Dieter Krause wächst am Ost-Berliner Kollwitzplatz auf, dessen Hinterhöfe den Murmelspielern und Indianern gehören. Anstelle von ideologischen Kämpfen werden Konflikte mit Tüten voller Wasser und Stinkbomben ausgefochten. Die fünfziger Jahre sind für den Jungen eine Übergangszeit: Zwischen heimlich gehörten Elvis-Songs und Begegnungen mit russischen Soldaten wechselt er regelmäßig von einem Sektor in den anderen und beinah ebenso häufig die Schule. Ende der Fünfziger wird die Wohnung der Eltern heller, buntes Geschirr, ein Fernseher, erst ein Motorrad mit Beiwagen und dann sogar ein Trabi werden angeschafft. Vor den persönlichen Abenteuern und familiären Fortschritten rückt das politische Geschehen in den Hintergrund und bleibt lediglich in den Liedern, die den Teenager umgeben, präsent. Dies ändert sich jedoch, als mitten in die Sommerferien 1961 die Nachricht vom Mauerbau platzt. Dieter Krause schildert liebevoll die Freiheit seiner Berliner Straßenkindheit, kommentiert scharfzüngig ihre staatliche Begrenzung und erzählt so das Heranwachsen am Prenzlauer Berg zur Frühzeit der DDR wie unter dem Mikroskop: Man sieht alles sehr genau vor sich - man atmet gewissermaßen die Luft aus Schwefel und Bohnerwachs.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2017Brausepulver und Kaugummi
Der ehemalige "Stern"-Journalist Dieter Krause hat ein Buch über seine Kindheit im Ost- und West-Berlin der fünfziger Jahre geschrieben: "Kollwitz 66". Es erzählt, wie ein Junge sich das Beste aus beiden Welten zusammensucht
Am 14. August 1961 wird Dieter Krause 14 Jahre alt. Es ist ein Montag und Dieter seit einer Woche im Ferienlager an den Mecklenburgischen Seen. Am Nachmittag tauchen völlig überraschend die Eltern auf: "Die haben gestern die Grenzen zum Westen dichtgemacht. Wir sind nur gekommen, um dich zu holen." Das passt dem Jungen nun gar nicht ins Konzept, denn im Zeltlager gibt es eine große schlanke Erscheinung mit Bubikopf namens Petra, und die bringt ihm in diesen Tagen gerade das Küssen bei. Die Eltern lassen sich erweichen, nicht wegen Petra - die wird verschwiegen -, sondern weil sie nicht wirklich davon überzeugt sind, aus Ost-Berlin noch rauszukommen. Dieter darf bis Ende der Woche im Lager bleiben. Am Freitagnachmittag kehrt er nach Berlin zurück, nimmt sein Fahrrad und fährt mit zwei Freunden Richtung Brunnenstraße. Das ist seit Jahren ihre Strecke, doch diesmal ist an der Ecke Bernauer Schluss: Von Soldaten und Polizisten bewacht, ziehen Bauarbeiter dort gerade eine Mauer hoch.
Die Bernauer Straße war für die Jungen immer schon ein beklemmender Ort gewesen. Auf dem Weg in den Westteil der Stadt mussten sie hier an den patrouillierenden Vopos vorbei und jederzeit damit rechnen, kontrolliert zu werden. Das Geld für den Westeinkauf steckten sie deshalb lieber in die Socken, auf dem Rückweg schob man die mitgebrachten Beutestücke - "Fix und Foxi"-Hefte, später Elvis-Platten - diskret unters Hemd, bei größeren Anschaffungen nahm man vorsichtshalber die S-Bahn. Zwei- bis dreimal in der Woche war Dieter allein oder mit anderen rübergegangen, in den ersten Jahren noch in Begleitung der Mutter, die in der Brunnenstraße neben Obst und Schokolade vor allem Kleidung kaufte, und immer war es gutgegangen. Jetzt das. Am 18. August 1961 endete für Dieter Krause die Kindheit. Sechs Tage später gab es den ersten Mauertoten. Auf beiden Seiten fuhren jetzt Lautsprecherwagen auf, die mit ohrenbetäubendem Lärm ihre Parolen über dem jeweils anderen Teil der Stadt abluden. Eine neue Zeitrechnung begann.
Vom Kollwitzplatz im Herzen des Berliner Bezirks Prenzlauer Berg, dem Lebensmittelpunkt des Ich-Erzählers, war man schneller im Wedding, also im Westen, als am Alexanderplatz. Keine Viertelstunde zu Fuß, und schon konnte der Zehn- oder Zwölfjährige an den Schaufenstern des Kapitalismus seine Nase plattdrücken und brauchte sich nur noch zu entscheiden, für welche der vielen Verlockungen er die mühsam ersparte Westmark tatsächlich einsetzen sollte. Als Ostkind aus einfachen Verhältnissen überschlug Dieter erst einmal den Preis, rechnete hoch, was sich später eventuell dagegen eintauschen ließe, erwog lange, ob er sich die Nietenhosen oder den Nickipullover oder den Blech-Jeep mit Ami-Stern zu Weihnachten wünschen sollte, und wahrte auf diese Weise konsumkritische Distanz. Obwohl er die Auswirkungen der DDR-Mangelwirtschaft zu Hause gelegentlich mitbekam, erlebte der Junge das Trennende zwischen Ost und West immer nur als einen graduellen Unterschied, nie als Gegensatz der Systeme. Zumal Politik im Elternhaus keine Rolle spielte und der Osten eben auch einiges zu bieten hatte, zum Beispiel die Kinderfilme der Defa. Krause suchte sich das jeweils Beste aus beiden Welten zusammen: Brausepulver und Kaugummi!
