»Mond scheint ins Zimmer. Nichts ist real.Jeder Augenblick unergründlich, die WeltKolossales Echo im Labyrinth der Sinne.« Durs Grünbeins Gedichtbände sind dafür bekannt, dass sie ihre Gegenstände in immer weiteren Kreisen erfassen, in ihrer konzentrischen Ausbreitung wie geschaffen für dieses Zeitalter der Globalisierung. Sein neuer Gedichtband folgt dem Plan einer Ausstellung. In sieben Abteilungen werden Arbeiten aus den letzten fünf bis acht Jahren präsentiert. Es sind Bilder einer Reise, Exkursionen in das unbekannte Alltägliche, Selbstporträts und Historienbilder, Studien von Liebe und Sexualleben. In dieser eigenartig schwebenden Dichtung stehen Innenleben und äußere Welt in einer unauflösbaren Spannung: Sie ist das Lebensprinzip des Grünbeinschen Verses. Dabei ist das prägnante Einzelstück, ultimatives Ziel seines Schreibens, nur denkbar als Resultat einer seriellen Praxis. Immer sind diese Gedichte Beispiele einer peinturistischen Poesie. Jedes stellt auf seine Weise dieFrage: Was ist Imagination und wie verändert sie unser Bewusstsein?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2012Wo liegt Patmos? Weiß das jemand, bitte?
Geschichte und Mythos sind für Durs Grünbein Bestandteile gegenwärtiger Orientierung. Was vom Alten geht in unsere Anschauungen ein? Dem spürt er in seinen neuen Gedichten nach.
Ich selber sehe mich gar nicht primär als Lyriker." Wir staunen. Denn nach mehr als einem Dutzend Gedichtbänden, die Durs Grünbein bisher veröffentlicht hat, waren wir nicht nur der Meinung, in ihm überhaupt einen Lyriker erblicken zu dürfen; vielmehr beurteilten wir ihn ziemlich einhellig als einen herausragenden Lyriker unserer Zeit. Soll das, nach der Selbsteinschätzung Grünbeins, etwa nicht mehr gelten? Haben wir uns in ihm getäuscht? "Ich bin", so erläutert er seine Distanzierung vom "Lyriker", "jemand, der in Versen Einsichten, Erkenntnisse, Wahrnehmungen mitteilt, die aus einem persönlichen Erleben kommen, aber durchaus empfänglich sind für gesellschaftliche, landschaftliche, urbane Motive. Ich bin ein bisschen so etwas wie ein umherziehender Maler, der mit der Sprache arbeitet." Es geht ihm also eher um die Inhalte und Motive seiner Gedichte, die, wie er glaubt, nicht spezifisch "lyrisch" sind, so dass er aus diesem Grund die Bezeichnung eines "Lyrikers" nicht für sich in Anspruch nehmen mag. In der Tat: Von puren Herzensausgießungen, emphatischen Bekenntnissen und artistisch-experimentellen Kunststücken hält er sich nach wie vor fern, sieht man von wenigen Ausnahmen in seinem neuen Gedichtband ab - wie dem "In malayischer Form" gehaltenen Gedicht, dessen ausgeklügelte Wiederkehr einzelner Verse schon Adelbert von Chamisso ausprobierte.
Grünbeins Spracharbeit ist von anderer Art: beschreibend, nachdenklich kombinierend, erzählend, rekapitulierend, gefasst in vollständige, verständliche Sätze und in wohlklingende, rhythmisch sorgfältig gestaltete, gelegentlich gereimte Verse. Man könnte von Gedankengedichten sprechen, die er schreibt, oder auch von essayistischen Gedichten.
Die Eule ist ihr Wappentier. Als Talisman begleitet sie den Autor im ersten Gedicht des neuen Bandes in Form einer altgriechischen Tetradrachme, die er in der Hand hält und die er - eine Art Musenanruf - um Orientierung und Erleuchtung bittet: Wer wäre nicht gern auch weise im "Labyrinth der Sinne"! Und im letzten Gedicht kehrt die Eule zurück als ständiges Spiegelbild und unerbittliche Kontrollinstanz: "Sie prüft dich und liest die Gedanken, / Bevor sie gedacht sind - und keine / Dummheit, mein Lieber, entgeht ihr."
