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Vor 750 Jahren wurde Königsberg gegründet, vor 60 Jahren verschwand es von der Landkarte: Mit dem Untergang Königsbergs in den letzten Wochen des 2. Weltkriegs fiel jene Stadt in Schutt und Asche, in der die moderne Philosophie, die moderne Literatur und die moderne Politik Deutschlands erfunden wurden. Königsberg ist für immer ausgelöscht, doch die Ideen Kants, Herders, Kleists, E.T.A. Hoffmanns, Hannah Arendts und vieler anderer Bürger dieser großartigen Stadt leben weiter. Ein epochales Buch, das Königsberg in unsere Gegenwart zurückholt.

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Produktbeschreibung
Vor 750 Jahren wurde Königsberg gegründet, vor 60 Jahren verschwand es von der Landkarte: Mit dem Untergang Königsbergs in den letzten Wochen des 2. Weltkriegs fiel jene Stadt in Schutt und Asche, in der die moderne Philosophie, die moderne Literatur und die moderne Politik Deutschlands erfunden wurden. Königsberg ist für immer ausgelöscht, doch die Ideen Kants, Herders, Kleists, E.T.A. Hoffmanns, Hannah Arendts und vieler anderer Bürger dieser großartigen Stadt leben weiter. Ein epochales Buch, das Königsberg in unsere Gegenwart zurückholt.
Autorenporträt
Jürgen Manthey, 1932 geboren in Forst/Lausitz, arbeitete als Redakteur, Lektor, Herausgeber und ab 1986 als Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Spezialgebiet "Literaturvermittlung und Medienpraxis" an der Universität Essen. Seit 1997/98 war er emeritiert und lebte als freier Autor und Literaturkritiker in Lübeck, wo er im Dezember 2018 starb .
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2005

Die Geisterverkehrskreuzung
Jürgen Manthey setzt sich an die Mittagstafel Kants und schreibt eine Geschichte der Stadt Königsberg

Die meisten Deutschen fahren nach Kaliningrad, weil sie Königsberg sehen wollen. Dann stellen sie fest, daß sie Königsberg in Kaliningrad nicht finden. Sie laufen am ersten Tag sofort zu Kant, betreten das Kant-Museum und sehen sein Grab. Die Stadt aber ist öde, grau und armselig. Sie gehen durch die Fluchten der öden, grauen und armseligen Plattenbauten Kaliningrads suchend rauf und runter. Nach einer Weile läuft vielleicht eine alte Frau neben ihnen und hinter ihr ein Mann, der in den besten Jahren ist. Das ist Rudolf Borchardt im Schlepptau seiner Oma Emilie, die in Königsberg gelebt hat und dem Enkel abenteuerliche Geschichten erzählte. Darunter war eine Geschichte, die ging so: Jedem, der sich die Karte von Deutschland ansehe, müsse in die Augen springen, daß Deutschland ein Löwe sei und Ostpreußen des Löwen Haupt und daß der Löwe sich nach Osten gegen die Russen gewandt habe. Rudolf Borchardt hat nun endlich aufgeholt, er läuft jetzt neben uns und ist von dieser Erzählung seiner Oma ganz begeistert und benebelt. Er schwadroniert in allen Farben über das Königsberg der Kaufleute, die sich tatkräftig in die Ferne hinauswagten, über seine Version der deutschen Geschichte und über den deutschen, also den ostpreußischen und das meint nun den Königsberger Geist. Er führt sie alle auf, Kant, Hamann und Herder und noch diesen und jenen aus der Ehrengilde des gelungenen Deutschtums - mitten in Kaliningrad.