Beim Lametta für den auch im Ostteil obligaten Weihnachtsbaum lag der Westen eindeutig vorn. Es war hier aus Stanniol gefertigt und dem Aluminiumlametta des Ostens, das sich beim geringsten Luftzug und später im Karton unentwirrbar verhedderte, in jeder Hinsicht überlegen. Anderes war in beiden Stadthälften gleich. Beim Bäcker verlangte man auch im Osten "Amerikaner" und "Kameruner", und der Rodelschlitten trug hier wie dort den unverwüstlichen Namen "Davos". Wer sich die Nierentischkultur nicht leisten konnte - "ein Tisch auf drei Beinen!", spottete der Vater -, stellte wenigstens einen Gummibaum ins Fenster: "Schon acht Blätter!" Was hermachen - das wollte die Elterngeneration der fünfziger Jahre hier wie dort.
Unterdessen begannen die Kinder nach eigenen Wegen zu suchen. Begeistert von der westlichen Mode, von den Schlagern und Kinofilmen, die im anderen Teil der Stadt gespielt wurden, überhörten sie geflissentlich die Warnungen vor dem Klassenfeind. "Du willst kein Ami-Söldner sein, drum schalte nicht den Rias ein!" Was sollte das! Die Unterhaltung, die der Westen bot, war einfach besser. Die Eltern sahen das im Übrigen nicht anders. Gemeinsam mit Freunden saß man im Wohnzimmer vor dem Radioapparat und lauschte Woche für Woche der jeweils neuesten Folge der Durbridge-Krimis rund um den Hobbydetektiv Paul Temple. Mit Beginn des Fernsehzeitalters standen in Ost-Berlin zwar zwei Kanäle zur Verfügung, der Deutsche Fernsehfunk DFF auf Kanal 5 und das ARD-Programm auf Kanal 7, eingeschaltet wurde aber meist nur der eine. Auch am Kollwitzplatz drehte sich der Fernsehsonnabend zeremoniell um die Größen aus dem Westen: Willy Millowitsch und Heidi Kabel, Peter Frankenfeld und Hans-Joachim Kulenkampff.
Krauses deutsch-deutsches Feintuning im Unterhaltungssektor der fünfziger Jahre zeigt, welch geringen Einfluss die Propaganda hatte und wie man sich zu helfen wusste. Natürlich hätte der Autor 1956 in einem der vielen Westkinos liebend gern den Kultstreifen "Die Halbstarken" mit Horst Buchholz gesehen, aber für den Zehnjährigen bestand keine Chance: freigegeben ab 16. Also begnügte er sich mit dem Ostsurrogat, dem Defa-Film "Berlin - Ecke Schönhauser", der "praktisch vor unserer Haustür" spielte und unter Nachwuchs-Halbstarken als ziemlich authentisch galt. In der Regel hatte die DDR unterhaltungstechnisch jedoch eindeutig das Nachsehen.
Das galt auch für den Fußball, mit den Weltmeistern von 1954 konnte keiner konkurrieren. Die Unterschriften von Sepp Herberger und Fritz Walter, die Dieter sich drei Monate vor dem Mauerbau im Olympiastadion erkämpfte, waren die Paradestücke in seinem Autogrammbuch. Als er ein knappes Jahr später in der Schule zum Thema "Mein Vorbild" einen Aufsatz über Helmut Rahn ablieferte, den Schützen des Siegtreffers von Bern, bekam er Schwierigkeiten. Der Vater rettete den Sohn, indem er ihm einen Ersatztext über Täve Schur lieferte, das Radfahreridol der DDR, den Dieter am nächsten Morgen abschrieb und dem Deutschlehrer überreichte. "Na bitte, geht doch."
"Kollwitz 66" - das sind 440 Seiten Kindheit, liebevoll erinnert und mit wunderbarer Leichtigkeit erzählt, ohne jede Prätention, aber stark, pointiert und schnörkellos. Auch wenn der Autor gelegentlich - insbesondere in den politischen Passagen - mit subtiler Ironie späteres Wissen einfließen lässt, so rückt er doch nirgendwo zurecht und enthält sich nachträglicher Bewertungen. Es war, wie es war, und Krause versucht es so zu erzählen, wie er es auch als Vierzehnjähriger hätte erzählen können. Je mehr der gelernte Westler lesend eintaucht in diese Welt, desto mehr reibt er sich die Augen und fragt, worin die Unterschiede zwischen beiden Systemen in den fünfziger Jahren eigentlich bestanden. Aus Sicht des Kindes reduzierte sich der Gegensatz darauf, dass man im Westen fast alles leichter bekam und natürlich in besserer Qualität. Als die Grenze dichtgemacht wurde, musste man seine Wünsche eben zurückschrauben. Das Erwachsenwerden vollzog sich ohnehin jenseits ideologischer Schranken, vor allem im Äther, und solange Rias und AFN die jeweils neuesten Hits aus England und den Vereinigten Staaten frei Haus lieferten, war die Welt am Kollwitzplatz in Ordnung.
