Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah galt lange als bundesdeutsche Erfolgsgeschichte. Dieses Image beginnt mit der zunehmenden Rechtsradikalisierung in Politik und Gesellschaft mehr und mehr zu bröckeln. Das vorliegende Buch zeigt, dass in diesem bundesdeutschen Selbstbild immer schon die Geschichte der Schuld- und Erinnerungsabwehr, der Täter-Opfer-Umkehr, der Selbststilisierung als Opfer und der antisemitischen Projektion ausgeblendet wurde. Eine (selbst-)kritische Aufarbeitung der Vergangenheit hat auch 75 Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus auf gesellschaftlicher Ebene kaum stattgefunden: durch die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern manifestiert sich vielmehr ein Selbstbild, das um den Mythos kollektiver Unschuld kreist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2020Die größte Lüge?
Debattenbeitrag zur Erinnerungskultur
Die deutsche Erinnerungskultur gilt vielen als beispielhaft. Samuel Salzborn sieht das anders. Der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sei "nicht weniger als die größte Lüge der Bundesrepublik" und die Entnazifizierung der Gesellschaft allein gute Absicht geblieben, heißt es in seinem Buch "Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern". Dass geschichtsrevisionistische Positionen kein Phänomen der Gegenwart sind, sondern tiefer greifende Wurzeln besitzen und nicht urplötzlich vom Himmel fallen, zeigt der Politikwissenschaftler in seinem Werk.
Die Analyse des Rechtsextremismusforschers unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Formen der deutschen Gedenkkultur: Erstere betrifft das im Kalender verankerte Erinnern im öffentlichen Raum, etwa durch Reden und Kranzniederlegungen an Gedenkorten. Schwierig verhalte es sich vor allem damit, sich mit der Schuld der eigenen Väter, Großväter und Urgroßväter zu beschäftigen, deren Fotos in Wehrmachts- und SS-Uniformen in alte Fotoalben geklebt sind: Ihrer Schuld, Juden als Ursprung allen Übels geglaubt zu haben; ihrer Schuld, von Hitler fasziniert gewesen zu sein - und nicht zuletzt ihrer Schuld, weggesehen zu haben.
Die Bundesrepublik fußt dem Autor nach auf einem Opfermythos der Deutschen, in dem Opfer und Täter in einem Nebel historischer Entkontextualisierung verschwimmen. In einem der insgesamt sechs Kapitel stellt Salzborn in diesem Kontext etwa filmische Produktionen der jungen Bundesrepublik an den Pranger, darunter "Des Teufels General", den "Arzt von Stalingrad" oder "Die Brücke". Solche Filme würden den Mythos aufrechterhalten, das deutsche Volk habe "nichts gewusst oder nichts gegen die Massenvernichtung tun können". Der Massenmord an den europäischen Juden werde nur am Rande erwähnt oder falle gar gänzlich unter den Tisch. Die Opferrolle sei für nichtjüdische Deutsche reserviert.
Dass ein Phantasma eines kollektiven Opferstatus bis in die Gegenwart weit verbreitet ist, belegt Salzborn mit empirischen Studien und Erkenntnissen aus der Antisemitismusforschung. Aus einer 2019 veröffentlichten Arbeit des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld geht etwa hervor, dass 69,8 Prozent der Befragten ihre Vorfahren nicht zu den Tätern des Nationalsozialismus zählen. 28,7 Prozent der befragten Deutschen sind der Auffassung, ihre Vorfahren hätten potentiellen Opfern geholfen. Historische Schätzungen besagen allerdings, dass der Anteil derer, die potentiellen Opfern tatsächlich geholfen haben, bei ungefähr 0,3 Prozent liegt. Gut die Hälfte der ungefähr 200 000 als NS-Täter Inhaftierten war zwei Jahre nach Kriegsende wieder auf freiem Fuß, ein nicht geringer Anteil fand danach einen Platz im öffentlichen Dienst, in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Das sind keine neuen Erkenntnisse. Es sind auch zu großen Teilen keine neuen Zahlen. Doch 75 Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus existiert Antisemitismus nicht nur in Erzählungen der Geschichtsbücher, sondern inmitten der Gesellschaft. Seit Jahren weisen jüdische Organisationen darauf hin, dass diese Sprache in terroristische Gewalt münden kann. Dass das keine unberechtigte Sorge ist, beweist der Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten um 13 Prozent im Jahr 2019, nicht zuletzt das Attentat von Halle im vergangenen Herbst. In den vergangenen Tagen erhielt diese Synagogengemeinde einen rechtsextremistischen Drohbrief und fand Taschentücher, in Hakenkreuzform aufgereiht, vor der Synagoge.
Auf Ärmel aufgenähte "Ungeimpft"-Sterne, an KZ-Kleidung angelehnte Kostümierungen sowie die Instrumentalisierung Anne Franks auf sogenannten Hygienedemos zeugen zudem von Geschichtsvergessenheit, mangelndem Respekt und missbrauchen die Verantwortung gegenüber jüdischen Mitbürgern. Angesichts dieser Entwicklungen erscheint die Publikation Samuel Salzborns, mag sie auch stellenweise vertiefende Worte zu wünschen übriglassen, als dringend notwendige Warnung.
