Körperlichkeit, Frömmigkeit und Eschatologie - zentrale Themen der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte werden hier von einem der international führenden Mentalitätshistoriker vorgestellt. Das umfasst die Verehrung des Blutes Christi über die 'doppelte' Theologie von persönlichem Gericht und Weltgericht und das Fegefeuer in der Katechese bis zum eschatologischen Theater und seiner mittelalterlichen Herkunft. Das Thema Visionen und Träume behandeln 'Die Verbreitung der apokryphen 'Visio Pauli' im mittelalterlichen Europa', 'ekstatische Flugerfahrungen und visionäre Weltschau', 'der Traum Kaiser Karls IV.' und die Vision der Isabetta di Luigi. Übergreifende Motivstudien behandeln die religiösen Auditionen, Selbstkreuzigung und -stigmatisation als konkrete Kreuzesnachfolge, die Psychohistorie der Unio mystica und das Motiv des mystischen Maibaums. Studien zur Mystik setzen sich mit Birgitta von Schweden, Agnes Blannbekin und somatischen Konsequenzen der Metapher von der Gottesgeburt in der Seele bei verschiedenen Mystikerinnen auseinander.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2007Der Leib als Instrument des Heils
Wie folgt man einem Vorbild? Das Ideal der Nachfolge Christi war im Mittelalter eine Nachfolge bis aufs Blut: Man verwundete seinen Körper mit Nägeln und Geißeln.
Seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert wird dem menschlichen Körper eine räumliche Dimension zugeschrieben, der Seele aber eignete - nach Heraklit - Unendlichkeit. Während Aristoteles lehrte, dass keine Seele ohne Körper existiere, glaubten die von ihm kritisierten Pythagoreer, die Seele könne sich durch Katharsis und Askese vom sündigen Leib befreien. Sie nahm das körperlose Abbild des Toten (eídolon) an, wurde aber auch mit neuer Gestalt, etwa als geflügeltes Wesen, vorgestellt. Juvenals berühmte Maxime "mens sana in corpore sano" verdichtete die Symbiose von Körper und Seele auf ein Schlagwort.
Das christliche Mittelalter behielt der Seele die Unsterblichkeit vor und konnte sich, als Jahrtausend ohne Sport, eine ausgewogene Pflege von Körper und Geist nicht denken. Peter Dinzelbacher formuliert dementsprechend: "Es gibt keine Epoche in der europäischen Geschichte, die die Seele mehr auf- und den Körper mehr abgewertet hat als das Mittelalter." Demgegenüber wies unlängst Jacques Le Goff eine widersprüchliche Haltung der mittelalterlichen Christen zum Körper nach, der ebenso gepriesen wie gedemütigt worden sei. Anders als der französische Mediävist, der seine "Geschichte des Körpers im Mittelalter" (F.A.Z. vom 30. März 2007) als "totale Geschichte" angelegt hat, beschränkt sich Dinzelbacher in einem neuen Buch auf die Einbeziehung des Leiblichen und Sinnlichen in die Religiosität der Epoche; trotz ihrer thematischen Enge führten ihn seine Studien zu dem allgemeinen Urteil, dass allem Körperlichen im mittelalterlichen "age of spirituality" "faktisch ein entschieden größeres Gewicht zukam als im heutigen Leben".
Diese Behauptung würde sich wohl nicht einmal in einer diachronisch konzipierten Vergleichsstudie erhärten lassen. Überzeugend belegt Dinzelbacher indessen, dass in der Mentalität des hohen und späten Mittelalters der Leib zum Instrument des individuellen Seelenheils gebraucht wurde, ja dass er zu seinem religiösen Zweck gequält, verwundet, ausgeblutet, ausgehungert und geradezu zerbrochen werden musste. Viele Gläubige verstanden die Aufforderung zur "imitatio Christi" wörtlich, nahmen ihr Kreuz auf sich, ließen sich ans Holz heften (oder trieben sich selbst die Nägel durch die Gliedmaßen), brannten sich mit einem glühenden Messing das Kreuz auf die Haut oder banden sich ein mit Eisennägeln gespicktes Kreuz mit dem Christusmonogramm auf den Rücken.
