"Dem Leib prägen sich die Ereignisse ein." (Michel Foucault)
Der Nationalismus, eine flüchtige und vieldeutige Wirklichkeit, wird aus einer neuen, durch die Einbeziehung des Körpers erweiterten Perspektive analysiert.
Der Körper der Menschen unterliegt nicht nur den Gesetzen seiner Physiognomie, er ist auch der Geschichte ausgesetzt. Svenja Goltermann greift diesen Zusammenhang auf und analysiert den deutschen Nationalismus unter Einbeziehung des Körpers. Wie konnte die Nation verkörpert und sinnlich erlebt werden? Wie konnte sie zu einem Teil der eigenen Identität werden? Wie entwickelten sich Ausprägungen eines "nationalen Bewußtseins" und "nationalen Verhaltens"?
Zur Beantwortung dieser Fragen wird auf das von Pierre Bourdieu entwor-fene Konzept des Habitus zurückgegriffen. Damit ist eine konsequente Historisierung verbunden, die einem allgemeinen, überzeitlichen Verständnis von Nation entgegensteht. Mit der Analyse eines nationalen Habitus, der immer mit anderen, selbst vielschichtigen und wandelbaren Identitäten verbunden war, rückt auch der Körper ins Blickfeld. Eigenschaften und Fähigkeiten, die "der Nation" zugeschrieben werden, können mit dem eigenen Körper einverleibt und durch diesen zum Ausdruck gebracht werden. Umgekehrt wird die Nation durch die Übertragung vermeintlich geschlechtsspezifischer Körpereigenschaften geprägt. Am Beispiel der Turnvereine, die Teil der Nationalbewegung waren, wird gezeigt, welche kulturellen Praktiken ein "nationales Bewußtsein" förderten.
In einem ständigen Wechselspiel von Vorstellungen und sozialen Praktiken wurde die Nation immer neu konstruiert. Den Idealen der Zeitgenossen entsprach das freilich nicht. Sie sehnten sich nach einer Vereinigung gegensätzlicher gesellschaftlicher Kräfte in einer organischen Einheit. Durch dieses Verständnis der Nation konnte sogar die eigene Sterblichkeit in den Hintergrund rücken. Die Unfähigkeit, die Historizität der Nation zu denken, war daher immer auch die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit.
Die Autorin
Dr. Svenja Goltermann ist Wissenschaft-liche Mitarbeiterin (Neuere Geschichte) an der Universität Bielefeld.
Der Nationalismus, eine flüchtige und vieldeutige Wirklichkeit, wird aus einer neuen, durch die Einbeziehung des Körpers erweiterten Perspektive analysiert.
Der Körper der Menschen unterliegt nicht nur den Gesetzen seiner Physiognomie, er ist auch der Geschichte ausgesetzt. Svenja Goltermann greift diesen Zusammenhang auf und analysiert den deutschen Nationalismus unter Einbeziehung des Körpers. Wie konnte die Nation verkörpert und sinnlich erlebt werden? Wie konnte sie zu einem Teil der eigenen Identität werden? Wie entwickelten sich Ausprägungen eines "nationalen Bewußtseins" und "nationalen Verhaltens"?
Zur Beantwortung dieser Fragen wird auf das von Pierre Bourdieu entwor-fene Konzept des Habitus zurückgegriffen. Damit ist eine konsequente Historisierung verbunden, die einem allgemeinen, überzeitlichen Verständnis von Nation entgegensteht. Mit der Analyse eines nationalen Habitus, der immer mit anderen, selbst vielschichtigen und wandelbaren Identitäten verbunden war, rückt auch der Körper ins Blickfeld. Eigenschaften und Fähigkeiten, die "der Nation" zugeschrieben werden, können mit dem eigenen Körper einverleibt und durch diesen zum Ausdruck gebracht werden. Umgekehrt wird die Nation durch die Übertragung vermeintlich geschlechtsspezifischer Körpereigenschaften geprägt. Am Beispiel der Turnvereine, die Teil der Nationalbewegung waren, wird gezeigt, welche kulturellen Praktiken ein "nationales Bewußtsein" förderten.