Das Viertel zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee ist längst bis in die Hinterhöfe gentrifiziert, heute hupen sich dort allabendlich Mittelklasselimousinen und SUVs gegenseitig die Parkplätze weg. In den fünfziger Jahren konnte man die wenigen Fahrzeuge, die hier durchkamen, zählen - vor allem Tempo-Dreiräder, Holzgas-Lastwagen und Pferdegespanne; Milch holte man in einem der Hinterhöfe zwischen Wörther und Sredzkistraße, direkt bei den Kühen, die dort im Stall der Molkerei standen. Dieses alles ohne Nostalgie beschreiben zu können und der Kindheit ihre Wahrheit zu lassen zeugt von Souveränität. Beim Leser mischen sich unwillkürlich eigene Erinnerungen dazwischen: Ja, so ist es gewesen. "Kollwitz 66" ist ein leises, ein unaufdringliches Buch - und ganz gewiss eines der zauberhaftesten der Saison. Dem Schöffling-Verlag möchte man wünschen, dass er damit an den Erfolg von Guntram Vespers "Frohburg" anknüpfen kann, das im vorigen Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse bekam.
THOMAS KARLAUF
Dieter Krause: "Kollwitz 66: Berliner Kindheit in den fünfziger Jahren". Schöffling, 448 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der ehemalige "Stern"-Journalist Dieter Krause hat ein Buch über seine Kindheit im Ost- und West-Berlin der fünfziger Jahre geschrieben: "Kollwitz 66". Es erzählt, wie ein Junge sich das Beste aus beiden Welten zusammensucht
Am 14. August 1961 wird Dieter Krause 14 Jahre alt. Es ist ein Montag und Dieter seit einer Woche im Ferienlager an den Mecklenburgischen Seen. Am Nachmittag tauchen völlig überraschend die Eltern auf: "Die haben gestern die Grenzen zum Westen dichtgemacht. Wir sind nur gekommen, um dich zu holen." Das passt dem Jungen nun gar nicht ins Konzept, denn im Zeltlager gibt es eine große schlanke Erscheinung mit Bubikopf namens Petra, und die bringt ihm in diesen Tagen gerade das Küssen bei. Die Eltern lassen sich erweichen, nicht wegen Petra - die wird verschwiegen -, sondern weil sie nicht wirklich davon überzeugt sind, aus Ost-Berlin noch rauszukommen. Dieter darf bis Ende der Woche im Lager bleiben. Am Freitagnachmittag kehrt er nach Berlin zurück, nimmt sein Fahrrad und fährt mit zwei Freunden Richtung Brunnenstraße. Das ist seit Jahren ihre Strecke, doch diesmal ist an der Ecke Bernauer Schluss: Von Soldaten und Polizisten bewacht, ziehen Bauarbeiter dort gerade eine Mauer hoch.
Die Bernauer Straße war für die Jungen immer schon ein beklemmender Ort gewesen. Auf dem Weg in den Westteil der Stadt mussten sie hier an den patrouillierenden Vopos vorbei und jederzeit damit rechnen, kontrolliert zu werden. Das Geld für den Westeinkauf steckten sie deshalb lieber in die Socken, auf dem Rückweg schob man die mitgebrachten Beutestücke - "Fix und Foxi"-Hefte, später Elvis-Platten - diskret unters Hemd, bei größeren Anschaffungen nahm man vorsichtshalber die S-Bahn. Zwei- bis dreimal in der Woche war Dieter allein oder mit anderen rübergegangen, in den ersten Jahren noch in Begleitung der Mutter, die in der Brunnenstraße neben Obst und Schokolade vor allem Kleidung kaufte, und immer war es gutgegangen. Jetzt das. Am 18. August 1961 endete für Dieter Krause die Kindheit. Sechs Tage später gab es den ersten Mauertoten. Auf beiden Seiten fuhren jetzt Lautsprecherwagen auf, die mit ohrenbetäubendem Lärm ihre Parolen über dem jeweils anderen Teil der Stadt abluden. Eine neue Zeitrechnung begann.
Vom Kollwitzplatz im Herzen des Berliner Bezirks Prenzlauer Berg, dem Lebensmittelpunkt des Ich-Erzählers, war man schneller im Wedding, also im Westen, als am Alexanderplatz. Keine Viertelstunde zu Fuß, und schon konnte der Zehn- oder Zwölfjährige an den Schaufenstern des Kapitalismus seine Nase plattdrücken und brauchte sich nur noch zu entscheiden, für welche der vielen Verlockungen er die mühsam ersparte Westmark tatsächlich einsetzen sollte. Als Ostkind aus einfachen Verhältnissen überschlug Dieter erst einmal den Preis, rechnete hoch, was sich später eventuell dagegen eintauschen ließe, erwog lange, ob er sich die Nietenhosen oder den Nickipullover oder den Blech-Jeep mit Ami-Stern zu Weihnachten wünschen sollte, und wahrte auf diese Weise konsumkritische Distanz. Obwohl er die Auswirkungen der DDR-Mangelwirtschaft zu Hause gelegentlich mitbekam, erlebte der Junge das Trennende zwischen Ost und West immer nur als einen graduellen Unterschied, nie als Gegensatz der Systeme. Zumal Politik im Elternhaus keine Rolle spielte und der Osten eben auch einiges zu bieten hatte, zum Beispiel die Kinderfilme der Defa. Krause suchte sich das jeweils Beste aus beiden Welten zusammen: Brausepulver und Kaugummi!
