Diese "kulturelle Anatomie" geht der Frage nach, inwieweit der menschliche Körper mittels einzelner Körperteile und Fragmente wahrgenommen und dargestellt wird. Zu lange wurde er im kulturtheoretischen Denken ungefragt als Ganzheit verstanden, über die sich Bilder und Diskurse formieren. Doch bei genauerer Betrachtung sind es zumeist nur Teile des Körpers, die hervorgehoben und inszeniert werden. Die 24 Beiträge dieses Bandes nehmen ein breites Spektrum in den Blick: vom materiellen Umgang mit menschlichen Körperteilen wie Toten- und Reliquienkulte bis hin zu symbolischen Verfahren der Ersetzung eines Teils für das Ganze in den Künsten, der Populärkultur, der Medizin etc.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2001Nicht nur sehen, man muß fühlen
Bevor er auch nur eine Zeile des Buches lesen konnte, hatte der Rezensent sich bereits an einer Seite den Handteller aufgeschnitten, und mehrere Blutflecken verzieren seither Einband und Buchschnitt. Doch bei welchem Titel wäre das passender als bei einem Werk, das sich schon im Untertitel "Anatomie" nennt (Claudia Benthien, Christoph Wulf : "Körperteile". Eine kulturelle Anatomie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 527 S., br., 36,90 DM)? Nun ist zwar Blut ein ganz besondrer Saft, doch dem Inneren und seinen Flüssigkeiten, Bahnen und Organen wird in diesem Band recht wenig Platz gewidmet. Hände, Beine, Füße, Augen, Haare, Bäuche, Phalli, Vulven, Ohren, Nasen - alles was man sehen kann (und zumeist bereits reichlich gesehen hat), ist in der seltsamen Ausdeutung von "Anatomie", die dem Band zugrunde liegt, willkommen, und selbst das Kapitel zu Schädel und Skelett stellt doch allein auf jenes Innere des Körpers ab, das schon zu Lebzeiten nur allzu sichtbar nach außen drängt und letztlich dann zum einzigen wird, was von uns bleibt. Zwar haben auch Magen und Leber eigene Beiträge erhalten, doch schnell entgleitet die Argumentation von Christoph Wulf, der sich dem Magen widmet, zu Hunger und Völlerei, zur sichtbaren Magenrepräsentation also, und Gerburg Treusch-Dieter entdeckt wiederum in der Leber vor allem deren Opferpotential und ihre aus der Antike bezeugte Eignung als Quelle für "Seherkraft". Ein Seher? Soso. Da sind wir also glücklich wieder beim Sichtbaren gelandet. So ist die Kollektion im wörtlichen Sinne äußerst anschaulich geraten, doch sie perpetuiert ein Körperbild, das gerade nicht - wie es der Anspruch des Buches ist - "das Leitbild des abgeschlossenen, monadischen Körpers" zugunsten der "Wechselbeziehungen von Zerteilung und Zusammenfügung" ablöst. Der Band erneuert statt dessen nur die traditionelle Reduktion des Körpers auf das, was er einem Betrachter zu bieten hat. Und Introspektion paßt dabei nur bedingt ins Spektrum. Das darf man getrost überraschend nennen, hat doch die Ausstellung "Körperwelten" mit ihren Abermillionen Besuchern die Sucht des Publikums nach Ein- statt Ausblicken eingeweidlich bewiesen. Doch der seit Jahren etablierte Körperdiskurs der Geisteswissenschaften hat dafür nur bedingt Interesse, und diese akademische Mode ist einfach nicht totzukriegen. Aber wie kann eine Kulturgeschichtsschreibung, die zudem im Rahmen einer Reihe erfolgt, die sich in allumfassendem Anspruch "Rowohlts Enzyklopädie" nennt, solche Aspekte ausblenden? Haben Hypochonder oder wirklich Kranke denn nie darüber geschrieben, wie sie den Körper wahrnehmen? In den Beiträgen zum Bauch, zum Hintern, zu den Geschlechtsorganen wären doch, der Kalauer sei gewagt, tiefere Einblicke möglich gewesen. Sind Körperöffnungen nicht Fenster? Nein, sie sind es offenkundig nicht, denn dem inhaltlichen Prinzip des Bandes, den Körper vom Scheitel bis zur Sohle entlangzubuchstabieren, entspricht keine Bewegung, die die Analyse auch von außen nach innen führen würde. Schwarzes Haar, grüne Augen, an beiden Armen Tätowierungen und auch sonst beachtlich - wer sich an solchen Beschreibungen einer Unbekannten ergötzt, der wird in "Körperteile" erhellende Erläuterungen zu seinen Vorlieben, Manien und deren kulturellen und ethnologischen Grundlagen finden. Wer jedoch hinter die erotische Tarnung blicken will, dem wird seine Madame X auch nach der Lektüre ein Geheimnis bleiben. Denn das Herz hat kein eigenes Kapitel. Herzblut wurde aber ohnehin von den Autoren nicht vergossen; das bißchen Fingerblut am Buch kann darüber nicht hinwegtäuschen.