Gut gebrüllt, Borchardt, möchten wir sagen. Unter diesem wilden Luftdruck seiner Reden wird das Königsberger Luftschloß immer größer und schwerer und drückt den Deutschen, die Königsberg suchen, doch nur die Nase immer tiefer in das Kaliningrader Elend hinein. Die Ödnis wird dabei um so schlimmer, als die meisten deutschen Besucher ja kein Wort Russisch verstehen, so daß sie in Königsberg schon aus dieser Not heraus einem Borchardt zuhören, denn unterhalten kann man sich mit ihm nicht, weil Borchardt auf seinen rasanten Blindflügen, das ist doch landauf, landab bekannt, erst einmal keinen zu Wort kommen läßt. Ja, Rudolf Borchardt wurde in Königsberg geboren, aber er kam gleich nach Moskau, wo sein Vater ein Königsberger Handelshaus vertrat, und dann nach Berlin.

Meine Güte, Königsberg, das muß ein kleines, kerngesundes, kugelrundes Wunder gewesen sein - wie mickrig, muffig, malvenfarben nimmt sich dagegen Frankfurt am Main mit dem negativen Adorno aus oder Bielefeld mit dem systemnüchternen Luhmann oder Jena mit dem kranken Schiller oder Weimar mit dem Monarchen Goethe oder Berlin mit dem Universitäts-Humboldt. Mit einem Stift machen wir, auf irgend einer traurigen Kaliningrader Straße innehaltend, einen dicken Kreis rund um Königsberg auf der Landkarte des, sagen wir einmal: geistigen Deutschland.

Das ist die Lage, und in dieser Lage und rechtzeitig zur Feier der Stadtgründung vor 750 Jahren erscheint Jürgen Mantheys Buch über Königsberg als Weltbürgerrepublik. Die Ostpreußen sprachen einen herben Dialekt und sagten in ihrem Provinzbürgertum immer Keenisbarch.

Britische Flieger haben gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, in den Nächten des 27. und 30. August 1944, Königsberg bombardiert, die Innenstadt dem Erdboden gleichgemacht und fast die Hälfte des übrigen Stadtgebietes zerstört. Ende Januar 1945 standen die Russen vor der Stadt, deren Führung nicht kapitulierte. Die Stadt wurde belagert und beschossen bis zum 9. April 1945. Darauf geriet Königsberg in das öde, graue und armselige Reich des Sozialismus. Diesen letzten Ereignissen der Stadtgeschichte widmet Jürgen Manthey das letzte Kapitel seines Buches. Das Kapitel heißt "Das Ende". Zweierlei Ende ist damit wahrscheinlich gemeint: das Ende der alten Stadtarchitektur, des alten Stadtbildes, und das Ende einer deutschen Stadt, die in die Hände der Sowjetunion fiel und dort blieb. Das Ende der Stadt Kants und der geselligen Vernunft, die Manthey zum Zentrum seiner Geschichte macht, fand zwölf Jahre früher statt: mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten.

Mantheys Buch besteht aus Porträts großer und kleinerer Geister, die mehr oder weniger lang in Königsberg lebten, sowie aus Kapiteln, die sich dem historischen Weg der Stadt widmen und in die biographische Skizzen eingefügt sind. Manthey geht chronologisch durch die Stadt und grüßt souverän diesen und jenen Bewohner mit einem Ton, der den Borchardts klarmachen könnte: Man kann mir nichts vormachen, ich verkehre sowohl bei Gelehrten als auch im Rathaus. Rudolf Borchardt prägte das Wort von der Königsberger Kreuznahme und meinte damit die in seinem Sinne vorbildhaft gelungene Assimilation der Königsberger Juden an das Christentum. Jürgen Manthey hängt an der Idee einer Königsberger Kreuzung und meint damit die Verbindung von Aufklärung, Publizität und Politik. Theodor Gottlieb von Hippel, geboren 1741 in Gerdauen, gehört zu den berühmten Königsbergern in der Galerie Manthey. Hippel war Bürgermeister von Königsberg. Er hat auch Bücher geschrieben, darunter die berühmten "Lebensläufe nach aufsteigender Linie". Manthey, geboren 1932 in Forst in der Lausitz, gehört mit seiner Stadtgeschichte aus Lebensläufen nach guter Königsberger Art jetzt zu den Ehrenbürgern der imaginären Stadt, die manches Mal im verheißungsvollen Schimmer eines verwunschenen Atlantis für ältere Intellektuelle aufblinkt - für Intellektuelle, die mit der deutschen Geschichte über mehr als Lichterketten verbunden sind.