In einem ständigen Wechselspiel von Vorstellungen und sozialen Praktiken wurde die Nation immer neu konstruiert. Den Idealen der Zeitgenossen entsprach das freilich nicht. Sie sehnten sich nach einer Vereinigung gegensätzlicher gesellschaftlicher Kräfte in einer organischen Einheit. Durch dieses Verständnis der Nation konnte sogar die eigene Sterblichkeit in den Hintergrund rücken. Die Unfähigkeit, die Historizität der Nation zu denken, war daher immer auch die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit.
Die Autorin
Dr. Svenja Goltermann ist Wissenschaft-liche Mitarbeiterin (Neuere Geschichte) an der Universität Bielefeld.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.1999Des Kaisers neue Trikots
Svenja Goltermann guckt den Turnern auf den nationalen Körper
"Eine Geschichte, die diesen Namen eher verdient als die zaghaften (heutigen) Versuche, hätte ihren Platz beim Ablauf der Wechselfälle des menschlichen Körpers", schrieb Marc Bloch Ende der dreißiger Jahre. Der Satz hätte das Motto über Svenja Goltermanns Bielefelder Dissertation "Körper der Nation" sein können: Die Autorin will zeigen, wie wandelnde Nationsvorstellungen sich in den Körper einschreiben und ihn möglicherweise verändern. Svenja Goltermann legt diesem spannenden Ansatz das Habitus-Konzept zugrunde, mit dem Pierre Bourdieu eine bestimmte Disposition als Produkt vielfältiger Erfahrungen beschreibt, aus denen heraus wir die Welt wahrnehmen.
Als Untersuchungsgegenstand hat die Autorin die deutsche Turnerbewegung zwischen 1860 und 1890 ausgewählt, die einerseits zu den wesentlichen Trägerschichten der deutschen Nationalbewegung zählte und zum anderen den Körper zum Vermittlungsort ihrer Wertvorstellungen wählte. Das ist auch deshalb vielversprechend, weil die Forschung die Turnbewegung bisher vor allem unter ideen-, organisations- und sozialgeschichtlichen Aspekten betrachtet hat, während die Dimension des Körpers im dunkeln blieb. Wie schreibt sich das wandelbare Konstrukt Nation demnach in den Körper dieser turnenden Männer ein und welchem Wandel unterlag es?
Anhand einiger Leitbegriffe - Einheit, Freiheit, Männlichkeit - sucht Goltermann Kontinuitäten und Wandel zwischen 1860 und 1890 deutlich zu machen. Die nationale Einheit fungierte vor der Reichsgründung keineswegs als höchstes Ziel: Einzelstaatliche Loyalitäten sowie die enge Verbindung mit dem österreichischen Bruderturnen bestimmten weiterhin die Inszenierung der Nation, so beispielsweise auf dem großen Turnerfest in Dresden 1885. Dieser Befund ist bereichernd, zumal die Verbundenheit mit Österreich nach 1871 bisher oft ausgeblendet wurde. Doch die allmähliche Verschärfung des deutschen Nationalismus vollzogen auch die Turner mit. Die Feindschaft gegenüber der Sozialdemokratie, beginnender Antisemitismus und der Rückgriff auf einen rassistisch geprägten Volksbegriff zeugten von dem Bedürfnis, eine Nation zu stabilisieren, deren Einheit nicht fühlbar war, und eine Antwort auf die neue Unübersichtlichkeit der Moderne zu finden.
Kniebeugen für die Sittlichkeit
Auch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte die emanzipatorische Stoßrichtung der Turnerbewegung sich noch nicht verloren: Die sich im Regelmaß der Turnübung beweisende Disziplin und Selbstbeherrschung - beides bürgerliche Tugenden - sollten zur Erlangung sittlicher Freiheit und Wehrhaftigkeit führen. Doch ebensowenig wie die Freiheit blieb auch die Männlichkeit auf Dauer von dem schleichenden Wandel verschont, der beide Ideale zunehmend auf ihre einheitsstiftenden Momente reduzierte. Hatten die Turner vor 1870 noch Distanz zur kraftstrotzenden Dummheit "der obrigkeitlichen Kriegsmaschinerie" demonstriert, so erlagen sie schließlich der Faszination des Militärs: Ein "hoch einher strebender Männergang", dem militärische Zackigkeit zu eigen war, sollte endlich den "schwerfälligen, kniefälligen und hinfälligen Fallgang" der Gegenwart ablösen.