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bevor er auch nur eine Zeile des Buches lesen konnte, hatte der Rezensent sich bereits an einer Seite den Handteller aufgeschnitten, und mehrere Blutflecken verzieren seither Einband und Buchschnitt. Doch bei welchem Titel wäre das passender als bei einem Werk, das sich schon im Untertitel "Anatomie" nennt (Claudia Benthien, Christoph Wulf : "Körperteile". Eine kulturelle Anatomie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 527 S., br., 36,90 DM)? Nun ist zwar Blut ein ganz besondrer Saft, doch dem Inneren und seinen Flüssigkeiten, Bahnen und Organen wird in diesem Band recht wenig Platz gewidmet. Hände, Beine, Füße, Augen, Haare, Bäuche, Phalli, Vulven, Ohren, Nasen - alles was man sehen kann (und zumeist bereits reichlich gesehen hat), ist in der seltsamen Ausdeutung von "Anatomie", die dem Band zugrunde liegt, willkommen, und selbst das Kapitel zu Schädel und Skelett stellt doch allein auf jenes Innere des Körpers ab, das schon zu Lebzeiten nur allzu sichtbar nach außen drängt und letztlich dann zum einzigen wird, was von uns bleibt. Zwar haben auch Magen und Leber eigene Beiträge erhalten, doch schnell entgleitet die Argumentation von Christoph Wulf, der sich dem Magen widmet, zu Hunger und Völlerei, zur sichtbaren Magenrepräsentation also, und Gerburg Treusch-Dieter entdeckt wiederum in der Leber vor allem deren Opferpotential und ihre aus der Antike bezeugte Eignung als Quelle für "Seherkraft". Ein Seher? Soso. Da sind wir also glücklich wieder beim Sichtbaren gelandet. So ist die Kollektion im wörtlichen Sinne äußerst anschaulich geraten, doch sie perpetuiert ein Körperbild, das gerade nicht - wie es der Anspruch des Buches ist - "das Leitbild des abgeschlossenen, monadischen Körpers" zugunsten der "Wechselbeziehungen von Zerteilung und Zusammenfügung" ablöst. Der Band erneuert statt dessen nur die traditionelle Reduktion des Körpers auf das, was er einem Betrachter zu bieten hat. Und Introspektion paßt dabei nur bedingt ins Spektrum. Das darf man getrost überraschend nennen, hat doch die Ausstellung "Körperwelten" mit ihren Abermillionen Besuchern die Sucht des Publikums nach Ein- statt Ausblicken eingeweidlich bewiesen. Doch der seit Jahren etablierte Körperdiskurs der Geisteswissenschaften hat dafür nur bedingt Interesse, und diese akademische Mode ist einfach nicht totzukriegen. Aber wie kann eine Kulturgeschichtsschreibung, die zudem im Rahmen einer Reihe erfolgt, die sich in allumfassendem Anspruch "Rowohlts Enzyklopädie" nennt, solche Aspekte ausblenden? Haben Hypochonder oder wirklich Kranke denn nie darüber geschrieben, wie sie den Körper wahrnehmen? In den Beiträgen zum Bauch, zum Hintern, zu den Geschlechtsorganen wären doch, der Kalauer sei gewagt, tiefere Einblicke möglich gewesen. Sind Körperöffnungen nicht Fenster? Nein, sie sind es offenkundig nicht, denn dem inhaltlichen Prinzip des Bandes, den Körper vom Scheitel bis zur Sohle entlangzubuchstabieren, entspricht keine Bewegung, die die Analyse auch von außen nach innen führen würde. Schwarzes Haar, grüne Augen, an beiden Armen Tätowierungen und auch sonst beachtlich - wer sich an solchen Beschreibungen einer Unbekannten ergötzt, der wird in "Körperteile" erhellende Erläuterungen zu seinen Vorlieben, Manien und deren kulturellen und ethnologischen Grundlagen finden. Wer jedoch hinter die erotische Tarnung blicken will, dem wird seine Madame X auch nach der Lektüre ein Geheimnis bleiben. Denn das Herz hat kein eigenes Kapitel. Herzblut wurde aber ohnehin von den Autoren nicht vergossen; das bißchen Fingerblut am Buch kann darüber nicht hinwegtäuschen.
ANDREAS PLATTHAUS
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Kokett findet das Rezensent Valentin Groebner, wenn die Herausgeber Claudia Benthien und Christoph Wulf allen Ernstes behaupten, mit ihrem Sammelband einen "bisher nur wenig beachteten Bereich" zu behandeln. Wo doch die Körpergeschichte seit langer Zeit schon Erfolge feiert. Dass ausgerechnet in diesem Band dann "das ganze paradoxe Elend akademischen Publizierens in einem rasant expandierenden Feld" offenbar wird, scheint Groebner umso unverzeihlicher. Alle aktuellen Zauberworte, so der Rezensent, wollen bedient werden. Da wird ein Aufsatz mitunter zur bloßen Materialschau. Einige wenige Beiträge, in denen eine "Fokussierung" glückt, hat der Groebner indes auch entdeckt: Überlegungen zum Bauch der Gottesmutter und zu den Füßen Christi etwa.
© Perlentaucher Medien GmbH
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