Die Leben und Werk zusammenwebenden Porträts von Kant, Hamann, Hippel, Herder, E. T. A. Hoffmann, Joachim Nettelbeck, Johann Jacoby, Hannah Arendt, Rudolf Borchardt, um nur einige Königsberger Köpfe zu nennen, sind anregend und lesenswert, mag man auch dies oder jenes einwenden oder ergänzen wollen. Aber wo, liebe Königsberger und Nichtkönigsberger, möchte man nicht dies oder jenes einwenden oder ergänzen wollen? Das trifft ja auch auf Rezensionen zu. Die historischen, vor allem der politischen Entwicklung der Stadt an der Pregel gewidmeten Kapitel sind hilfreich und kenntnisreich, mag der oder jene auch hier und dort noch mehr erfahren wollen. Aber angesichts von siebenhundert engbedruckten Seiten mußte einmal Schluß sein.

Während wir durch Mantheys Königsberg laufen, stolpern wir immer wieder über Mantheys Methode - darüber, ein geistiges Königsberg aus Königsberger Lebensstationen entstehen zu lassen und die Königsberger Lebensstationen durch einen Königsberger Geist zu verknüpfen. Das klingt komplizierter, als es ist. Für Manthey ist Königsberg vor allem mit einem Namen und einer intellektuellen Haltung verbunden: mit Kant und dessen Idee einer sich in Geselligkeit beweisenden Vernunft. Auf den Beinen Kants ging die gesellige Vernunft vorbildhaft jeden Tag durch Königsberg spazieren und ließ sich hier und dort zu einem Gespräch nieder. Manthey konnte von frühen Jahren an miterleben, wie auf den Beinen von Jürgen Habermas die kommunikative Vernunft vorbildhaft und wenn auch nicht täglich, so doch wenigstens jede Woche durch die Bundesrepublik spazierenging und sich hier und dort zu einem Gespräch niederließ. Die gesellige Vernunft ist für Manthey der Garant einer gelungenen Verbindung von Publizität, Politik und Aufklärung. In dieser Idee mit und von Kant liegt der Schatz des Königsberger Atlantis. In der berühmten Habilitationsschrift von Jürgen Habermas über den Strukturwandel der Öffentlichkeit, die er in den mehr als geselligen sechziger Jahren bei Wolfgang Abendroth in Marburg an der Lahn einreichte, kommt Königsberg als herausragende Stadt der öffentlichen Vernunftausübung nicht vor. Nun, damals fuhren keine Aufklärungsgruppen nach Kaliningrad. Man fuhr nach Kuba.

Nicht alle Geister blieben in Königsberg so lange kleben wie Kant. Hamann wurde in Königsberg geboren und hat einige Jahre dort studiert, und das reicht, um ihn zu einem Sohn der geistigen Stadt zu machen. Denn Hamann habe gegenüber Kant die irrationale Poesie in die Waagschale geworfen. Herder wurde in Mohrungen geboren und studierte in Königsberg - und auch bei ihm lassen sich durch seine Studienzeit Königsberger Fäden ziehen. Schauen wir nach vorne, sehen wir Hannah Arendt. Im Buch finden wir eine Fotografie, auf der Hannah Arendt mit den Händen redet, und darunter steht ein Satz, der von ihr stammt: "Wir waren die letzten in Keenisbarch, die mit den Händen redeten." Das läßt nicht den Schluß zu, daß eine Eigenschaft der Königsberger Körpersprache darin läge, mit den Händen zu reden. Hannah Arendt wird zu einer echten Königsbergerin, wenn sie auch in Hannover geboren wurde und später von Berlin und den Berlinern schwärmte. Sie besuchte in Königsberg die Schule und verguckte sich in Kants Idee der geselligen Vernunft.

