Berlin als 'Gründer-Zentrum' des nationalen Gedächtnisses bildete zugleich das Sprungbrett für Forschungsreisen und ethnographische Unternehmungen. Der Band rekonstruiert die Verflechtungen zwischen kolonialen, wissenschaftlichen und kulturellen Diskursen in ihren konstituierenden Grundzügen. Als Archäologie einer "Gründerzeit" leistet er damit einen Beitrag zur Erhellung der kulturellen Nachwirkungen und Folgen des deutschen Kolonialismus in Wissenschaft, Literatur und Medien."Ein aufschlußreicher Sammelband einer Berliner Forschergruppe über "Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden" bietet jetzt der Diskussion (zum kolonialen Erbe des Postkolonialismus) reiches Anschauungsmaterial und kluge Argumente. In zwölf Beiträgen erkundet er exotische Maskenspiele bei Döblin, Kolonialdiskurse bei Kafka, Sammeln und Erzählen bei Frobenius, Landschaftsschilderungen aus 'Deutsch-Süd-West', Südseeträume aus Samoa, Tropenkoller in der Medizin, Kolonialpolitik in der wilhelminischen Vergnügungskultur, deutsche Dichter und Ingenieure am Suez-Kanal und manches mehr." FAZ
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2002Mit einer Prise Germanin
Traute Tropen: Ein Sammelband deutscher Postkolonial-Studien
In einem seiner schönsten Gedichte erzählt Bertolt Brecht uns die "Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration" als kleines Lehrstück über den Einfluß unbekannter Mittelsmänner auf die hochberühmten Werke dieser Welt. Wir erfahren, wie der siebzigjährige Weise außer Landes geht und nur durch die interessierte Nachfrage eines Zöllners, der ihn an der Grenze abfertigt, dazu gebracht wird, seine Lebensweisheit endlich aufzuschreiben und so der Nachwelt zu erhalten. "Daher sei der Zöllner auch bedankt", heißt es am Schluß, denn der habe dem großen Meister sein Werk abverlangt. Woher aber wußte Brecht überhaupt von chinesischen Weisheitslehren? Was kannte er von Laozis "Daodejing", und in welcher Form und Sprache ist es ihm übermittelt worden?
Ganz offenbar sind auch bei der Entstehung berühmter Brecht-Gedichte Mittler mit am Werk gewesen, ungenannte Übersetzer fremder Texte und entlegener Traditionen, die Entscheidendes dazu beigetragen haben. Der Befund gilt generell, denn bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß der gesamte Kanon der Moderne, mit dem wir gern das Eigene der Kultur abstecken, von fremden Elementen durchsetzt ist, die dessen vielfältige Verflechtungen mit anderem bezeugt. Alfred Döblin, Hermann Hesse, C. G. Jung, Klabund, Otto Kokoschka, Ernst Toller oder Hans Arp sind nur einige der prominenteren Laozi-Leser, die wie auch Brecht den Verheerungen der Welt- und Nachkriegszeit mit Rückgriff auf fernöstliche Philosophie begegneten. Ihre gemeinsame Quelle war "Das Buch des Alten vom Sinn und Leben", das 1911 im Eugen Diederichs Verlag Jena erschien und den chinesischen Klassiker erstmals einem breiten deutschen Publikum bekannt machte. Die Übertragung von Richard Wilhelm, einem Missionar in Kiautschou, entstand als empörte Reaktion auf die Militäraktion von 1900, den Rachefeldzug westlicher Großmächte unter Oberbefehl eines deutschen "Weltmarschalls" zur Niederschlagung des Boxer-Aufstands in China. So kreuzen sich in der Laozi-Rezeption die Erinnerung an einen blutigen Befriedungsfeldzug mit christlicher Versöhnungshoffnung, europäische Sinnsuche mit kolonialer Machtgebärde, und die genannten Texte sind, wie Walter Benjamin es später formulieren sollte, Dokumente der Kultur wie auch zugleich solche der Barbarei.
Durchkreuzungen und Doppelungen dieser Art bilden den Fokus eines regen Forschungsgebiets der Kulturwissenschaften, das sich in den letzten zwei Jahrzehnten unter dem Kennwort "Postcolonial Studies" formiert hat. Ganz wie im Szenario aus Brechts Ballade widmet es sich den Zwischengängern, Überläufern oder Emigranten, die den grenzüberschreitenden Verkehr von Traditionen und Kulturen betreiben, ebenso wie den Grenzposten, Autoritätsfiguren oder Subalternen, die über diesen Schmuggel wachen und ihn oft unbemerkt, doch wirkungsvoll manipulieren.