Wenn Dummheit der Feind guter Gedanken ist, so ist doch gebildete Klugheit allein noch lange nicht der Garant guter Gedichte. Aber dass Bildung ihnen geradezu schadet, wie neuerdings Grünbein-Kritiker glauben machen wollen, wird ein unverzagter Leser anspruchsvoller deutscher Gedichte von beispielsweise Hölderlin, Goethe, Heine, Rilke und Brecht kaum nachvollziehen können. Wie diese Dichter, so argumentiert und formuliert auch Grünbein auf der Basis der Kenntnisse und Erkenntnisse seines Zeitalters. Die Geschichte, der Mythos, das ganze Hintergrundwissen eines gebildeten Menschen des wissenschaftlichen Zeitalters sind für ihn keine nostalgischen Sehnsuchtsorte, sondern oft ins Unterbewusstsein abgerutschte, aber gerade deshalb unverzichtbare Bestandteile einer sich selbst problematisch gewordenen Gegenwartsorientierung. Was sehen wir wirklich, wenn wir etwas betrachten, welche Prägungen und Vorstellungen gehen in unsere Anschauungen ein, welche Irrtümer beherrschen unsere Wahrnehmungen?
Das ist das Thema des fünfteiligen langzeiligen Gedichts "Koloss im Nebel", das dem Band den Titel gegeben hat. Es spricht über eine Fährfahrt von Piräus durch die Inselwelt der Ägäis nach Rhodos. Bei trübem Wetter ereignet sich eine zunehmende Trübung des Bewusstseins, eine Vermischung der alten mit der neuen Welt; in einem der Mitfahrer sieht man trotz seines modernen Outfits sogar Hermes, den lächelnden Götterboten und Schutzgott der Reisenden. "Er war es, und er war es nicht", heißt es. Eine allgemeine Desorientiertheit greift Platz auf der Fähre: "Da vorn ist Delos", sagte einer. "Holy shit", rief jemand in das Grau. "Ich sehe nichts. Und wo liegt Patmos? Weiß das jemand, bitte?" Dann, kurz vor dem Reiseziel Rhodos, kommt es zu einem "Zwischenfall": Alle Reisenden sehen unzweifelhaft den Koloss von Rhodos vor sich: "Etwas Gewaltiges, gemessen an den Säulenschäften, schräg verankert, / Zog alle Blicke aufwärts, dorthin, wo in großer Höhe, wie es schien, / Die Konstruktion zusammenstrebte als ein kolossales Schenkelpaar. / (...) Was war das? - Alle fragten sich, an Deck gedrängt, / Was sie gesehen hatten, rannten aufgeregt nach hinten, wo in Reihen / Die Autos standen. Doch das Ding war weg, vom Dunst verschluckt." Und auch der stets Lächelnde ist nicht mehr zu sehen. War alles nur Einbildung? Oder war es die flüchtige Erfahrung einer Begegnung mit dem Geist der Antike? An Land klart es auf: "Man sah die Ginsterbüsche auf den Hügeln, weiße Häuserwürfel, Esel. / Erinnern kann ich mich an Tintenfische auf der Leine, die Tentakeln / Entlang der Uferpromenade schaukelnd. An die kleine Pyramide / Am Kai, ein Häuflein Steine, wohl ein Werk von Kinderhand", an Beiläufiges also, wie es scheint. Doch das unauffällige "Häuflein Steine" verweist am Ende des Gedichts bedeutungsvoll zurück auf den Gott Hermes, dessen Name sich vom "Hermaion" (Steinhaufen) herleitet und auf den sich die Hermeneutik als Kunst der Deutung beruft. Keine Beschreibung kann ohne diesen Gott auskommen. Er steht, verschmitzt lächelnd, hinter vielen Gedichten Grünbeins, auch dort, wo man es auf den ersten Blick nicht vermutet.
