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Keine ausführliche Beschreibung für "Kollektiv und Eigensinn" verfügbar.

Produktbeschreibung
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Autorenporträt
Professor Dr. Karl Ulrich Mayer ist Mit-Herausgeber der "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie" und Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Prof. Dr. Johannes Huinink lehrt am Institut für empirische und angewandte Soziologie der Universität Bremen, sein Arbeitsgebiet ist die Theorie und Empirie der Sozialstruktur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.1997

Wärme im Handumdrehen
Die DDR als Klassengesellschaft / Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung

Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer (Herausgeber): Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach. Akademie Verlag, Berlin 1995. 414 Seiten, 34 Abbildungen, 59 Tabellen, 68,- Mark.

Auch sechs Jahre nach der deutschen Vereinigung zeigen sich wesentliche Unterschiede in Mentalität und Lebenseinstellung zwischen ost- und westdeutscher Bevölkerung. Systembedingte Prägungen wirken offenbar doch nachhaltiger als gemeinhin angenommen. Die Menschen mögen politisch mit einem System nicht einverstanden sein, von ihm geprägt werden sie dennoch. Eine Projektgruppe des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin hat nun versucht, durch Lebensverlaufsstudien Licht in das Dunkel der DDR-Gesellschaft zu bringen. Es sollte herausgefunden werden, ob der SED eine "kollektive Formierung" der ostdeutschen Bevölkerung gelang oder ob sich Spielräume für eine "eigensinnige Lebensgestaltung" auftaten? Wieweit brachte die SED durch ihre Politik eine klassenlose und egalitäre Gesellschaft hervor? Gleichzeitig beanspruchen die Sozialwissenschaftler, eine Analyse der DDR-Gesellschaft vorgelegt zu haben, die "sich weder an den offiziellen Verlautbarungen noch an politisch vorkodierten Theorien, noch an abfragbaren biographischen Selbstwahrnehmungen orientiert".

Umgestaltung

Heike Solgar rekonstruiert, wie die SED-Führung schon früh die von der sowjetischen Besatzungsmacht angeordnete gesellschaftliche Umgestaltung zur Schaffung einer ihr ergebenen sozialistischen Dienstklasse nutzte. An die Stelle der vertriebenen und entrechteten alten Elite trat die Parteielite, die zur herrschenden Kaste wurde, da sie das alleinige Zugriffsrecht auf Verwendung und Verteilung der Ressourcen innehatte. Zur Umsetzung ihrer Beschlüsse schuf sich die Parteielite eine administrative und operative Dienstklasse. Diese von der Parteiführung bestimmten und kontrollierten Nomenklaturkader übernahmen Leitungsfunktionen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Der größte Teil der Bevölkerung - die sozialistische Arbeiterklasse - durfte als erstes Recht, was gleichzeitig auch ihre Pflicht war, den gesellschaftlichen Reichtum produzieren.

Die mit sozialen Aufstiegsprozessen einhergehende Herausbildung der neuen Klassenstruktur war Ende der fünfziger Jahre weitgehend abgeschlossen. Ihre Verfestigung schlug auf die nächste Generation durch. Die sozialistische Parteielite und die sozialistische Dienstklasse hielten ihre Kinder auf dem jeweiligen Klassenniveau. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Huinink, Mayer und Trappe hinsichtlich der Bildungs- und Berufsverläufe. Einstieg in die berufliche Karriere und weitere Karrierechancen wurden maßgeblich durch soziale Herkunft und politische Loyalität bestimmt. Die offiziell postulierte Gleichheit in den Qualifikationschancen stieß seit den sechziger Jahren an die Grenze der Bevorzugung von Kindern aus "oberen Schichten".