Beim Lametta für den auch im Ostteil obligaten Weihnachtsbaum lag der Westen eindeutig vorn. Es war hier aus Stanniol gefertigt und dem Aluminiumlametta des Ostens, das sich beim geringsten Luftzug und später im Karton unentwirrbar verhedderte, in jeder Hinsicht überlegen. Anderes war in beiden Stadthälften gleich. Beim Bäcker verlangte man auch im Osten "Amerikaner" und "Kameruner", und der Rodelschlitten trug hier wie dort den unverwüstlichen Namen "Davos". Wer sich die Nierentischkultur nicht leisten konnte - "ein Tisch auf drei Beinen!", spottete der Vater -, stellte wenigstens einen Gummibaum ins Fenster: "Schon acht Blätter!" Was hermachen - das wollte die Elterngeneration der fünfziger Jahre hier wie dort.
Unterdessen begannen die Kinder nach eigenen Wegen zu suchen. Begeistert von der westlichen Mode, von den Schlagern und Kinofilmen, die im anderen Teil der Stadt gespielt wurden, überhörten sie geflissentlich die Warnungen vor dem Klassenfeind. "Du willst kein Ami-Söldner sein, drum schalte nicht den Rias ein!" Was sollte das! Die Unterhaltung, die der Westen bot, war einfach besser. Die Eltern sahen das im Übrigen nicht anders. Gemeinsam mit Freunden saß man im Wohnzimmer vor dem Radioapparat und lauschte Woche für Woche der jeweils neuesten Folge der Durbridge-Krimis rund um den Hobbydetektiv Paul Temple. Mit Beginn des Fernsehzeitalters standen in Ost-Berlin zwar zwei Kanäle zur Verfügung, der Deutsche Fernsehfunk DFF auf Kanal 5 und das ARD-Programm auf Kanal 7, eingeschaltet wurde aber meist nur der eine. Auch am Kollwitzplatz drehte sich der Fernsehsonnabend zeremoniell um die Größen aus dem Westen: Willy Millowitsch und Heidi Kabel, Peter Frankenfeld und Hans-Joachim Kulenkampff.
Krauses deutsch-deutsches Feintuning im Unterhaltungssektor der fünfziger Jahre zeigt, welch geringen Einfluss die Propaganda hatte und wie man sich zu helfen wusste. Natürlich hätte der Autor 1956 in einem der vielen Westkinos liebend gern den Kultstreifen "Die Halbstarken" mit Horst Buchholz gesehen, aber für den Zehnjährigen bestand keine Chance: freigegeben ab 16. Also begnügte er sich mit dem Ostsurrogat, dem Defa-Film "Berlin - Ecke Schönhauser", der "praktisch vor unserer Haustür" spielte und unter Nachwuchs-Halbstarken als ziemlich authentisch galt. In der Regel hatte die DDR unterhaltungstechnisch jedoch eindeutig das Nachsehen.
Das galt auch für den Fußball, mit den Weltmeistern von 1954 konnte keiner konkurrieren. Die Unterschriften von Sepp Herberger und Fritz Walter, die Dieter sich drei Monate vor dem Mauerbau im Olympiastadion erkämpfte, waren die Paradestücke in seinem Autogrammbuch. Als er ein knappes Jahr später in der Schule zum Thema "Mein Vorbild" einen Aufsatz über Helmut Rahn ablieferte, den Schützen des Siegtreffers von Bern, bekam er Schwierigkeiten. Der Vater rettete den Sohn, indem er ihm einen Ersatztext über Täve Schur lieferte, das Radfahreridol der DDR, den Dieter am nächsten Morgen abschrieb und dem Deutschlehrer überreichte. "Na bitte, geht doch."
"Kollwitz 66" - das sind 440 Seiten Kindheit, liebevoll erinnert und mit wunderbarer Leichtigkeit erzählt, ohne jede Prätention, aber stark, pointiert und schnörkellos. Auch wenn der Autor gelegentlich - insbesondere in den politischen Passagen - mit subtiler Ironie späteres Wissen einfließen lässt, so rückt er doch nirgendwo zurecht und enthält sich nachträglicher Bewertungen. Es war, wie es war, und Krause versucht es so zu erzählen, wie er es auch als Vierzehnjähriger hätte erzählen können. Je mehr der gelernte Westler lesend eintaucht in diese Welt, desto mehr reibt er sich die Augen und fragt, worin die Unterschiede zwischen beiden Systemen in den fünfziger Jahren eigentlich bestanden. Aus Sicht des Kindes reduzierte sich der Gegensatz darauf, dass man im Westen fast alles leichter bekam und natürlich in besserer Qualität. Als die Grenze dichtgemacht wurde, musste man seine Wünsche eben zurückschrauben. Das Erwachsenwerden vollzog sich ohnehin jenseits ideologischer Schranken, vor allem im Äther, und solange Rias und AFN die jeweils neuesten Hits aus England und den Vereinigten Staaten frei Haus lieferten, war die Welt am Kollwitzplatz in Ordnung.