Obgleich Leib und Seele wie teilweise schon in der vorchristlichen Antike als konträre Wesen angesehen wurden, setzte sich die theologische Lehre von der Unkörperlichkeit der Seele bei den gewöhnlichen Gläubigen offenbar kaum durch. Vielmehr erscheint diese immer wieder selbst in menschlicher Gestalt, nackt oder auch bekleidet. Nicht nur in Texten, sondern auch in Bildern, vor allem den Szenen des Jüngsten Gerichts, ist die Seele körperlich dargestellt. Schwer erträglich dürften für die meisten modernen Leser die zahlreichen Berichte über die Brautmystik sein, bei der sich die weiblich gedachte Seele oder die Mystikerin selbst mit dem männlichen Gott vereinigt. Ihrem Beichtvater Johann soll die preußische Heilige Dorothea von Montau (gestorben 1394), Mutter von neun Kindern, geradezu pornographisch ihre Begegnungen mit dem himmlischen Bräutigam geschildert haben: Christus habe sie "bald mit Liebesdornen, bald mit Pfeilen, bald mit Lanzen und Speeren" verletzt. Dorothea sah "wie zwei neue und schöne Lanzen in ihr Herz gestochen waren, deren Schäfte sehr lang waren und von ihrem Herzen aufsteigend bis zum wunderbar geschmückten Himmelsthron reichten".
In einer anderen Vision sprach der Herr zu Dorothea: "Oft geschieht es, dass ein fleischlicher Gemahl sich so an seiner Braut zeigt, dass sie darüber ihren Freunden genug zu berichten hat. Auch ich will dir jetzt Gewalt antun, dass du deinen liebsten Freunden genug zu erzählen hast. Ich habe sieben Tage lang in dein Herz viele süße Liebespfeile geschossen. Nun habe ich in dein Herz harte, finstere, riesige Lanzen gesteckt, damit du und deine Freunde wirklich wissen und offen zugeben können, dass du einen potenten und ernstzunehmenden Bräutigam hast."
Zeugnisse dieser Art interpretiert Dinzelbacher als diagnosefähige Aussagen einer somatisch kranken Frau, ohne zu bedenken, dass es sich ebenso gut um Gewaltphantasien von Dorotheas Seelenführer handeln könnte. In dem Buch vermisst man auch sonst eingehende Textanalysen. Der Autor will eine der Moderne fremd gewordene Mentalität vor Augen führen, ohne eine Antwort darauf zu bieten, weshalb man sich dann für das Mittelalter interessieren soll. Eine klare Position zu den historischen Diskursen der Gegenwart nimmt er nicht ein.
Sein Buch besteht aus dreizehn älteren, thematisch nicht immer einschlägigen Abhandlungen, die je nach ihrem ursprünglichen Kontext eine verschiedene theoretische Färbung aufweisen; methodisch geschulte Leser quälen sich mit den so entstandenen Widersprüchen. Ein überzeugender Beitrag der deutschen Mittelalterforschung zur internationalen Diskussion um Körper und Raum ist Dinzelbachers Buch deshalb nicht.
MICHAEL BORGOLTE.
Peter Dinzelbacher: "Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte". Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2007. 347 S., 8 Abb., br., 32,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie folgt man einem Vorbild? Das Ideal der Nachfolge Christi war im Mittelalter eine Nachfolge bis aufs Blut: Man verwundete seinen Körper mit Nägeln und Geißeln.
Seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert wird dem menschlichen Körper eine räumliche Dimension zugeschrieben, der Seele aber eignete - nach Heraklit - Unendlichkeit. Während Aristoteles lehrte, dass keine Seele ohne Körper existiere, glaubten die von ihm kritisierten Pythagoreer, die Seele könne sich durch Katharsis und Askese vom sündigen Leib befreien. Sie nahm das körperlose Abbild des Toten (eídolon) an, wurde aber auch mit neuer Gestalt, etwa als geflügeltes Wesen, vorgestellt. Juvenals berühmte Maxime "mens sana in corpore sano" verdichtete die Symbiose von Körper und Seele auf ein Schlagwort.
Das christliche Mittelalter behielt der Seele die Unsterblichkeit vor und konnte sich, als Jahrtausend ohne Sport, eine ausgewogene Pflege von Körper und Geist nicht denken. Peter Dinzelbacher formuliert dementsprechend: "Es gibt keine Epoche in der europäischen Geschichte, die die Seele mehr auf- und den Körper mehr abgewertet hat als das Mittelalter." Demgegenüber wies unlängst Jacques Le Goff eine widersprüchliche Haltung der mittelalterlichen Christen zum Körper nach, der ebenso gepriesen wie gedemütigt worden sei. Anders als der französische Mediävist, der seine "Geschichte des Körpers im Mittelalter" (F.A.Z. vom 30. März 2007) als "totale Geschichte" angelegt hat, beschränkt sich Dinzelbacher in einem neuen Buch auf die Einbeziehung des Leiblichen und Sinnlichen in die Religiosität der Epoche; trotz ihrer thematischen Enge führten ihn seine Studien zu dem allgemeinen Urteil, dass allem Körperlichen im mittelalterlichen "age of spirituality" "faktisch ein entschieden größeres Gewicht zukam als im heutigen Leben".