Und er verlockt auch den Leser zur deutenden Dechiffrierung. Welchen Wandteppich hat Grünbein vor Augen in seinem Gedicht "Tapisserie mit dem Tapir"? Das wüsste man schon gern, umso mehr, als die präzise Beschreibung der dargestellten Szenen auf dem Gobelin nach Rätselart mit der Frage schließt "Mon dieu, was ist das?" Eine Anmerkung oder gar eine Abbildung würde den Leser an dieser Frage beteiligen. Doch von solchen Hilfestellungen, die er seinen Lesern noch in dem Band "Nach den Satiren" zugestanden hatte, hält Grünbein offensichtlich nichts mehr. "Tut mir leid, wenn du glaubst, ich sei von Natur aus so: / Einer, der auf Happy-Ends baut, in die Lexika schaut." Nein, so ist er nicht. Nur keine Zugeständnisse! Mag der Leser doch selbst in die Lexika und ins Internet schauen.
Unter seinen bisherigen Gedichtbänden ist der vorliegende thematisch und formal der variationsreichste, allerdings mit vielen Themen, die man von Grünbein schon kannte: eine Art Potpourri mit einigen besonderen Höhepunkten, locker gefügt in sieben Abschnitte. Es gibt Kindheitserfahrungen, darunter eine reizende "Auflösung des Murmelspiels" zur guten Nacht, gesprochen von mehreren Sprechern (sogar mit Regiebemerkungen), aber auch Erinnerungen an verbotene früherotische "Verschwitzte Nachmittage" und an die ersten gerauchten Papyrossi aus den Beständen der Roten Armee. Dann führen die Gedichte durch eine ganze Gemälde-Galerie hochberühmter Meisterwerke: Da findet man etwa Rubens' Verlobungsbild, das ihn und Isabella Brant in der Geißblattlaube zeigt, Vermeers "Junge Dame mit Perlenhalsband", Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer", gleich mehrere Gemälde von Pierre Bonnard und Paul Klee und andere. Wohin er auch schaut, was immer er sieht - stets geht es ihm auch um die Erkenntnis und Vermittlung von Geschichte. Inbegriff für das Nachdenken über Zeitgebundenheit und Zeitlosigkeit ist hier wie sonst das Meer, dessen Deutungspotential Grünbein in vielen Gedichten wortreich ausschöpft. "Das ist die See, wie sie lebt. Sie feiert / Ende und Anfang einer jeden Geschichte, macht / Aus jeder Moderne eine Antike der Zukunft, / Aus jeder Antike die versunkenste aller Modernen."
WULF SEGEBRECHT
Durs Grünbein: "Koloss im Nebel". Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 230 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichte und Mythos sind für Durs Grünbein Bestandteile gegenwärtiger Orientierung. Was vom Alten geht in unsere Anschauungen ein? Dem spürt er in seinen neuen Gedichten nach.
Ich selber sehe mich gar nicht primär als Lyriker." Wir staunen. Denn nach mehr als einem Dutzend Gedichtbänden, die Durs Grünbein bisher veröffentlicht hat, waren wir nicht nur der Meinung, in ihm überhaupt einen Lyriker erblicken zu dürfen; vielmehr beurteilten wir ihn ziemlich einhellig als einen herausragenden Lyriker unserer Zeit. Soll das, nach der Selbsteinschätzung Grünbeins, etwa nicht mehr gelten? Haben wir uns in ihm getäuscht? "Ich bin", so erläutert er seine Distanzierung vom "Lyriker", "jemand, der in Versen Einsichten, Erkenntnisse, Wahrnehmungen mitteilt, die aus einem persönlichen Erleben kommen, aber durchaus empfänglich sind für gesellschaftliche, landschaftliche, urbane Motive. Ich bin ein bisschen so etwas wie ein umherziehender Maler, der mit der Sprache arbeitet." Es geht ihm also eher um die Inhalte und Motive seiner Gedichte, die, wie er glaubt, nicht spezifisch "lyrisch" sind, so dass er aus diesem Grund die Bezeichnung eines "Lyrikers" nicht für sich in Anspruch nehmen mag. In der Tat: Von puren Herzensausgießungen, emphatischen Bekenntnissen und artistisch-experimentellen Kunststücken hält er sich nach wie vor fern, sieht man von wenigen Ausnahmen in seinem neuen Gedichtband ab - wie dem "In malayischer Form" gehaltenen Gedicht, dessen ausgeklügelte Wiederkehr einzelner Verse schon Adelbert von Chamisso ausprobierte.