Soweit bestätigt Goltermanns Studie die Ansicht, daß sich allgemeine Signaturen der Epoche auch in der Turnerbewegung zeigen. Über die Einschreibung dieses veränderten Nationsverständnisses in den Körper, die nachzuzeichnen die Autorin angetreten ist, erfahren wir leider recht wenig. Obwohl sich die Studie immer wieder bemüht, die körperliche Praxis ins Blickfeld zu rücken, was ihr bei der physischen Umsetzung des neuen Militärgeistes auch sehr gut gelingt, werden diese Ansätze weitgehend von der ideen- und begriffsgeschichtlichen Analyse überlagert. Indem hauptsächlich offizielle Dokumente von Turnfesten und -vereinen herangezogen werden, dominiert der Geist der Verbandsfürsten und Festredner. Vielleicht legt die Quellenlage das nahe, aber es wäre wünschenswert gewesen, wenn anhand individueller Erinnerungen hätte nachgezeichnet werden können, inwieweit sich der einzelne Turner wirklich einer nationalen Imprägnierung seines Körpers bewußt war.
Der Habitus, dem ja hier nachgegangen werden soll, läuft keineswegs auf eine kollektive Verhaltensweise hinaus, sondern umfaßt ein breites Spektrum von Handlungsmöglichkeiten. Es stellt sich auch die grundsätzliche Frage, inwieweit Goltermanns recht vollmundig angekündigter Habitus-Zugriff via Körper sich methodisch von bisherigen Analysen unterscheidet. Warum sich das modische Mäntelchen Bourdieus überstreifen, mag sich der eine oder andere fragen, der sich an des Kaisers neue Kleider erinnert fühlt.
Klimmzüge gegen den Sport
Überflüssig sind die überaus umfangreichen "einleitenden Kapitel", die den Leser in die Nationalismusthematik einführen sollen und durchaus kenntnisreich die Sekundärliteratur zusammenfassen. Fragen bleiben offen. Beispielsweise wüßte man gern, wie der Turner-Nationalismus auf den um 1870 aus England kommenden "Sport" reagiert hat: Denn der Wettkampf, oberste Leitlinie des Sports, wurde von den deutschen Turnern verurteilt, weil er nur zum schnöden Ehrgeiz verleite und zudem zum Niedergang des "kriegerischen Gemeinschaftsideals" (Dietmar Klenke) führe.
Andere Fragen schließen sich an: Ließe sich die Auseinandersetzung zwischen Sportlern und Turnern, auf die Goltermann nicht eingeht, auch anhand der körperlichen Praxis nachvollziehen? Hieße dann, den physischen Wettbewerb zu fördern, zugleich Pluralität des Nationsverständnisses zuzulassen? Ebenso unklar bleibt, wie sich Turner einerseits vehement gegen die Katholiken als "Feinde deutschen Geists" aussprechen konnten, in ihrem Nationsverständnis aber die deutsch-österreichische "Volkszusammengehörigkeit" aufrechterhielten. Auf den Festen der "Deutschen Turnerschaft" wurde die Nation immer gemeinsam inszeniert, doch wie sich das mit der Anwesenheit von Deutschen und Österreichern vereinen ließ, bleibt ungeklärt.
