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Kreuzfahrt durch ein schicksalhaftes Jahrhundert. Fjodor Kokoschkin ist Gast an Bord des Luxusliners Queen Mary 2. Der rüstige Mittneunziger kehrt zurück in die USA, wo er seit den dreißiger Jahren eine neue Heimat gefunden hat. Jeden Tag auf See werden Erinnerungen an die Orte seiner Vergangenheit wach: St. Petersburg, die Stadt seiner Kindheit, wo die Bolschewiken 1918 seinen Vater ermordet haben. Odessa, wohin seine Mutter mit ihm geflohen ist. Berlin, bevor die Nazis sich breitmachten. Zwischen den Tischgesprächen und der Karaoke-Bar an Bord wendet sich Kokoschkin schließlich der fünfzig…mehr

Produktbeschreibung
Kreuzfahrt durch ein schicksalhaftes Jahrhundert.
Fjodor Kokoschkin ist Gast an Bord des Luxusliners Queen Mary 2. Der rüstige Mittneunziger kehrt zurück in die USA, wo er seit den dreißiger Jahren eine neue Heimat gefunden hat. Jeden Tag auf See werden Erinnerungen an die Orte seiner Vergangenheit wach: St. Petersburg, die Stadt seiner Kindheit, wo die Bolschewiken 1918 seinen Vater ermordet haben. Odessa, wohin seine Mutter mit ihm geflohen ist. Berlin, bevor die Nazis sich breitmachten. Zwischen den Tischgesprächen und der Karaoke-Bar an Bord wendet sich Kokoschkin schließlich der fünfzig Jahre jüngeren Architektin Olga Noborra zu ... Lakonisch, fast beiläufig, erzählt Hans Joachim Schädlich in diesem Buch von der langen Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts.
Autorenporträt
Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.
Rezensionen
Dieses funkelnde, reiche Lebenswerk ist ein nicht zu ersetzendes Gegengift gegen Dummheit, Übereilung und Schlamperei. Jury des Berliner Literaturpreises