Das Viertel zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee ist längst bis in die Hinterhöfe gentrifiziert, heute hupen sich dort allabendlich Mittelklasselimousinen und SUVs gegenseitig die Parkplätze weg. In den fünfziger Jahren konnte man die wenigen Fahrzeuge, die hier durchkamen, zählen - vor allem Tempo-Dreiräder, Holzgas-Lastwagen und Pferdegespanne; Milch holte man in einem der Hinterhöfe zwischen Wörther und Sredzkistraße, direkt bei den Kühen, die dort im Stall der Molkerei standen. Dieses alles ohne Nostalgie beschreiben zu können und der Kindheit ihre Wahrheit zu lassen zeugt von Souveränität. Beim Leser mischen sich unwillkürlich eigene Erinnerungen dazwischen: Ja, so ist es gewesen. "Kollwitz 66" ist ein leises, ein unaufdringliches Buch - und ganz gewiss eines der zauberhaftesten der Saison. Dem Schöffling-Verlag möchte man wünschen, dass er damit an den Erfolg von Guntram Vespers "Frohburg" anknüpfen kann, das im vorigen Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse bekam.
THOMAS KARLAUF
Dieter Krause: "Kollwitz 66: Berliner Kindheit in den fünfziger Jahren". Schöffling, 448 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2017Rings um die Klopfstange
Weißt du noch, wie es damals war, all der Lärm und die Streiche zwischen Gummibäumen und
Sehnsuchtsschnulze? Dieter Krause erzählt von seiner Berliner Kindheit in den Fünfzigerjahren
VON JENS BISKY
Als man in der S-Bahn noch rauchen durfte, Onkel Tobias vom RIAS die Kinder unterhielt und Peter Kraus rebellisch wirkte, wohnte Dieter Krause in der Kollwitzstraße, Nummer 66. Nebenan die 68 stand nicht mehr. Das Berlin, in das er 1947 hineingeboren wurde, war eine Trümmerlandschaft, eher einem Haufen Roquefort zu vergleichen als einer Stadt. Daher sorgten sich die meisten zunächst kaum darum, in welcher der vier Besatzungszonen ihre Behausung lag. Man war noch einmal davongekommen, jetzt konnte es nur aufwärts gehen, jetzt sollte gelebt werden. An der Fassade der Kollwitz 66 waren die Kriegsschäden bereits unter frischem Putz verschwunden.
Heute ist die Kollwitzstraße in Prenzlauer Berg eine feine Gegend, für Immobilienverkäufer eine sehr gute Lage, obwohl das Leben hier gewiss nicht mehr Abenteuer bietet als in Marzahn. Der Putz wirkt noch immer sehr glatt. Im Eingang erinnert eine Tafel an die Schicksale der jüdischen Bewohner des Hauses. Ein Restaurant lädt zum Italienurlaub, auch eine Apotheke gibt es.
In Dieter Krauses Kinderjahren befanden sich rechts neben der Hauseinfahrt ein kleiner Zeitungsladen und das Lebensmittelgeschäft der Eheleute Adam. Links des Haustors verkaufte die staatliche Handelsorganisation HO Fisch; gebannt schauten die Kinder zu, wenn der Kescher ins Becken tauchte, einen Karpfen herauszuholen. Platz war auch noch, so erinnert Krause, für eine „winzige Eisdiele“. Der Hof, zu einem ordentlichen Berliner Haus gehört bekanntlich ein Hinterhof, endete vor einem Lattentor. Dahinter: „eine kleine Schnapsfabrik namens ,Westphal‘“.
Leicht könnte man nach den Angaben dieses Erinnerungsbuches die versunkene Welt rund um den Kollwitzplatz der Fünfzigerjahre als Kulisse für einen Fernsehfilm wiederauferstehen lassen, mit Sandkasten und Klettergerüst, mit dem stinkenden Pissoir Ecke Knaackstraße, den vielen kleinen Kinos in der Gegend, dem Wasserturm in der Nähe, mit Schulen und behelfsmäßigen Bolzplätzen.
Diese Kindheit spielte sich auf den Straßen der Stadt ab – und vor Lautsprechern. Erst das Radio, dann ein Fernsehapparat vergrößern die Welt. Sie ist geprägt von der Logik des Kalten Krieges und wohl mehr noch von der Sehnsucht nach Normalität, nach kleinen, nie gering zu schätzenden Verbesserungen. Noch ist die geteilte Stadt ein Ganzes, sind Ausflüge in den Westen ebenso selbstverständlich wie die Vorsicht vor den Kontrollen bei der Rückkehr. West-Mark und West-Angebote haben einen festen Platz in der Familienökonomie. Die Mutter verdient im Westteil, der Vater als Arbeiter im Osten.
Ein Gefühl von Weite und Möglichkeiten vermitteln die Fahrten zu Verwandten in Westdeutschland. West-Berlin war ja nur „eine Insel, überschaubar, überspannt, überfüllt“. Die Familie liebäugelt mehrfach mit dem Aufbruch, weil der Aufbau in der DDR langsam, mühselig vor sich geht. Vielleicht Australien? Aber das ist weit, und das Kind Dieter will nicht alle Freunde verlieren. Auch im Osten, in dem noch Stalin-Denkmäler stehen, obwohl er, wie Ulbricht nach dem XX. Parteitag der KPdSU beschied, kein Klassiker mehr war, auch in der Kollwitz 66 hat man sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet, besitzt einige Möbel nach Nierentischmode, Fernseher und Auto. Leichten Herzens lässt das keiner zurück, wenn er die ersten Nachkriegsjahre durchlebt hat. Im Sommer 1961 wird die Flucht geplant, umsichtig vorbereitet. Zu spät.