Manthey geht bei seinen Königsberger Kreuzstichen selbstverständlich viel subtiler vor, als das Rezensionsstricknadeln vermögen, aber der Versuch einer Königsberger Geist-Synthese läuft über diese Methode. Die herausragende Intellektualität und das herausragende Ethos der Protagonisten werden dem Haushalt der Stadt zugeschlagen, deren wahres Herz für die Kantische Philosophie schlägt. Welchen Einfluß die Stadt auf eine individuelle geistige Entwicklung notwendig hatte, das erfahren wir im Detail nicht. Vor manchen Porträts stehen wir ratlos: Daß Arnold Gehlen von 1938 bis 1939 in Königsberg an der Universität lehrte und dort sein Hauptwerk "Der Mensch" schrieb - schön und gut, sagen wir, beziehungsweise nicht schön und nicht gut, aber das lehrt uns nichts über Königsberg. Wäre Manthey ein Realitätenzerredner wie Rudolf Borchardt, wer weiß, er würde Gehlen und Königsberg in eine geistige Ehe hineinreden. Das macht er mit Blick auf Kant nicht. Wenig erfahren wir über die Architektur und die Künste in der Stadt oder etwas darüber, was es grundsätzlich bedeutet haben mag, in dieser Stadt als Ansicht und Ambiente zu leben. Die Wiederholung von Kants Bemerkung, in Königsberg lasse sich Weltkenntnis erwerben, ohne durch die Welt zu reisen, macht diesen blinden Fleck einer Darstellung, die ohne Augen auskommt, nur deutlicher. Königsberg bleibt in Kaliningrad unsichtbar.

Bevor wir nun um die nächste Ecke biegen und in einer russischen Geselligkeit landen, die mit Kant nichts am Hut hat, möchten wir rückblickend sagen, daß Jürgen Mantheys "Geschichte einer Weltbürgerrepublik" ein kluger, erzählfreudiger königsbergtreuer Begleiter durch die öden, grauen, armseligen Straßen Kaliningrads ist - ein Begleiter, mit dem wir Rudolf Borchardt, Oma Emilie und den alten Löwen, der sein Haupt gegen Rußland erhebt, lässig abschütteln.

EBERHARD RATHGEB

Jürgen Manthey: "Königsberg". Geschichte einer Weltbürgerrepublik. Carl Hanser Verlag, München 2005. 736 S., S/W-Abb,, geb., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2005