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2010

Eine Schiffspassage durch das zwanzigste Jahrhundert
Extremist der Lakonie: Hans-Joachim Schädlich berichtet in seinem neuen Roman vom Leben und Reisen des Fjodor Kokoschkin
Das bereitliegende Wort für den Stil des Schriftstellers Hans-Joachim Schädlich ist immer „lakonisch”. Aber das ist zu harmlos, ein Euphemismus. Schädlich treibt alles, was lakonisch genannt werden könnte, ins Extrem. „Kokoschkins Reise” ist jetzt wohl der äußerste Punkt, an dem er sprachlich angekommen ist. Es gibt keine psychologisierende Innenschau, keine großangelegte Innenausstattung der Figuren, es gibt keine kommentierende Erzählerhaltung, nichts Ausschmückendes.
Der Roman besteht aus einer nüchternen Berichtssprache, aus kurzen, keineswegs ausschweifenden Dialogen, in denen das Wesentliche immer ausgespart wird. Das, was Schädlich erzählen will, erzählt er zwischen den Zeilen, durch das Schweigen der Figuren, durch das, was geschieht und was nicht geschieht. Und dennoch lebt dieser Roman von einer immensen Vorstellungskraft und einer sensiblen Beobachtungsgabe. Eine Seite Schädlich entspricht ungefähr 20 Seiten handelsüblicher handlungsstarker Prosa. Er ist ein Meister der Reduktion, der mit dieser Reduktion eine ungeheure Intensität erreicht.
Erzählt wird ein ganzes Jahrhundert. Der US-amerikanische Biologe Fjodor Kokoschkin, 1910 im russischen Petersburg geboren, hat eine exemplarische Biografie. Wir erleben ihn im Jahr 2005 auf einer Schiffsreise vom alten Europa zurück nach Boston, „nach Hause” – aus diesen beiden Wörtern besteht der gewichtige letzte Satz des Buches. Kokoschkin ist 95 Jahre alt, und er hat soeben, zur Abrundung des eigenen Lebens, einige europäische Stationen seiner Biografie und seines Exils noch einmal abgefahren: Petersburg, Berlin, Prag. Die genau notierten Umstände der Schiffspassage, die Tischgesellschaft, die Abendvergnügungen, die Konversationen wechseln ab mit Erinnerungen an die eben zurückliegende Reise.
Das ist eine raffinierte, auf den ersten Blick übersichtliche, auf den zweiten Blick aber ungemein komplexe Konstruktion, in der alles aufeinander bezogen ist und Spiegelungen erfährt. Stück für Stück, in einzelnen, nicht chronologisch geordneten Erinnerungsschüben, setzen sich Kokoschkins Erfahrungen zu einem vielschichtigen Panorama der Zeitgeschichte zusammen.
Die luxuriöse Überfahrt auf dem Atlantik und Kokoschkins Verhalten werden vor dem Hintergrund seines Lebens besonders beredt – seine Abgeklärtheit, die Art, wie er sich angemessen kleidet und alle Formen bürgerlicher Schicklichkeit beherrscht und goutiert. Die russische Revolution 1917/18 erlebt er als Heranwachsender, und er entkommt mit seiner Mutter ins noch nicht von den Bolschewiki eroberte Odessa. Hier bewegt sich Hans Joachim Schädlich auf einer zwischen politischer Dokumentation und literarischer Fiktion changierenden Ebene, wie er es schon 1986 einmal anhand des ewigen Spions Tallhover erprobt hat. Er stellt seine Erfindungen, die die Geschichte kenntlich machen, in den realen historischen Zusammenhang.
Fjodor Kokoschkins Vater hat wirklich existiert, Schädlich übernimmt ihn nur unwesentlich verändert in seinen Roman. Er schildert, wie zwei bürgerliche Minister der provisorischen russischen Regierung nach der Vertreibung des Zaren, nämlich Kokoschkin und Schingarjow, von den Bolschewiki im Januar 1918 ermordet werden. In Odessa finden Mutter und Sohn Kokoschkin, Schädlichs Geschöpfe, Unterschlupf bei Freunden des Dichters Iwan Bunin, der später in Paris leben und 1933 den Nobelpreis für Literatur erhalten wird. Sie schaffen es noch rechtzeitig, nach Berlin zu fliehen. Nach der Machtergreifung der Nazis flieht Kokoschkin weiter, zuerst nach Prag, dann Anfang März 1934 in die USA.
Die Berliner und Prager Passagen sind historisch genau verortet. Die Pension Crampe am Viktoria-Luise-Platz etwa war in den zwanziger Jahren eine Anlaufstelle für das russische Exil; Nina Berberova, die sich bei Schädlich zusammen mit dem Dichter Wladislaw Chossadewitsch um die Familie Kokoschkin kümmert, hat das in ihren Erinnerungen beschrieben.
Der junge Kokoschkin schlägt sich durch, er will studieren. Die Liebesgeschichte mit Aline, die er bei seinem Job im Botanischen Garten kennenlernt, rückt dem Leser atmosphärisch genauso nah wie die ersten Wochen in Prag, die Kokoschkin als Küchenhilfe verbringt. Prag ist in diesem Buch ein zweifacher Knotenpunkt: 1968 nämlich reist Kokoschkin anlässlich des „Prager Frühlings” zum ersten Mal wieder dorthin und lernt den Bibliothekar Hlavacek kennen. Die gemeinsame Vorahnung des sowjetischen Einmarsches verbindet die beiden. Es kreuzen sich imaginäre und reale Linien, und die individuellen Geschichten entwickeln dabei die Fähigkeit, der realen Zeitgeschichte etwas entgegenzusetzen.
Kokoschkins Freundschaft mit Hlavacek beweist sich 2005, als der Tscheche ihn auf seiner großen biographischen Reise begleitet. In den Dialogen zwischen den beiden wird Kokoschkins Leben fassbar. Die Eindringlichkeit von Schädlichs Stil, die Virulenz des Indirekten zeigt sich unter anderem, wenn Aline, Kokoschkins Berliner Freundin, ihn 1933 noch einmal in Prag besucht, eine glückliche Woche lang, und er sie auf den Bahnsteig begleitet, als sie zurückfährt. Hlavacek fragt: „Haben Sie Aline wiedergesehen?” Kokoschkin antwortet: „Nein.”
Was in diesem „Nein" alles enthalten ist, teilt sich beim Lesen unmittelbar mit, es gibt wenig vergleichbare literarische Texte, in denen eine tragische Dimension so unerhört, verknappt, präzise mitschwingt.
Zur spezifischen Dynamik dieser Prosa gehört, dass manchmal bei Fragesätzen das Fragezeichen fehlt, ein einfacher Punkt selbst einer vermeintlich nebensächlichen Frage noch allen Anschein einer vordergründigen Emotion nimmt. Dafür wirft der Hallraum dieser Frage umso gewaltigere Echos zurück. Die trockene, gelassene, scheinbar unspektakuläre Prosa Schädlichs kann man leicht unterschätzen. Immer wieder sind Fallstricke versteckt. Es birgt eine unaussprechliche Sehnsucht, ist aber auch von bitterer Ironie, wenn Aline im „Wintergarten”-Varieté Anfang der dreißiger Jahre als ihren „Favoriten” Otto Reutter nennt, mit der Nummer „In fünfzig Jahren ist alles vorbei”. Und die Bunin-Zitate, die gelegentlich Kokoschkins Schiffsreise strukturieren und das russische 19. Jahrhundert hervorrufen, die beiläufigen Anspielungen in den Gesprächen mit der Mitreisenden Olga, von der er sich angezogen fühlt – das gesamte spielerische Verweisungssystem dieses Romans verrät sublime Meisterschaft. HELMUT BÖTTIGER
HANS-JOACHIM SCHÄDLICH: Kokoschkins Reise. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 188 Seiten, 17,95 Euro
Auf diesem Schiff, der Queen Mary 2, kann der Held von Hans-Joachim Schädlich zeigen, wie gut er alle Formen bürgerlicher Schicklichkeit beherrscht und goutiert. Foto: Paul Kane/Getty Images
Hans-Joachim Schädlich Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Bei soviel geschichtlichem Material, wie Hans Joachim Schädlich es in seinem Roman "Kokoschkins Reise" zusammenträgt, reibt sich Rezensent Christoph Schröder verwundert die Augen. Aber dank seiner Gabe, die Sprache mit "naturwissenschaftlicher Exaktheit" zu beherrschen und dabei einen "verwirrend hohen Grad an Anschaulichkeit" zu schaffen, gelingt es Schädlich, einhundert Jahre Zeitgeschichte von der russischen Oktoberrevolution bis zur Zerstörung des World Trade Centers auf knapp 200 Seiten zu erzählen. Die Erlebnisse seines 95-jährigen Protagonisten teilt der Autor dabei in zwei Handlungsstränge auf: in ersterem diskutiert der Romanheld bei seiner sechstägigen Fahrt auf der "Queen Mary 2" unter anderem über die Exklusivität kompliziert-verschraubter Menükarten und den Umgang mit islamischen Extremisten, im zweiten begleitet der Rezensent ihn durch ein bewegtes Leben, welches im von den Bolschewiken besetzten St. Petersburg beginnt und über das nationalsozialistische Berlin schließlich in die USA führt. Nur ein "fabelhafter" Autor wie Schädlich könne all dies in knappen, aber eindringlichen Einzelbildern erzählen, so der gebannte Rezensent.

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