Zwei Jahre darauf zieht die Familie in eine komfortablere Wohnung in langweiliger Umgebung. Die Zeit der Abenteuer scheint vorüber zu sein; die Familie muss sich ins ungeplante Dableiben schicken. Krauses Leben blieb eines jenseits der sozialistischen Norm. Leider beschränkt er sich in „Kollwitz 66“ auf die Kindheit, schreibt nichts über sein Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität, nichts über die oppositionelle Gruppe gebildeter Sozialisten, der er in den Siebzigern angehörte. Wie sie von einem, der sich als Freund tarnte, der Stasi verzinkt wurde, hat Inga Wolfram 2009 in ihrem Buch „Verraten. Sechs Freunde, ein Spitzel, mein Land und ein Traum“ berichtet.
Dieter Krause hat für die Zeitung des Neuen Forums, Die Andere, gearbeitet und später beim Stern. Er erzählt wie ein guter Reporter in einer Fülle kleiner Geschichten, zeithistorische Informationen werden beiläufig mitgeliefert.
Der Vater war ein begeisterter Radsportler. Und was macht der Junge? Er wünscht sich ein Rad mit Gepäckträger. Vorbei mit Vaters Traum, der Junior möge ein Rennfahrer werden. Der Vater hat eine Aversion gegen Waffen, die Kinder spielen am liebsten mit dem, was knallt und schießt. Die Schulkarriere verläuft holprig, Scherze und Streiche führen zu wiederholten Schulwechseln. Die Helden der Kinder sind Cowboys oder Fußballer. Sie sind hin- und hergerissen zwischen den Freiheiten der Trümmerwelt, der beginnenden Konsumkultur und ideologischen Zurüstungen, die für sie zum endlosen Reich der Verbote gehören. Es ging streng zu, die Regeln standen fest, und wer nicht spurte, musste mit Züchtigung rechnen. Und dennoch scheint es eine Kindheit mit mehr Freiheiten gewesen zu sein, als später unter Margot Honecker denkbar gewesen wären.
Aber das „Alte, Muffige, Selbstgerechte“ schien auch am Ende der Fünfzigerjahre „bis ans Ende aller Tage fortbestehen zu wollen“. Davon, vom Rebellentum und von den kleinen Fluchten erzählt Dieter Krause oft betulich. Seine Aufmerksamkeit gilt nahezu allem in gleichem Maße: der Sprache und den Rundfunksendungen, den Erziehungsgewohnheiten und dem Warenangebot, der Mode und der Herstellung von Stinkbomben, Kinderfilmen und Schlagern. Kein Detail wird zur Nebensache erklärt und achtlos übergangen, als fürchte sich der Autor, auch nur eine Liedzeile zu übergehen, die damals Eindruck machte.
Nicht schon wieder das Fernsehprogramm, bitte nicht noch einen Schulstreich, denkt der Leser mehr als einmal und beschließt, das Buch nun endgültig wegzulegen. Aber dann liest er doch weiter, gefesselt vom Rätsel dieser Fünfzigerjahre, das nur dem oberflächlichen Blick rasch zu lösen zu sein scheint. Diesen ausführlichen Erinnerungen fehlt die Struktur, eine Dramaturgie. Das ist eine Schwäche, die leicht zu beheben wäre. Aber es ist auch eine Stärke, die selten zu finden ist.
„Kollwitz 66“ will dem Leser nichts aufreden, nichts demonstrieren und schon gar nicht die Selbstzufriedenheit der Gegenwart befördern. Dieter Krause entfaltet das Panorama einer fremden Welt, die in vielem unverständlich wirkt, obwohl sie doch die Welt der Eltern war: „Lockenwickler, Sockenhalter, Hüte, Blümchentapeten, Dauerwellen, Fassonschnitte, Haarpomaden, … Rauchverzehrer, Bohnerwachsgerüche, Ausziehtische.“ In diesem Buch behauptet sich das von Regeln und Verboten dominierte alltägliche Leben gegen politische Zugriffe und Beschränkungen.
Die Ordnung, in die Dieter Krause hineinwuchs, wird, wie er abschließend schreibt, durch ein Beben zum Einsturz gebracht, dem keiner entkam: „Endlich flog die Tür zu den sechziger Jahren auf. Nicht von allein. Sie wurde eingetreten – von den Beatles.“
Kein Detail wird zur
Nebensache erklärt und
achtlos übergangen
Dieter Krause:
Kollwitz 66. Berliner
Kindheit in den fünfziger Jahren. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2017.