In weltbürgerlicher Absicht
Universale Ideen an der gemeinsamen Mittagstafel: Jürgen Mantheys Geschichte Königsbergs liest sich wie ein rückwärts gewandter utopischer Roman
Ein Lenin-Denkmal wird abgerissen, eine orthodoxe Kirche errichtet: Kaliningrad nimmt an der jüngsten russischen Geschichte teil. In keiner anderen deutschen Stadt hat der Ausgang des Zweiten Weltkriegs den Namen, die Architektur, die Einwohnerschaft, die Sprache, die sichtbaren Erinnerungen so vollständig ausgelöscht wie in Königsberg. Im Rückblick auf ihre Geschichte vereinen sich Schönheit und Schrecken einer untergegangenen Welt. Vergeblich wäre es, wenn der Leser von Jürgen Mantheys „Königsberg” an diesen Ort reisen wollte.
Im Zeichen der Gewalt wurde die Stadt um 1250 gegründet; sie trägt ihren Namen zu Ehren König Ottokars II. von Böhmen, der dort, unter den slawischen Preußen, „viel Volks erschlug” - wie eine Chronik zu rühmen weiß. Seine Nachfolger, die Ritter des Deutschen Ordens, verfuhren nicht anders. So wurden Königsberg und „Preußen” (das seinen Namen den Kurfürsten von Brandenburg übertrug) für 700 Jahre deutsch. Durch vervielfachte Gewalt endete Königsberg: Die Nationalsozialisten brachten die jüdische Minderheit um; die sowjetische Armee „erschlug” bei der Eroberung „viel Volks” und verurteilte den Rest zum Hungertod; die überlebenden Deutschen wurden 1947 ausgewiesen und durch Russen ersetzt.
Zwischen den Exzessen der Gewalt erstreckt sich eine lange, glückliche Epoche der Kultur. Die Stadt blieb sogar vom Dreißigjährigen Krieg verschont. Geschickte Bürgermeister sorgten für den Wohlstand der Bürger, die sich, obwohl sie immer einem Landesherrn unterstanden, in einer Republik wähnten, und für die Freiheit einer Gelehrtenrepublik. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der großen Zeit Königsbergs, als Kant, Hamann und Herder miteinander diskutierten, war der Oberbürgermeister, Theodor Gottlieb Hippel, selbst ein bedeutender Autor.
Da es Königsberg nicht mehr gibt, kann man nur noch davon lesen: die Bücher, die Königsberger geschrieben haben, und Mantheys Buch, das jene Bücher, die in Deutschland und in der Welt Bedeutung gewonnen haben, auf ihre Herkunft zurückführt. Solche lokale Fixierung von Autorschaft legt überraschende Zusammenhänge frei. Gottsched, der nach Leipzig flieht, um nicht unter die „langen Kerls” des Soldatenkönigs gesteckt zu werden, verdankt die republikanische Thematik und Gesinnung seiner Tragödien seinem Königsberger Lehrer Pietsch. Hamann nimmt Lautenunterricht bei Johann Friedrich Reichardt, dessen Roman über „Das Leben des berühmten Tonkünstlers Wilhelm Gulden” zum Vorbild wird für die „Kreisleriana” E.T.A. Hoffmanns, der ebenfalls aus Königsberg stammt und seinen Hausgenossen, den vom protestantischen Dichter zum katholischen Priester konvertierten Zacharias Werner, als den sündigen Mönch Medardus in den „Elixieren des Teufels” porträtiert.
Mantheys einlässliche Darstellung - allein die 160 Seiten über Kant, Hamann, Herder und Hippel bilden ein Buch im Buch - verschafft dem Leser das Vergnügen, die Geister, deren Schriften er bislang nur getrennt wahrgenommen hatte, im Leben dicht neben einander zu wissen. Der Aufklärer Kant und der Antiaufklärer Hamann, in denen sich die großen Alternativen ihres Jahrhunderts gegenüber zu stehen scheinen, sind hier Freunde, die an der gemeinsamen Mittagstafel disputieren und scherzen. An solcher Geselligkeit unter Gleichen bewundert Manthey mit Recht die Verbindung von städtischem Stil, bürgerlichen Tugenden, akademischer Sitte und intellektueller Liberalität.