Grünbeins Spracharbeit ist von anderer Art: beschreibend, nachdenklich kombinierend, erzählend, rekapitulierend, gefasst in vollständige, verständliche Sätze und in wohlklingende, rhythmisch sorgfältig gestaltete, gelegentlich gereimte Verse. Man könnte von Gedankengedichten sprechen, die er schreibt, oder auch von essayistischen Gedichten.
Die Eule ist ihr Wappentier. Als Talisman begleitet sie den Autor im ersten Gedicht des neuen Bandes in Form einer altgriechischen Tetradrachme, die er in der Hand hält und die er - eine Art Musenanruf - um Orientierung und Erleuchtung bittet: Wer wäre nicht gern auch weise im "Labyrinth der Sinne"! Und im letzten Gedicht kehrt die Eule zurück als ständiges Spiegelbild und unerbittliche Kontrollinstanz: "Sie prüft dich und liest die Gedanken, / Bevor sie gedacht sind - und keine / Dummheit, mein Lieber, entgeht ihr."
Wenn Dummheit der Feind guter Gedanken ist, so ist doch gebildete Klugheit allein noch lange nicht der Garant guter Gedichte. Aber dass Bildung ihnen geradezu schadet, wie neuerdings Grünbein-Kritiker glauben machen wollen, wird ein unverzagter Leser anspruchsvoller deutscher Gedichte von beispielsweise Hölderlin, Goethe, Heine, Rilke und Brecht kaum nachvollziehen können. Wie diese Dichter, so argumentiert und formuliert auch Grünbein auf der Basis der Kenntnisse und Erkenntnisse seines Zeitalters. Die Geschichte, der Mythos, das ganze Hintergrundwissen eines gebildeten Menschen des wissenschaftlichen Zeitalters sind für ihn keine nostalgischen Sehnsuchtsorte, sondern oft ins Unterbewusstsein abgerutschte, aber gerade deshalb unverzichtbare Bestandteile einer sich selbst problematisch gewordenen Gegenwartsorientierung. Was sehen wir wirklich, wenn wir etwas betrachten, welche Prägungen und Vorstellungen gehen in unsere Anschauungen ein, welche Irrtümer beherrschen unsere Wahrnehmungen?
Das ist das Thema des fünfteiligen langzeiligen Gedichts "Koloss im Nebel", das dem Band den Titel gegeben hat. Es spricht über eine Fährfahrt von Piräus durch die Inselwelt der Ägäis nach Rhodos. Bei trübem Wetter ereignet sich eine zunehmende Trübung des Bewusstseins, eine Vermischung der alten mit der neuen Welt; in einem der Mitfahrer sieht man trotz seines modernen Outfits sogar Hermes, den lächelnden Götterboten und Schutzgott der Reisenden. "Er war es, und er war es nicht", heißt es. Eine allgemeine Desorientiertheit greift Platz auf der Fähre: "Da vorn ist Delos", sagte einer. "Holy shit", rief jemand in das Grau. "Ich sehe nichts. Und wo liegt Patmos? Weiß das jemand, bitte?" Dann, kurz vor dem Reiseziel Rhodos, kommt es zu einem "Zwischenfall": Alle Reisenden sehen unzweifelhaft den Koloss von Rhodos vor sich: "Etwas Gewaltiges, gemessen an den Säulenschäften, schräg verankert, / Zog alle Blicke aufwärts, dorthin, wo in großer Höhe, wie es schien, / Die Konstruktion zusammenstrebte als ein kolossales Schenkelpaar. / (...) Was war das? - Alle fragten sich, an Deck gedrängt, / Was sie gesehen hatten, rannten aufgeregt nach hinten, wo in Reihen / Die Autos standen. Doch das Ding war weg, vom Dunst verschluckt." Und auch der stets Lächelnde ist nicht mehr zu sehen. War alles nur Einbildung? Oder war es die flüchtige Erfahrung einer Begegnung mit dem Geist der Antike? An Land klart es auf: "Man sah die Ginsterbüsche auf den Hügeln, weiße Häuserwürfel, Esel. / Erinnern kann ich mich an Tintenfische auf der Leine, die Tentakeln / Entlang der Uferpromenade schaukelnd. An die kleine Pyramide / Am Kai, ein Häuflein Steine, wohl ein Werk von Kinderhand", an Beiläufiges also, wie es scheint. Doch das unauffällige "Häuflein Steine" verweist am Ende des Gedichts bedeutungsvoll zurück auf den Gott Hermes, dessen Name sich vom "Hermaion" (Steinhaufen) herleitet und auf den sich die Hermeneutik als Kunst der Deutung beruft. Keine Beschreibung kann ohne diesen Gott auskommen. Er steht, verschmitzt lächelnd, hinter vielen Gedichten Grünbeins, auch dort, wo man es auf den ersten Blick nicht vermutet.