448 Seiten, 24 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Weißt du noch, wie es damals war, all der Lärm und die Streiche zwischen Gummibäumen und
Sehnsuchtsschnulze? Dieter Krause erzählt von seiner Berliner Kindheit in den Fünfzigerjahren
VON JENS BISKY
Als man in der S-Bahn noch rauchen durfte, Onkel Tobias vom RIAS die Kinder unterhielt und Peter Kraus rebellisch wirkte, wohnte Dieter Krause in der Kollwitzstraße, Nummer 66. Nebenan die 68 stand nicht mehr. Das Berlin, in das er 1947 hineingeboren wurde, war eine Trümmerlandschaft, eher einem Haufen Roquefort zu vergleichen als einer Stadt. Daher sorgten sich die meisten zunächst kaum darum, in welcher der vier Besatzungszonen ihre Behausung lag. Man war noch einmal davongekommen, jetzt konnte es nur aufwärts gehen, jetzt sollte gelebt werden. An der Fassade der Kollwitz 66 waren die Kriegsschäden bereits unter frischem Putz verschwunden.
Heute ist die Kollwitzstraße in Prenzlauer Berg eine feine Gegend, für Immobilienverkäufer eine sehr gute Lage, obwohl das Leben hier gewiss nicht mehr Abenteuer bietet als in Marzahn. Der Putz wirkt noch immer sehr glatt. Im Eingang erinnert eine Tafel an die Schicksale der jüdischen Bewohner des Hauses. Ein Restaurant lädt zum Italienurlaub, auch eine Apotheke gibt es.
In Dieter Krauses Kinderjahren befanden sich rechts neben der Hauseinfahrt ein kleiner Zeitungsladen und das Lebensmittelgeschäft der Eheleute Adam. Links des Haustors verkaufte die staatliche Handelsorganisation HO Fisch; gebannt schauten die Kinder zu, wenn der Kescher ins Becken tauchte, einen Karpfen herauszuholen. Platz war auch noch, so erinnert Krause, für eine „winzige Eisdiele“. Der Hof, zu einem ordentlichen Berliner Haus gehört bekanntlich ein Hinterhof, endete vor einem Lattentor. Dahinter: „eine kleine Schnapsfabrik namens ,Westphal‘“.
Leicht könnte man nach den Angaben dieses Erinnerungsbuches die versunkene Welt rund um den Kollwitzplatz der Fünfzigerjahre als Kulisse für einen Fernsehfilm wiederauferstehen lassen, mit Sandkasten und Klettergerüst, mit dem stinkenden Pissoir Ecke Knaackstraße, den vielen kleinen Kinos in der Gegend, dem Wasserturm in der Nähe, mit Schulen und behelfsmäßigen Bolzplätzen.
Diese Kindheit spielte sich auf den Straßen der Stadt ab – und vor Lautsprechern. Erst das Radio, dann ein Fernsehapparat vergrößern die Welt. Sie ist geprägt von der Logik des Kalten Krieges und wohl mehr noch von der Sehnsucht nach Normalität, nach kleinen, nie gering zu schätzenden Verbesserungen. Noch ist die geteilte Stadt ein Ganzes, sind Ausflüge in den Westen ebenso selbstverständlich wie die Vorsicht vor den Kontrollen bei der Rückkehr. West-Mark und West-Angebote haben einen festen Platz in der Familienökonomie. Die Mutter verdient im Westteil, der Vater als Arbeiter im Osten.
Ein Gefühl von Weite und Möglichkeiten vermitteln die Fahrten zu Verwandten in Westdeutschland. West-Berlin war ja nur „eine Insel, überschaubar, überspannt, überfüllt“. Die Familie liebäugelt mehrfach mit dem Aufbruch, weil der Aufbau in der DDR langsam, mühselig vor sich geht. Vielleicht Australien? Aber das ist weit, und das Kind Dieter will nicht alle Freunde verlieren. Auch im Osten, in dem noch Stalin-Denkmäler stehen, obwohl er, wie Ulbricht nach dem XX. Parteitag der KPdSU beschied, kein Klassiker mehr war, auch in der Kollwitz 66 hat man sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet, besitzt einige Möbel nach Nierentischmode, Fernseher und Auto. Leichten Herzens lässt das keiner zurück, wenn er die ersten Nachkriegsjahre durchlebt hat. Im Sommer 1961 wird die Flucht geplant, umsichtig vorbereitet. Zu spät.
Zwei Jahre darauf zieht die Familie in eine komfortablere Wohnung in langweiliger Umgebung. Die Zeit der Abenteuer scheint vorüber zu sein; die Familie muss sich ins ungeplante Dableiben schicken. Krauses Leben blieb eines jenseits der sozialistischen Norm. Leider beschränkt er sich in „Kollwitz 66“ auf die Kindheit, schreibt nichts über sein Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität, nichts über die oppositionelle Gruppe gebildeter Sozialisten, der er in den Siebzigern angehörte. Wie sie von einem, der sich als Freund tarnte, der Stasi verzinkt wurde, hat Inga Wolfram 2009 in ihrem Buch „Verraten. Sechs Freunde, ein Spitzel, mein Land und ein Traum“ berichtet.
Dieter Krause hat für die Zeitung des Neuen Forums, Die Andere, gearbeitet und später beim Stern. Er erzählt wie ein guter Reporter in einer Fülle kleiner Geschichten, zeithistorische Informationen werden beiläufig mitgeliefert.