JOHANNA CHRISTNER
Samuel Salzborn: "Kollektive Unschuld". Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Hentrich & Hentrich Verlag, Leipzig 2020. 136 S., br., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Debattenbeitrag zur Erinnerungskultur
Die deutsche Erinnerungskultur gilt vielen als beispielhaft. Samuel Salzborn sieht das anders. Der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sei "nicht weniger als die größte Lüge der Bundesrepublik" und die Entnazifizierung der Gesellschaft allein gute Absicht geblieben, heißt es in seinem Buch "Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern". Dass geschichtsrevisionistische Positionen kein Phänomen der Gegenwart sind, sondern tiefer greifende Wurzeln besitzen und nicht urplötzlich vom Himmel fallen, zeigt der Politikwissenschaftler in seinem Werk.
Die Analyse des Rechtsextremismusforschers unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Formen der deutschen Gedenkkultur: Erstere betrifft das im Kalender verankerte Erinnern im öffentlichen Raum, etwa durch Reden und Kranzniederlegungen an Gedenkorten. Schwierig verhalte es sich vor allem damit, sich mit der Schuld der eigenen Väter, Großväter und Urgroßväter zu beschäftigen, deren Fotos in Wehrmachts- und SS-Uniformen in alte Fotoalben geklebt sind: Ihrer Schuld, Juden als Ursprung allen Übels geglaubt zu haben; ihrer Schuld, von Hitler fasziniert gewesen zu sein - und nicht zuletzt ihrer Schuld, weggesehen zu haben.
Die Bundesrepublik fußt dem Autor nach auf einem Opfermythos der Deutschen, in dem Opfer und Täter in einem Nebel historischer Entkontextualisierung verschwimmen. In einem der insgesamt sechs Kapitel stellt Salzborn in diesem Kontext etwa filmische Produktionen der jungen Bundesrepublik an den Pranger, darunter "Des Teufels General", den "Arzt von Stalingrad" oder "Die Brücke". Solche Filme würden den Mythos aufrechterhalten, das deutsche Volk habe "nichts gewusst oder nichts gegen die Massenvernichtung tun können". Der Massenmord an den europäischen Juden werde nur am Rande erwähnt oder falle gar gänzlich unter den Tisch. Die Opferrolle sei für nichtjüdische Deutsche reserviert.
Dass ein Phantasma eines kollektiven Opferstatus bis in die Gegenwart weit verbreitet ist, belegt Salzborn mit empirischen Studien und Erkenntnissen aus der Antisemitismusforschung. Aus einer 2019 veröffentlichten Arbeit des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld geht etwa hervor, dass 69,8 Prozent der Befragten ihre Vorfahren nicht zu den Tätern des Nationalsozialismus zählen. 28,7 Prozent der befragten Deutschen sind der Auffassung, ihre Vorfahren hätten potentiellen Opfern geholfen. Historische Schätzungen besagen allerdings, dass der Anteil derer, die potentiellen Opfern tatsächlich geholfen haben, bei ungefähr 0,3 Prozent liegt. Gut die Hälfte der ungefähr 200 000 als NS-Täter Inhaftierten war zwei Jahre nach Kriegsende wieder auf freiem Fuß, ein nicht geringer Anteil fand danach einen Platz im öffentlichen Dienst, in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Das sind keine neuen Erkenntnisse. Es sind auch zu großen Teilen keine neuen Zahlen. Doch 75 Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus existiert Antisemitismus nicht nur in Erzählungen der Geschichtsbücher, sondern inmitten der Gesellschaft. Seit Jahren weisen jüdische Organisationen darauf hin, dass diese Sprache in terroristische Gewalt münden kann. Dass das keine unberechtigte Sorge ist, beweist der Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten um 13 Prozent im Jahr 2019, nicht zuletzt das Attentat von Halle im vergangenen Herbst. In den vergangenen Tagen erhielt diese Synagogengemeinde einen rechtsextremistischen Drohbrief und fand Taschentücher, in Hakenkreuzform aufgereiht, vor der Synagoge.
Auf Ärmel aufgenähte "Ungeimpft"-Sterne, an KZ-Kleidung angelehnte Kostümierungen sowie die Instrumentalisierung Anne Franks auf sogenannten Hygienedemos zeugen zudem von Geschichtsvergessenheit, mangelndem Respekt und missbrauchen die Verantwortung gegenüber jüdischen Mitbürgern. Angesichts dieser Entwicklungen erscheint die Publikation Samuel Salzborns, mag sie auch stellenweise vertiefende Worte zu wünschen übriglassen, als dringend notwendige Warnung.
JOHANNA CHRISTNER
Samuel Salzborn: "Kollektive Unschuld". Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Hentrich & Hentrich Verlag, Leipzig 2020. 136 S., br., 15,- [Euro].
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