Königsberg, Hauptstadt einer preußischen Provinz, sei - das behauptet der Untertitel - eine Weltbürgerrepublik gewesen, das genaue Gegenteil also des von Monarchie, Landadel und Militär beherrschten Preußen. In der kleinen Welt einer Stadt steckt der Gegenvorschlag zur großen eines Staates. Ist Königsberg auch untergegangen, so sind dennoch seine historischen Vorzüge in der heutigen deutschen Demokratie zur Institution geworden. In Mantheys historischer Erinnerung sollen wir die am Ende unglückliche, im Gedächtnis aber immer noch glückliche Geschichte Königsbergs als Vorgeschichte unserer Gegenwart lesen. So soll etwa bewusst werden, „dass wir heute in Deutschland in Städten leben, deren auf Selbstverwaltung beruhende demokratische Verfassung aus Königsberg stammt.” Gerne spricht daher Manthey - was dem strengen Historiker verwehrt wäre - von „Vorwegnahmen”, womit er Ereignisse meint, die auf spätere Konstellationen am selben Ort vorausweisen, als hätte ein verborgener Geist die Geschichte der Stadt zum Schicksal gefügt.
Der Enthusiast, als der sich Manthey zu erkennen gibt, verwandelt den Stadtplan von Königsberg in einen Globus: auf kleinstem Raum sei hier der Ursprung universaler Ideen zu betrachten. Aus den Gedankengängen der Königsberger Philosophen wählt Mantheys Interpretation jene Schritte aus, die aus der Erfahrung stadtbürgerlicher Autonomie herkommen und „in weltbürgerlicher Absicht” (Kant) zur Emanzipation aller Menschen hinführen wollen. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Karl Rosenkranz in seinen „Königsberger Skizzen” als „Hauptzug” dieser Stadt eine „durch nüchternen Verstand beherrschte Universalität” bemerkt.
Die Sympathie des Literaturwissenschaftlers und -redakteurs Manthey gehört den Dichtern und Philosophen. Mehrfach beruft er sich auf das Vorbild Günter Grass’, dessen Romane das benachbarte Danzig (freilich ohne Dichter und Philosophen) vergegenwärtigen und dessen Erzählung vom „Treffen in Telgte” eine temporäre Republik der Dichter und Philosophen imaginiert. Manthey stellt wie Grass das Glück der privaten Existenz in Gegensatz zum Unglück der politischen Geschichte. „Literatur ist für Gegenbilder zuständig. Abbilder liefern andere Branchen.” Dieses Bild von Königsberg ist selbst ein Gegenbild, das aus Simon Dachs Gedichten, Kants Abhandlungen, Hamanns Briefen, Hoffmanns Erzählungen eine Welt der Literatur erstehen lässt.
Mantheys Stärke, die verdichtete Wiedergabe des Lebens in und von Büchern, ist auch eine historiographische Schwäche. Er nimmt die politischen Mächte und Prozesse nur als Hindernisse auf dem Weg zu einer kosmopolitischen Stadtrepublik von Schriftstellern wahr. Sobald er sich auf solch krude Dinge wie Schlachten, Lehenshoheit und Regentenwechsel einlassen muss, um dem Anspruch einer „Geschichte” Königsbergs zu genügen, stockt seine Kunst der Darstellung. Widerstrebend, flüchtig erwähnt er Fakten; so werden Ursache und Zweck politischer Handlungen nicht immer klar.
Wer statt einer Kultur- und Ideengeschichte Königsbergs eine Real- und Sozialgeschichte erwartet hat, wird von diesem Buch enttäuscht sein. Es handelt von den Geistesgrößen, die an diesem Ort sich zahlreicher hervorgetan haben als in anderen deutschen Städten. Zwar zitiert Manthey zustimmend die demokratischen Argumente aus den Schriften der Königsberger Aufklärer, doch verklärt er damit wider Willen eine Aristokratie des Geistes, die ihr Selbstbewusstsein und ihre Sekurität aus der Nähe der Universität zum wohlhabenden Bürgertum gezogen hat. Von den Handwerkern, Dienstleuten, Arbeitern in der Stadt, von den Bauern und Leibeigenen auf dem Lande, die doch Subjekte und nicht nur Objekte einer Demokratie sein müssten, ist fast nie die Rede.