Leider neigt die Autorin zu einer weitschweifigen, von soziologischen Termini durchzogenen Sprache, die kaum imstande ist, den spannenden Gegenstand anschaulich zu vermitteln. Von dem Bewußtsein, als Historiker auch eine "Bringschuld gegenüber der Gesellschaft" zu haben, die es mittels flüssiger und lesbarer Deutungen einzulösen gelte, wie Johannes Fried es formuliert hat, ist diese Studie nicht angekränkelt. Das ist schade, denn ihre Ergebnisse wären sonst nicht nur für Historiker, sondern auch für Turner interessant gewesen. Doch so wird die Leserschaft sich wohl auf die Historiker beschränken. ULRIKE VON HIRSCHHAUSEN
Svenja Goltermann: "Körper der Nation". Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860 bis 1890. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 126, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 1998. 360 S., br., 76,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Svenja Goltermann guckt den Turnern auf den nationalen Körper
"Eine Geschichte, die diesen Namen eher verdient als die zaghaften (heutigen) Versuche, hätte ihren Platz beim Ablauf der Wechselfälle des menschlichen Körpers", schrieb Marc Bloch Ende der dreißiger Jahre. Der Satz hätte das Motto über Svenja Goltermanns Bielefelder Dissertation "Körper der Nation" sein können: Die Autorin will zeigen, wie wandelnde Nationsvorstellungen sich in den Körper einschreiben und ihn möglicherweise verändern. Svenja Goltermann legt diesem spannenden Ansatz das Habitus-Konzept zugrunde, mit dem Pierre Bourdieu eine bestimmte Disposition als Produkt vielfältiger Erfahrungen beschreibt, aus denen heraus wir die Welt wahrnehmen.
Als Untersuchungsgegenstand hat die Autorin die deutsche Turnerbewegung zwischen 1860 und 1890 ausgewählt, die einerseits zu den wesentlichen Trägerschichten der deutschen Nationalbewegung zählte und zum anderen den Körper zum Vermittlungsort ihrer Wertvorstellungen wählte. Das ist auch deshalb vielversprechend, weil die Forschung die Turnbewegung bisher vor allem unter ideen-, organisations- und sozialgeschichtlichen Aspekten betrachtet hat, während die Dimension des Körpers im dunkeln blieb. Wie schreibt sich das wandelbare Konstrukt Nation demnach in den Körper dieser turnenden Männer ein und welchem Wandel unterlag es?
Anhand einiger Leitbegriffe - Einheit, Freiheit, Männlichkeit - sucht Goltermann Kontinuitäten und Wandel zwischen 1860 und 1890 deutlich zu machen. Die nationale Einheit fungierte vor der Reichsgründung keineswegs als höchstes Ziel: Einzelstaatliche Loyalitäten sowie die enge Verbindung mit dem österreichischen Bruderturnen bestimmten weiterhin die Inszenierung der Nation, so beispielsweise auf dem großen Turnerfest in Dresden 1885. Dieser Befund ist bereichernd, zumal die Verbundenheit mit Österreich nach 1871 bisher oft ausgeblendet wurde. Doch die allmähliche Verschärfung des deutschen Nationalismus vollzogen auch die Turner mit. Die Feindschaft gegenüber der Sozialdemokratie, beginnender Antisemitismus und der Rückgriff auf einen rassistisch geprägten Volksbegriff zeugten von dem Bedürfnis, eine Nation zu stabilisieren, deren Einheit nicht fühlbar war, und eine Antwort auf die neue Unübersichtlichkeit der Moderne zu finden.
Kniebeugen für die Sittlichkeit
Auch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte die emanzipatorische Stoßrichtung der Turnerbewegung sich noch nicht verloren: Die sich im Regelmaß der Turnübung beweisende Disziplin und Selbstbeherrschung - beides bürgerliche Tugenden - sollten zur Erlangung sittlicher Freiheit und Wehrhaftigkeit führen. Doch ebensowenig wie die Freiheit blieb auch die Männlichkeit auf Dauer von dem schleichenden Wandel verschont, der beide Ideale zunehmend auf ihre einheitsstiftenden Momente reduzierte. Hatten die Turner vor 1870 noch Distanz zur kraftstrotzenden Dummheit "der obrigkeitlichen Kriegsmaschinerie" demonstriert, so erlagen sie schließlich der Faszination des Militärs: Ein "hoch einher strebender Männergang", dem militärische Zackigkeit zu eigen war, sollte endlich den "schwerfälligen, kniefälligen und hinfälligen Fallgang" der Gegenwart ablösen.