Dabei wird in britischen, amerikanischen oder französischen Zusammenhängen stets auch die koloniale Erbschaft bearbeitet, die jede kulturelle Selbstverständigung an eine politische Geschichte von Welthandel, Sklaverei und imperiale Expansion bindet. Hierzulande mochte sich die Zurückhaltung gegenüber solchen Fragestellungen wohl darauf berufen, daß die Periode des formellen Kolonialismus für Deutschland rasch vorüberging. Und doch weisen ihre Spuren ins Zentrum auch der deutschen Kultur und deren Inszenierungen von Selbst- und Fremdbildern. Ein aufschlußreicher Sammelband einer Berliner Forschergruppe über "Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden" bietet jetzt der Diskussion dazu reiches Anschauungsmaterial und kluge Argumente.
In zwölf Beiträgen erkundet er exotische Maskenspiele bei Döblin, Kolonialdiskurse bei Kafka, Sammeln und Erzählen bei Frobenius, Landschaftsschilderungen aus "Deutsch Süd-West", Südseeträume aus Samoa, Tropenkoller in der Medizin, Kolonialpolitik in der wilhelminischen Vergnügungskultur, deutsche Dichter und Ingenieure am Suez-Kanal, Barbarentum und Kampfrhetorik in der Kulturkritik, Voraussetzung und Folgen von Wilhelms Laozi-Version und manches mehr.
Die spannendsten Kapitel jedoch gelten der kaiserlichen Orientreise von 1898, deren Besichtigungsprogramm Alexander Honold als sinnfällige Darstellung der Mythen deutscher Auserwähltheit liest, sowie dem medizinischen Wirkstoff "Germanin", dessen ideologische Karriere durch Propaganda, Romane und Filme, wie Stephan Besser sie brillant rekonstruiert, einst den pharmazeutischen Ersatz für die verlorenen afrikanischen Kolonien bot. Mit dem Heilmittel gegen Schlafkrankheit besaß nämlich die deutsche Tropenmedizin die Lösung von Problemen, zu denen ihr seither die Territorien fehlen. Wer diesen Beitrag liest und sich noch an die Krise des Bayer-Konzerns im letzten Jahr erinnert, gewinnt einen postkolonialen Perspektivenwechsel auf Probleme unserer Gegenwart.
TOBIAS DÖRING
Alexander Honold, Oliver Simons (Hrsg.): "Kolonialismus als Kultur". Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden. A. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2002. 291 S., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Traute Tropen: Ein Sammelband deutscher Postkolonial-Studien
In einem seiner schönsten Gedichte erzählt Bertolt Brecht uns die "Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration" als kleines Lehrstück über den Einfluß unbekannter Mittelsmänner auf die hochberühmten Werke dieser Welt. Wir erfahren, wie der siebzigjährige Weise außer Landes geht und nur durch die interessierte Nachfrage eines Zöllners, der ihn an der Grenze abfertigt, dazu gebracht wird, seine Lebensweisheit endlich aufzuschreiben und so der Nachwelt zu erhalten. "Daher sei der Zöllner auch bedankt", heißt es am Schluß, denn der habe dem großen Meister sein Werk abverlangt. Woher aber wußte Brecht überhaupt von chinesischen Weisheitslehren? Was kannte er von Laozis "Daodejing", und in welcher Form und Sprache ist es ihm übermittelt worden?
Ganz offenbar sind auch bei der Entstehung berühmter Brecht-Gedichte Mittler mit am Werk gewesen, ungenannte Übersetzer fremder Texte und entlegener Traditionen, die Entscheidendes dazu beigetragen haben. Der Befund gilt generell, denn bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß der gesamte Kanon der Moderne, mit dem wir gern das Eigene der Kultur abstecken, von fremden Elementen durchsetzt ist, die dessen vielfältige Verflechtungen mit anderem bezeugt. Alfred Döblin, Hermann Hesse, C. G. Jung, Klabund, Otto Kokoschka, Ernst Toller oder Hans Arp sind nur einige der prominenteren Laozi-Leser, die wie auch Brecht den Verheerungen der Welt- und Nachkriegszeit mit Rückgriff auf fernöstliche Philosophie begegneten. Ihre gemeinsame Quelle war "Das Buch des Alten vom Sinn und Leben", das 1911 im Eugen Diederichs Verlag Jena erschien und den chinesischen Klassiker erstmals einem breiten deutschen Publikum bekannt machte. Die Übertragung von Richard Wilhelm, einem Missionar in Kiautschou, entstand als empörte Reaktion auf die Militäraktion von 1900, den Rachefeldzug westlicher Großmächte unter Oberbefehl eines deutschen "Weltmarschalls" zur Niederschlagung des Boxer-Aufstands in China. So kreuzen sich in der Laozi-Rezeption die Erinnerung an einen blutigen Befriedungsfeldzug mit christlicher Versöhnungshoffnung, europäische Sinnsuche mit kolonialer Machtgebärde, und die genannten Texte sind, wie Walter Benjamin es später formulieren sollte, Dokumente der Kultur wie auch zugleich solche der Barbarei.
