Figuren, deren Sexualität für ihn von "geradezu vegetativer Üppigkeit" sind.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Kathrin Schmidt hat Mut und kann Außergewöhnliches außergewöhnlich erzählen. [...] Ein Glücksfall: ein Buch der wahren Erinnerung.« NZZ
Rezensent Jörg Magenau schreibt voller Bewunderung über diesen Roman, der ihn besonders wegen seiner "barocken, überbordenden Erzählweise" begeistert hat. Vergleichbar ist dieser magische Realismus, so Magenau, höchstens mit der lateinamerikanischen Literatur der Siebziger, aber auch "dem frühen, ungebändigten Günter Grass". Ausgehend von einer schrecklichen Szene, in der, wie wir lesen, ein weinendes Kind mit nassen Strümpfen sowie durchschnittener und wieder zusammengenähter Kehle im Gebüsch steht, kommen drei Geschichten in Gang, die Magenau zufolge alle in einer Ostberliner Plattenbausiedlung spielen. In deren Verlauf sieht der Rezensent den Erzählraum von der "nachbarschaftlichen Enge und Anonymität der Vorortödnis" zum Geschichtspanorama sich weiten, das bis zum zweiten Weltkrieg zurückreicht. Alle Geschichten drehten sich um eine verlorene, unglückliche Kindheit. Erst allmählich entdeckt er, wie die Autorin ihre Geschichten verknüpft und ihre Figuren in einen "schicksalhaften Zusammenhang" bringt: ein schwules Paar, eine Lehrerin mit Stasi-Vergangenheit und eine Spätaussiedlerin, die nach fünfzig Jahren den Vater ihres längst verstorbenen Kindes wiedertrifft. Beeindruckt beschreibt Magenau besonders die "grelle Körperlichkeit" der weiblichen Figuren, deren Sexualität für ihn von "geradezu vegetativer Üppigkeit" sind.
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