Soweit bestätigt Goltermanns Studie die Ansicht, daß sich allgemeine Signaturen der Epoche auch in der Turnerbewegung zeigen. Über die Einschreibung dieses veränderten Nationsverständnisses in den Körper, die nachzuzeichnen die Autorin angetreten ist, erfahren wir leider recht wenig. Obwohl sich die Studie immer wieder bemüht, die körperliche Praxis ins Blickfeld zu rücken, was ihr bei der physischen Umsetzung des neuen Militärgeistes auch sehr gut gelingt, werden diese Ansätze weitgehend von der ideen- und begriffsgeschichtlichen Analyse überlagert. Indem hauptsächlich offizielle Dokumente von Turnfesten und -vereinen herangezogen werden, dominiert der Geist der Verbandsfürsten und Festredner. Vielleicht legt die Quellenlage das nahe, aber es wäre wünschenswert gewesen, wenn anhand individueller Erinnerungen hätte nachgezeichnet werden können, inwieweit sich der einzelne Turner wirklich einer nationalen Imprägnierung seines Körpers bewußt war.
Der Habitus, dem ja hier nachgegangen werden soll, läuft keineswegs auf eine kollektive Verhaltensweise hinaus, sondern umfaßt ein breites Spektrum von Handlungsmöglichkeiten. Es stellt sich auch die grundsätzliche Frage, inwieweit Goltermanns recht vollmundig angekündigter Habitus-Zugriff via Körper sich methodisch von bisherigen Analysen unterscheidet. Warum sich das modische Mäntelchen Bourdieus überstreifen, mag sich der eine oder andere fragen, der sich an des Kaisers neue Kleider erinnert fühlt.
Klimmzüge gegen den Sport
Überflüssig sind die überaus umfangreichen "einleitenden Kapitel", die den Leser in die Nationalismusthematik einführen sollen und durchaus kenntnisreich die Sekundärliteratur zusammenfassen. Fragen bleiben offen. Beispielsweise wüßte man gern, wie der Turner-Nationalismus auf den um 1870 aus England kommenden "Sport" reagiert hat: Denn der Wettkampf, oberste Leitlinie des Sports, wurde von den deutschen Turnern verurteilt, weil er nur zum schnöden Ehrgeiz verleite und zudem zum Niedergang des "kriegerischen Gemeinschaftsideals" (Dietmar Klenke) führe.
Andere Fragen schließen sich an: Ließe sich die Auseinandersetzung zwischen Sportlern und Turnern, auf die Goltermann nicht eingeht, auch anhand der körperlichen Praxis nachvollziehen? Hieße dann, den physischen Wettbewerb zu fördern, zugleich Pluralität des Nationsverständnisses zuzulassen? Ebenso unklar bleibt, wie sich Turner einerseits vehement gegen die Katholiken als "Feinde deutschen Geists" aussprechen konnten, in ihrem Nationsverständnis aber die deutsch-österreichische "Volkszusammengehörigkeit" aufrechterhielten. Auf den Festen der "Deutschen Turnerschaft" wurde die Nation immer gemeinsam inszeniert, doch wie sich das mit der Anwesenheit von Deutschen und Österreichern vereinen ließ, bleibt ungeklärt.
Leider neigt die Autorin zu einer weitschweifigen, von soziologischen Termini durchzogenen Sprache, die kaum imstande ist, den spannenden Gegenstand anschaulich zu vermitteln. Von dem Bewußtsein, als Historiker auch eine "Bringschuld gegenüber der Gesellschaft" zu haben, die es mittels flüssiger und lesbarer Deutungen einzulösen gelte, wie Johannes Fried es formuliert hat, ist diese Studie nicht angekränkelt. Das ist schade, denn ihre Ergebnisse wären sonst nicht nur für Historiker, sondern auch für Turner interessant gewesen. Doch so wird die Leserschaft sich wohl auf die Historiker beschränken. ULRIKE VON HIRSCHHAUSEN
Svenja Goltermann: "Körper der Nation". Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860 bis 1890. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 126, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 1998. 360 S., br., 76,- DM.
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