Und er verlockt auch den Leser zur deutenden Dechiffrierung. Welchen Wandteppich hat Grünbein vor Augen in seinem Gedicht "Tapisserie mit dem Tapir"? Das wüsste man schon gern, umso mehr, als die präzise Beschreibung der dargestellten Szenen auf dem Gobelin nach Rätselart mit der Frage schließt "Mon dieu, was ist das?" Eine Anmerkung oder gar eine Abbildung würde den Leser an dieser Frage beteiligen. Doch von solchen Hilfestellungen, die er seinen Lesern noch in dem Band "Nach den Satiren" zugestanden hatte, hält Grünbein offensichtlich nichts mehr. "Tut mir leid, wenn du glaubst, ich sei von Natur aus so: / Einer, der auf Happy-Ends baut, in die Lexika schaut." Nein, so ist er nicht. Nur keine Zugeständnisse! Mag der Leser doch selbst in die Lexika und ins Internet schauen.
Unter seinen bisherigen Gedichtbänden ist der vorliegende thematisch und formal der variationsreichste, allerdings mit vielen Themen, die man von Grünbein schon kannte: eine Art Potpourri mit einigen besonderen Höhepunkten, locker gefügt in sieben Abschnitte. Es gibt Kindheitserfahrungen, darunter eine reizende "Auflösung des Murmelspiels" zur guten Nacht, gesprochen von mehreren Sprechern (sogar mit Regiebemerkungen), aber auch Erinnerungen an verbotene früherotische "Verschwitzte Nachmittage" und an die ersten gerauchten Papyrossi aus den Beständen der Roten Armee. Dann führen die Gedichte durch eine ganze Gemälde-Galerie hochberühmter Meisterwerke: Da findet man etwa Rubens' Verlobungsbild, das ihn und Isabella Brant in der Geißblattlaube zeigt, Vermeers "Junge Dame mit Perlenhalsband", Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer", gleich mehrere Gemälde von Pierre Bonnard und Paul Klee und andere. Wohin er auch schaut, was immer er sieht - stets geht es ihm auch um die Erkenntnis und Vermittlung von Geschichte. Inbegriff für das Nachdenken über Zeitgebundenheit und Zeitlosigkeit ist hier wie sonst das Meer, dessen Deutungspotential Grünbein in vielen Gedichten wortreich ausschöpft. "Das ist die See, wie sie lebt. Sie feiert / Ende und Anfang einer jeden Geschichte, macht / Aus jeder Moderne eine Antike der Zukunft, / Aus jeder Antike die versunkenste aller Modernen."
WULF SEGEBRECHT
Durs Grünbein: "Koloss im Nebel". Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 230 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Begeistert zeigt sich Joseph Hanimann angesichts der Gedankenschärfe in den Gedichten von Durs Grünbein. Keine Stimmungslyrik nirgends, notiert er, sichtlich erleichtert. Dabei gäben die vielen Gottheiten, die der Dichter zwischen Rom und Athen trifft, Anlass genug. Dass Grünbein lieber von flüchtigen Begegnungen schreibt, ohne Einfühlungschance gleichsam, und lieber mit Brecht und Müller im Gepäck, passt Hanimann gut. Ebenso gefallen dem Rezensenten die vom Autor in diesem Band ausgebreitete Formen- und Gattungsvielfalt, der spielerische gleichwohl virtuose Umgang, wie Hanimann feststellt, mit Reim und Metrik. Elegante Gedichte, findet er, gelungene Symbiose von sinnlicher Erfahrung und Gedankenschärfe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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