Mantheys „Königsberg” liest sich wie ein rückwärts gewandter utopischer Roman, der von schönen Geistern auf einer Insel der Seligen handelt. Doch lässt sich die Geschichte einer Stadt nicht auf Leben und Werk von zwei oder drei bedeutenden Köpfen ausrichten. Die ausgesparte Realität bemächtigt sich am Ende doch der Geister. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wirkt sich die unselige Lage Königsbergs als Frontstadt in einer Grenzregion aus, die bald die passenden Ideologien hervorbringt. Hier versammeln sich zwischen den Weltkriegen führende Vertreter eines romantischen Konservativismus, der das bodenständige Volkstum als Heilmittel gegen die zersetzende Aufklärung der städtischen Intelligenz empfiehlt: Dichter wie Ernst Wiechert und Agnes Miegel, Professoren wie Hans Rothfels, Theodor Schieder, Werner Conze und Arnold Gehlen, die das ostpreußische Grenzland zum Bollwerk des Deutschtums gegen den slawischen Bolschewismus erklären. Gerade diese militant nationale oder gar nationalsozialistische Gruppe übernahm nach 1945 in Westdeutschland führende Positionen beim Wiederaufbau der Geisteswissenschaften. Mit dieser fatalen Erbschaft schließt Mantheys „Königsberg”, um desto dringlicher an jene Leistungen zu erinnern, die Königsberg beinahe zu einer „Weltbürgerrepublik” gemacht hätten.
Jürgen Manthey
Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik
Carl Hanser Verlag, München 2005. 736 Seiten, 29,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eberhard Rathgeb ist des Lobes voll über Jürgen Mantheys Werk über Königsberg, das weniger von der Stadt und ihrer Geschichte handelt als von ihrem Geist und das entsprechend den Untertitel trägt: "Geschichte einer Weltbürgerrepublik". Sachkundig und erzählerisch geschickt und doch ausgestattet mit Hochachtung vor dem Eigensinn der Realitäten verwebt Manthey Leben und Werk von Größen wie Kant, Hamann, Hippel, Herder, E. T. A. Hoffmann, Joachim Nettelbeck, Johann Jacoby, Hannah Arendt und Rudolf Borchardt. Aus diesen Einzelbildnissen entsteht das Porträt einer Metropole geistigen Lebens, in der "Aufklärung, Publizität und Politik" zusammenliefen. Königsberg, hat Kant gesagt, sei die einzige Stadt, in der man, ohne sich auf Reisen zu begeben, die Welt kennenlernen könne. Warum das so war, zeigt Manthey mit seiner Studie auf eindrucksvolle Art und Weise, urteilt Rathgeb. Die Weltbürgerrepublik endete, so das Fazit des Rezensenten, in dem Augenblick, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Jürgen Manthey ist mit seinem Königsberg-Buch etwas Großartiges gelungen. Er hat die Stadt neu geschaffen, indem er ihre geistigen Bausteine wieder aufeinandergesetzt hat, so daß die Nachschöpfung nun herrlicher erscheint als das historische Original. Nun also haben wir, dank Jürgen Manthey, Königsberg wieder. Vielleicht haben wir es überhaupt erst jetzt."
Eckhard Fuhr, Die Welt, 12.3.2005

"Es ist ein großartiges Buch, im architektonischen Gesamtentwurf genauso fundiert wie in den sorgfältigen und reichhaltigen Detaildeutungen."
Oskar Negt, Die Zeit, 12.5.2005

"... eines der wichtigsten Bücher der gegenwärtigen Ideengeschichte."
Ulrich Raulff, Süddeutsche Zeitung, 04.08.04

"Mantheys 'Königsberg' liest sich wie ein rückwärts gewandter utopischer Roman ... Seine einlässliche Darstelllung verschafft dem Leser das Vergnügen, die Geister, deren Schriften er bislang nur getrennt wahrgenommen hatte, im Leben dicht nebeneinander zu wissen."
Heinz Schlaffer, Süddeutsche Zeitung, 15.03.2005

"Ein kluger, erzählfreudiger königsbergtreuer Begleiter durch die öden, grauen, armseligen Straßen Kaliningrads."
Eberhard Rathgeb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.02.2005

"Warum das kleine Königsberg so viele Weltbürger gebar - kenntnisreich und spannend erzählt. Ein wahrer Glücksfall."
Thomas Meyer, Frankfurter Rundschau, 16.03.2005