Soziale Ungleichheit in der DDR drückte sich nicht nur in Statusunterschieden, sondern auch in Einkommens-und Ausstattungsdifferenzierungen aus. Auch wenn die Unterschiede im Vergleich zur Bundesrepublik geringer ausfallen, erstaunt doch das Ausmaß der Einkommensdifferenzierung. Das unterste Fünftel der Einkommensbezieher verfügte nur über 13 Prozent und das oberste über knapp 30 Prozent der Einkommen. Soziale Ungleichheiten fanden ihren Niederschlag auch in den Wohnverhältnissen und in der Haushaltsausstattung. Der Anteil der Bevölkerung, der über eine Wohnung mit Bad, Innentoilette und/ oder Zentralheizung verfügte, korrellierte mit dem jeweiligen sozialen Status. Während die Leitungskader der sozialistischen Dienstklasse zu drei Vierteln per Handumdrehen im Warmen saßen, mußten die un- oder angelernten Mitglieder der Arbeiterklasse erst Kohlen schleppen, bevor es in der Wohnung warm wurde.

Die Mängel der Planwirtschaft erzwangen das Entstehen informeller Strukturen und Beziehungen zur Sicherung oder Erhöhung der Lebensqualität. Doch diese informellen Strukturen standen nicht konträr zu den systembedingten, im Gegenteil: "Informelle Beziehungen gleichen nicht nur aus, sondern sie verstärken tendenziell vorhandene Ungleichheiten." Martin Diewald wendet sich gegen eine Überbetonung der Nischen und der informellen Netzwerke, da der zentrale Ort außerfamiliärer Beziehungen und Strukturen - das Arbeitskollektiv - auch auf den informellen Bereich prägenden Einfluß hatte.

Trotz aller Versuche der SED-Führung, die Bevölkerung über Kollektive zu steuern und zu kontrollieren, blieb die Familie in der DDR der eigentliche Bezugspunkt. Sie war weitgehend staatsfrei, obgleich familiäre Entscheidungen und Lebensverhältnisse durch parteiliche Programmatik und staatliche Familien- und Sozialpolitik beeinflußt wurden. Das System schuf durch äußere Lebensbedingungen, Wohnungsknappheit oder monetäre Leistungen eine Standardisierung der Familienbildung. Die bevorzugte Zuweisung einer Wohnung und die mit der Familienbildung einhergehenden Vergünstigungen erzwangen eine frühe Heirat. Solch frühen Bindungen folgten aber auch hohe Scheidungsraten. Die Kinderzahl zeigt die Grenzen staatlicher Sozialpolitik. Die offiziell propagierte Drei-Kind-Familie konnte sich trotz der Vergünstigungen nicht durchsetzen.

Arbeitsteilung

Die Einbeziehung von Frauen in die Erwerbsarbeit führte bis Ende der siebziger Jahre zu einer allgemeinen Gleichstellung von Männern und Frauen in Ausbildung und Beruf. Doch die Angleichung der Erwerbsverlaufsmuster brachte keine Veränderung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Allein die qualifikatorischen Voraussetzungen sicherten Frauen keine gleichen Chancen für ihre berufliche Entwicklung. Die nahezu vollständige Einbeziehung von Frauen in die Erwerbsarbeit vergrößerte sogar noch die geschlechtsspezifischen Funktionsteilungen. Auch wurden Frauen weiterhin zumeist schlechter bezahlt als Männer. Anne Mette Sörensen und Heike Trappe erklären diese Diskriminierung von Frauen mit der geschlechtsspezifischen Segregation auf der Berufs- beziehungsweise Tätigkeitsebene und - damit verbunden - einer geringeren Bezahlung von typischen Frauenberufen. Gleichwohl waren Frauen aufgrund ihrer gesicherten Erwerbsarbeit von Männern ökonomisch weitgehend unabhängig.

Im Überblick zeichnen die Untersuchungsergebnisse dieses Sammelbandes ein Bild, das an Djilas "neue Klasse" erinnert. In der DDR wurden im Laufe der Zeit die herkömmlichen Klassen- und Eigentumsstrukturen fundamental verändert und dadurch neue Aufstiegs- und Ausgrenzungsprozesse sowie neue Klassenverhältnisse produziert. Die neuentstandene (Partei-)Klasse hatte sich nicht nur die Verfügungsmacht über das gesellschaftliche Eigentum angeeignet, sondern sich darüber hinaus in zunehmendem Maße sozial selbst rekrutiert und abgegrenzt. Mit kollektivem Eigensinn und Beharrlichkeit sorgten die SED-Oberen für sich und ihre Kinder. KLAUS SCHROEDER

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