Durchkreuzungen und Doppelungen dieser Art bilden den Fokus eines regen Forschungsgebiets der Kulturwissenschaften, das sich in den letzten zwei Jahrzehnten unter dem Kennwort "Postcolonial Studies" formiert hat. Ganz wie im Szenario aus Brechts Ballade widmet es sich den Zwischengängern, Überläufern oder Emigranten, die den grenzüberschreitenden Verkehr von Traditionen und Kulturen betreiben, ebenso wie den Grenzposten, Autoritätsfiguren oder Subalternen, die über diesen Schmuggel wachen und ihn oft unbemerkt, doch wirkungsvoll manipulieren.
Dabei wird in britischen, amerikanischen oder französischen Zusammenhängen stets auch die koloniale Erbschaft bearbeitet, die jede kulturelle Selbstverständigung an eine politische Geschichte von Welthandel, Sklaverei und imperiale Expansion bindet. Hierzulande mochte sich die Zurückhaltung gegenüber solchen Fragestellungen wohl darauf berufen, daß die Periode des formellen Kolonialismus für Deutschland rasch vorüberging. Und doch weisen ihre Spuren ins Zentrum auch der deutschen Kultur und deren Inszenierungen von Selbst- und Fremdbildern. Ein aufschlußreicher Sammelband einer Berliner Forschergruppe über "Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden" bietet jetzt der Diskussion dazu reiches Anschauungsmaterial und kluge Argumente.
In zwölf Beiträgen erkundet er exotische Maskenspiele bei Döblin, Kolonialdiskurse bei Kafka, Sammeln und Erzählen bei Frobenius, Landschaftsschilderungen aus "Deutsch Süd-West", Südseeträume aus Samoa, Tropenkoller in der Medizin, Kolonialpolitik in der wilhelminischen Vergnügungskultur, deutsche Dichter und Ingenieure am Suez-Kanal, Barbarentum und Kampfrhetorik in der Kulturkritik, Voraussetzung und Folgen von Wilhelms Laozi-Version und manches mehr.
Die spannendsten Kapitel jedoch gelten der kaiserlichen Orientreise von 1898, deren Besichtigungsprogramm Alexander Honold als sinnfällige Darstellung der Mythen deutscher Auserwähltheit liest, sowie dem medizinischen Wirkstoff "Germanin", dessen ideologische Karriere durch Propaganda, Romane und Filme, wie Stephan Besser sie brillant rekonstruiert, einst den pharmazeutischen Ersatz für die verlorenen afrikanischen Kolonien bot. Mit dem Heilmittel gegen Schlafkrankheit besaß nämlich die deutsche Tropenmedizin die Lösung von Problemen, zu denen ihr seither die Territorien fehlen. Wer diesen Beitrag liest und sich noch an die Krise des Bayer-Konzerns im letzten Jahr erinnert, gewinnt einen postkolonialen Perspektivenwechsel auf Probleme unserer Gegenwart.
TOBIAS DÖRING
Alexander Honold, Oliver Simons (Hrsg.): "Kolonialismus als Kultur". Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden. A. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2002. 291 S., geb., 39,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Um auf die "fundamentale Bedeutung" des Kolonialismus "für die Genese der europäischen Moderne" hinzuweisen, verweist Felix Axster auf die These des Theoretikers Robert Young, dass womöglich das gesamte "produzierte Wissen" im Europa der vergangenen Jahrhunderte "als Spielart des kolonialen Diskurses zu dechiffrieren sei". Gerade in Deutschland wurde dieser Vermutung abgetan mit dem Verweis auf die gerade mal dreißigjährige Episode des deutschen Kolonialismus. Alexander Honold und Oliver Simon widmen sich in ihrem Band "Kolonialismus als Kultur" dem Aufspüren verschütt gegangener "kolonialer Spuren" in Deutschland und entdecken auch dort Hinweise, wo "Kolonialismus auf den ersten Blick nicht vermutet wird", so Axster. An Beispielen wie dem "Tropenkoller" oder der Erzählung Kafkas "In der Strafkolonie" werde gezeigt, dass diese Spuren nicht als "Marginalien" abgetan werden dürfen, sondern eher einen akademischen Diskurs "in größerem Maßstab" erfordern, resümiert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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