Der Vater war ein begeisterter Radsportler. Und was macht der Junge? Er wünscht sich ein Rad mit Gepäckträger. Vorbei mit Vaters Traum, der Junior möge ein Rennfahrer werden. Der Vater hat eine Aversion gegen Waffen, die Kinder spielen am liebsten mit dem, was knallt und schießt. Die Schulkarriere verläuft holprig, Scherze und Streiche führen zu wiederholten Schulwechseln. Die Helden der Kinder sind Cowboys oder Fußballer. Sie sind hin- und hergerissen zwischen den Freiheiten der Trümmerwelt, der beginnenden Konsumkultur und ideologischen Zurüstungen, die für sie zum endlosen Reich der Verbote gehören. Es ging streng zu, die Regeln standen fest, und wer nicht spurte, musste mit Züchtigung rechnen. Und dennoch scheint es eine Kindheit mit mehr Freiheiten gewesen zu sein, als später unter Margot Honecker denkbar gewesen wären.
Aber das „Alte, Muffige, Selbstgerechte“ schien auch am Ende der Fünfzigerjahre „bis ans Ende aller Tage fortbestehen zu wollen“. Davon, vom Rebellentum und von den kleinen Fluchten erzählt Dieter Krause oft betulich. Seine Aufmerksamkeit gilt nahezu allem in gleichem Maße: der Sprache und den Rundfunksendungen, den Erziehungsgewohnheiten und dem Warenangebot, der Mode und der Herstellung von Stinkbomben, Kinderfilmen und Schlagern. Kein Detail wird zur Nebensache erklärt und achtlos übergangen, als fürchte sich der Autor, auch nur eine Liedzeile zu übergehen, die damals Eindruck machte.
Nicht schon wieder das Fernsehprogramm, bitte nicht noch einen Schulstreich, denkt der Leser mehr als einmal und beschließt, das Buch nun endgültig wegzulegen. Aber dann liest er doch weiter, gefesselt vom Rätsel dieser Fünfzigerjahre, das nur dem oberflächlichen Blick rasch zu lösen zu sein scheint. Diesen ausführlichen Erinnerungen fehlt die Struktur, eine Dramaturgie. Das ist eine Schwäche, die leicht zu beheben wäre. Aber es ist auch eine Stärke, die selten zu finden ist.
„Kollwitz 66“ will dem Leser nichts aufreden, nichts demonstrieren und schon gar nicht die Selbstzufriedenheit der Gegenwart befördern. Dieter Krause entfaltet das Panorama einer fremden Welt, die in vielem unverständlich wirkt, obwohl sie doch die Welt der Eltern war: „Lockenwickler, Sockenhalter, Hüte, Blümchentapeten, Dauerwellen, Fassonschnitte, Haarpomaden, … Rauchverzehrer, Bohnerwachsgerüche, Ausziehtische.“ In diesem Buch behauptet sich das von Regeln und Verboten dominierte alltägliche Leben gegen politische Zugriffe und Beschränkungen.
Die Ordnung, in die Dieter Krause hineinwuchs, wird, wie er abschließend schreibt, durch ein Beben zum Einsturz gebracht, dem keiner entkam: „Endlich flog die Tür zu den sechziger Jahren auf. Nicht von allein. Sie wurde eingetreten – von den Beatles.“
Kein Detail wird zur
Nebensache erklärt und
achtlos übergangen
Dieter Krause:
Kollwitz 66. Berliner
Kindheit in den fünfziger Jahren. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2017.
448 Seiten, 24 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
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»Kollwitz 66 ist ein leises, ein unaufdringliches Buch - und ganz gewiss eines der zauberhaftesten der Saison.« Thomas Karlauf, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung »Sehr reportagehaft, präzise Beobachtungen.« Julia Riedhammer, rbb Kulturradio »Geschichte hat einen Duft, Geschmack, (...) Sound. (...) Wenige sind in der Lage, diese Gefühlswelt so auferstehen zu lassen, dass auch Nachgeborene in ihr zu leben meinen.« Hans-Ulrich Jörges, Stern »Es ist ein wohliger Effekt, die eigene Kindheit wiederzuerkennen, eine Zeit, in der das Leben noch wie ein Überraschungspaket vor einem liegt (...).« Birgit Walter, Neue Zürcher Zeitung »Kollwitz 66 - ein anekdotenreiches Stück Zeitgeschichte.« Andreas Burkhardt, tip Berlin »Dieter Krause entfaltet das Panorama einer fremden Welt, die in vielem unverständlich wirkt, obwohl sie doch die Welt der Eltern war.« Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung »Krause (...) breitet hier ein schillerndes Kaleidoskop einer Jugend im Berlin der fünfziger Jahre aus.« Lothar Heinke, Der Tagesspiegel »Lebendig reportiert Krause die wachsenden Ost-West-Kontraste: Ideologie, Warenwelt, Popkultur, das ungleiche Geld.« Christoph Dieckmann, Die Zeit »Kollwitz 66 ist kein Roman, es sind Erinnerungen, Alltagsgeschichten (...). Anekdoten, in die sich Jahrhundertgeschichte verpacken lässt.« Janina Fleischer, Leipziger Volkszeitung »Seine Sicht bleibt frei von Nostalgie. Eine souverän geschilderte Lebenserzählung aus dem Spannungsfeld zwischen zwei Welten.« Wolf Scheller, Hessische / Niedersächsische Allgemeine »Kollwitz 66 erzählt von dieser Zeit liebevoll, aber nicht verklärend.« Brigitte Bücher-Spezial "Die besten Bücher des Jahres" »Detailliert und ausdrucksstark.« Einbecker Morgenpost