Diese Behauptung würde sich wohl nicht einmal in einer diachronisch konzipierten Vergleichsstudie erhärten lassen. Überzeugend belegt Dinzelbacher indessen, dass in der Mentalität des hohen und späten Mittelalters der Leib zum Instrument des individuellen Seelenheils gebraucht wurde, ja dass er zu seinem religiösen Zweck gequält, verwundet, ausgeblutet, ausgehungert und geradezu zerbrochen werden musste. Viele Gläubige verstanden die Aufforderung zur "imitatio Christi" wörtlich, nahmen ihr Kreuz auf sich, ließen sich ans Holz heften (oder trieben sich selbst die Nägel durch die Gliedmaßen), brannten sich mit einem glühenden Messing das Kreuz auf die Haut oder banden sich ein mit Eisennägeln gespicktes Kreuz mit dem Christusmonogramm auf den Rücken.
Obgleich Leib und Seele wie teilweise schon in der vorchristlichen Antike als konträre Wesen angesehen wurden, setzte sich die theologische Lehre von der Unkörperlichkeit der Seele bei den gewöhnlichen Gläubigen offenbar kaum durch. Vielmehr erscheint diese immer wieder selbst in menschlicher Gestalt, nackt oder auch bekleidet. Nicht nur in Texten, sondern auch in Bildern, vor allem den Szenen des Jüngsten Gerichts, ist die Seele körperlich dargestellt. Schwer erträglich dürften für die meisten modernen Leser die zahlreichen Berichte über die Brautmystik sein, bei der sich die weiblich gedachte Seele oder die Mystikerin selbst mit dem männlichen Gott vereinigt. Ihrem Beichtvater Johann soll die preußische Heilige Dorothea von Montau (gestorben 1394), Mutter von neun Kindern, geradezu pornographisch ihre Begegnungen mit dem himmlischen Bräutigam geschildert haben: Christus habe sie "bald mit Liebesdornen, bald mit Pfeilen, bald mit Lanzen und Speeren" verletzt. Dorothea sah "wie zwei neue und schöne Lanzen in ihr Herz gestochen waren, deren Schäfte sehr lang waren und von ihrem Herzen aufsteigend bis zum wunderbar geschmückten Himmelsthron reichten".
In einer anderen Vision sprach der Herr zu Dorothea: "Oft geschieht es, dass ein fleischlicher Gemahl sich so an seiner Braut zeigt, dass sie darüber ihren Freunden genug zu berichten hat. Auch ich will dir jetzt Gewalt antun, dass du deinen liebsten Freunden genug zu erzählen hast. Ich habe sieben Tage lang in dein Herz viele süße Liebespfeile geschossen. Nun habe ich in dein Herz harte, finstere, riesige Lanzen gesteckt, damit du und deine Freunde wirklich wissen und offen zugeben können, dass du einen potenten und ernstzunehmenden Bräutigam hast."
Zeugnisse dieser Art interpretiert Dinzelbacher als diagnosefähige Aussagen einer somatisch kranken Frau, ohne zu bedenken, dass es sich ebenso gut um Gewaltphantasien von Dorotheas Seelenführer handeln könnte. In dem Buch vermisst man auch sonst eingehende Textanalysen. Der Autor will eine der Moderne fremd gewordene Mentalität vor Augen führen, ohne eine Antwort darauf zu bieten, weshalb man sich dann für das Mittelalter interessieren soll. Eine klare Position zu den historischen Diskursen der Gegenwart nimmt er nicht ein.
Sein Buch besteht aus dreizehn älteren, thematisch nicht immer einschlägigen Abhandlungen, die je nach ihrem ursprünglichen Kontext eine verschiedene theoretische Färbung aufweisen; methodisch geschulte Leser quälen sich mit den so entstandenen Widersprüchen. Ein überzeugender Beitrag der deutschen Mittelalterforschung zur internationalen Diskussion um Körper und Raum ist Dinzelbachers Buch deshalb nicht.
MICHAEL BORGOLTE.
Peter Dinzelbacher: "Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte". Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2007. 347 S., 8 Abb., br., 32,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Michael Borgolte scheint die Lektüre richtig mitgenommen zu haben. Der Rezensent musste sich nicht nur durch Berichte über Brautmystik quälen, die methodischen Mängel des Bandes haben ihm außerdem schwer zugesetzt. Unklar erscheint ihm, wie die enthaltenen 13 "älteren, thematisch nicht immer einschlägigen" Aufsätze zusammengehen sollen. In Borgoltes Augen unhaltbare, allzu allgemeine Urteile, das Fehlen detaillierter Analysen und einer klaren Position des Autors Peter Dinzelbacher innerhalb der Forschung sowie aus den "verschiedenen theoretischen Färbungen" der Aufsätze entstehende Widersprüche lassen den Rezensenten verzweifeln. Als Beitrag zur Mittelalterforschung überzeugt ihn der Band überhaupt nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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